Vielleicht lässt sich das Bundesasylzentrum am besten anhand einzelner Geschichten beschreiben.
Linus* arbeitet tagsüber im Zentrum, und nachts träumt er davon. Nach einer seiner Schichten setzt er sich an einen Tisch in einer Gartenbar unweit von seinem Arbeitsort, bestellt ein grosses Bier und erzählt ebensolche Geschichten aus dem Innern.
Von den zwei Jungen, die von Sicherheitskräften am Eingang des Lagers gewaltsam niedergedrückt und mit blutendem Gesicht in den „Besinnungsraum“, einer Art Isolationszelle, gesperrt werden. Laut Sicherheitskraft, weil sie sich aggressiv gezeigt hätten – was im Nachhinein jedoch nicht mehr bewiesen werden könne.
Vom Asylsuchenden, der sich weigert, mit Dutzenden anderen einen Reisecar zu betreten, der ihn ins BAZ Embrach bringen sollte: ein Zentrum ohne Verfahrensfunktion und für viele Asylsuchende der letzte Ort der Schweiz, den sie zu Gesicht bekommen. Er wird schliesslich gewaltsam in den Car gesteckt und abtransportiert.
Oder vom Mann, der im Juli frühmorgens in seinem Mehrbettzimmer dabei entdeckt wird, wie er sich an einem Strick zu erhängen versucht. Er wird rechtzeitig gerettet, für einige Tage in die psychiatrische Klinik verlegt – und bald darauf ausgeschafft. Zuvor hatte er einen negativen Asylentscheid erhalten. Dem Lamm liegt das entsprechende Tagesprotokoll der Asylorganisation Zürich (AOZ) vor. Vermerkt ist der Eintrag unter dem Thema „Umbringen“.
Sie kommen meist nachts: Ohne Vorwarnung gehen die Polizist*innen in die Mehrbettzimmer, reissen diejenigen aus dem Schlaf, die nicht bleiben dürfen, und nehmen sie mit.
Vor rund einem Jahr hat das Bundesasylzentrum (BAZ) auf dem Duttweilerareal seinen Betrieb aufgenommen. Der Start wurde von einem lauten Knall begleitet: Auch dank Recherchen von das Lamm wurde das Regime im neuen BAZ in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und kritisiert. Bald darauf wandte sich das mediale Scheinwerferlicht einem neuen Thema zu, seither ist nicht mehr viel vom Zentrum nach aussen gelangt.
Zeit also, wieder einmal genau hinzusehen. Das Lamm hat mehrere Betreuungsprotokolle gesichtet, vom Staatssekretariat für Migration (SEM) Einblick in die Pflichtenhefte der Betreuungs- und Sicherheitsdienstleister erhalten und mit drei Personen gesprochen, die das Zentrum von innen kennen.
Einer von ihnen ist Linus*, der in Wahrheit anders heisst. So wie auch alle anderen Quellen, mit denen das Lamm gesprochen hat, möchte auch er nicht, dass Angaben zu seiner Person und seiner Funktion veröffentlicht werden – denn eigentlich dürfte er nicht mit Medien darüber sprechen, was er bei seiner Arbeit zu sehen bekommt.
Ein Lager, drei Organisationen
Für die Betreuung und Pflege im BAZ ist die öffentlich-rechtliche AOZ im Eigentum der Stadt Zürich zuständig; die private Sicherheitsfirma Protectas verantwortet die Sicherheit. Als Auftraggeber der beiden Firmen ist das SEM diesen übergeordnet.
Was das für den Alltag im Zentrum bedeutet, erklärt Linus anhand eines Beispiels: Während der Sommerwochen habe es in den Schlafzimmern auch nachts nicht abzukühlen vermögen, denn die Fenster können nur leicht geöffnet werden. Bewohner*innen hätten ihre Matratzen in die kühleren Gänge verlegt und dort geschlafen. Bis das SEM verfügt habe, dass das nicht erlaubt sei. Daraufhin seien die AOZ-Mitarbeitenden angewiesen worden , dafür zu sorgen – notfalls mit Hilfe der Protectas-Sicherheitskräfte –, dass wieder alle in ihren Zimmern schlafen.
Das SEM gibt auf Anfrage an, dass „mit Hilfe der Protectas-Sicherheitskräfte“ körperlichen Nachdruck suggeriere. In Tat und Wahrheit aber bedeute das einzig, „dass die Protectas-Mitarbeiter die Gesuchsteller auffordern, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen“, so die Medienstelle.
„Das SEM ist weit entfernt von der alltäglichen Realität im Camp“, sagt Jonas*, der auch im BAZ arbeitet. Es gebe kaum Austausch mit den Mitarbeitenden der AOZ: „Die meisten Leute vom SEM grüssen nicht einmal, wenn sie uns auf dem Gang begegnen.“
„Viele AOZ-Mitarbeitende sind unzufrieden und frustriert“, sagt er weiter. Die meisten Betreuungspersonen würden eigentlich versuchen, bestmögliche Arbeit zu leisten. Und sähen sich dann mit einem Betrieb konfrontiert, der nicht auf die Betreuung der untergebrachten Personen ausgerichtet sei – sondern auf deren Zermürbung.
Das bestätigt auch Markus*, der seit der Eröffnung im BAZ auf dem Duttweilerareal gearbeitet hat: Die psychische Gewalt, die im Zentrum verübt werde, sei kaum auszuhalten, sagt er. „Die Leute hier sollen zermürbt werden. Fertiggemacht.“
Was läuft bei der AOZ?
Inzwischen hat Markus gekündigt. Und er sei damit nicht allein. Viele Personen seien gegangen, sagt er. „Alle wegen der Strukturen im neuen BAZ.“
Auch der Leiter der Betreuung, dessen Stellvertreterin sowie die Leiterin der Pflegefachpersonen – die hierarchisch höchstgestellten AOZ-Mitarbeitenden im Zentrum – haben seit der Eröffnung des BAZ ihre Position bereits wieder aufgegeben.
Die AOZ hält fest, dass seit Anfang November 2019 insgesamt 13 Mitarbeitende gekündigt haben. Zwei weitere Mitarbeitende haben AOZ-intern eine andere Stelle angetreten. Die AOZ beschäftigt aktuell rund 50 Personen im Zentrum
Thomas Schmutz, Mediensprecher der AOZ, erläutert: „Die Fluktuation bei den von der AOZ angestellten Betreuungspersonen im BAZ Zürich war mit zwei Kündigungen von Festangestellten klar unterdurchschnittlich, bei den Pflegefachpersonen mit vier Kündigungen von Festangestellten hingegen bemerkenswert hoch.“
Gemessen an den insgesamt rund 80 Personen, die im ersten Betriebsjahr für die AOZ im Zentrum gearbeitet hätten, sei dies zwar nicht besonders viel. „Im Bereich Pflege aber doch ein sehr bedauerlicher Verlust“, so Schmutz.
Nur: Viele hätten gar nicht die Möglichkeit, die Stelle zu wechseln. Das sagt zumindest Markus. Die Pflegefachpersonen und Kader-Angestellten hätten neue Stellen gefunden. Viele Betreuer*innen hingegen seien zwar unzufrieden, aber die meisten von ihnen würden über keine hier anerkannte Ausbildung verfügen und nicht einwandfreies Deutsch sprechen. Viele der Angestellten der AOZ haben laut Markus selber Fluchterfahrungen gemacht.
Wie eine Recherche der WOZ gezeigt hat, waren die Betreuungspersonen der AOZ bisher alle in einer Assistenzfunktion angestellt. „Funktionsstufe 4“ auf der städtischen Lohnskala. Je nach Arbeitserfahrung bedeutet das einen Lohn von rund 4’000 Franken netto. Auch Markus sei nur als Assistent angestellt gewesen, sagt er. Jemandem assistiert habe er nie.
„Wenn alle nur die Arbeit machen würden, die in ihrem Stellenbeschrieb festgehalten ist, müsste das BAZ wohl den Betrieb einstellen“, sagt Martina Flühmann. Sie ist Gewerkschaftssekretärin beim Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) und dort für die AOZ zuständig.
Flühmann bestätigt die Einschätzung von Markus, dass viele Angestellte Schwierigkeiten hätten, die Stelle zu wechseln, wenn sie denn wollten. „Gleichzeitig werden ihre Kompetenzen, die den Betrieb aufrechterhalten, etwa ausländische Ausbildungen und Sprachkompetenzen, nicht entsprechend berücksichtigt.“
Die AOZ hat ihre Lohnstrukturen kürzlich angepasst, wie Thomas Schmutz sagt. Nicht nur auf dem Duttweilerareal, sondern in allen BAZ, in denen sie die Betreuung verantwortet. Das neue Modell definiere die Bedingungen für eine höhere Einstufung des Betreuungspersonals: von Funktionsstufe 4 auf Funktionsstufe 5.
Voraussetzung dafür sind eine berufsspezifische Ausbildung oder entsprechende Weiterbildungen. „Die AOZ erachtet die höhere Lohnstufe in diesem Sinn als Zielfunktion für die Betreuer*innen in den Bundesasylzentren“, sagt der AOZ-Sprecher.
Auf den Leistungsvertrag zwischen AOZ und SEM hätte das keine Auswirkungen, wie die Bundesbehörde auf Anfrage bestätigt. Gemäss Vertragsentwurf zwischen Betreuungsfirma und SEM, der dem Lamm auf Anfrage zugestellt wurde, bezahlt das SEM einen vorab vereinbarten Stundenansatz pro geleisteter Betreuungsstunde.
Thomas Schmutz sagt: „Diese Anpassung lässt sich im Rahmen der heutigen Konditionen umsetzen.“
Wo der zusätzlich ausbezahlte Lohn herkommen soll, ist unklar. Aus Reserven? Oder hat die AOZ bisher ein gutes Geschäft mit den vereinbarten Stundenansätzen gemacht?
Und die Protectas?
Während manche Mitarbeitenden der AOZ unzufrieden zu sein scheinen, ist die zweite im BAZ tätige Firma Protectas mangels Arbeitskräften nicht einmal mehr in der Lage, ihren Auftrag zu erfüllen.
Den Auftrag im BAZ hat die Protectas zu Beginn des Jahres von der Sicherheitsfirma Securitas übernommen. Nach nur wenigen Monaten der Abwesenheit ist die Securitas aber in das Lager zurückgekehrt, wie das SEM auf Anfrage bestätigt. Mediensprecher Lukas Rieder sagt dazu Stand Oktober: „Die Securitas-Mitarbeitenden sind nur temporär im Einsatz, um eine zeitweilige Ressourcenknappheit der Protectas aufzufangen.“
Bei den genannten Ressourcen handelt es sich um Mitarbeitende. Gründe für den Mangel gibt das SEM keine an. „Dazu müssten Sie die Protectas befragen“, sagt Rieder. Die Protectas wiederum richtet aus, dass sie nicht befugt sei, „im Rahmen ihrer Mandate Auskunft zu geben“.
Alles gut?
Wie steht es also um das Bundesasylzentrum?
Unzufriedenheit bei den Angestellten in der Betreuung und Pflege und zu wenig Mitarbeitende, um die Sicherheit im BAZ zu gewährleisten: Bei dem vom SEM mandatierten Firmen scheint einiges quer.
Trotzdem: Auf die Frage, wie das SEM den Betrieb beurteile, heisst es: Er laufe entsprechend seinen Vorgaben und Richtlinien. Bei den Mitarbeitenden des SEM, die im BAZ im Einsatz sind, sei keine überdurchschnittliche Fluktuation feststellbar. Alles nach Plan also.
Und es stimmt ja auch: Ein Jahr nach Eröffnung des BAZ in Zürich und gut eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten des revidierten Asylgesetzes gibt es kaum mehr öffentliche Kritik. Das effizienteste Asylverwaltungssystem der Schweizer Geschichte erfüllt seine Aufgabe. In Zürich – und vermutlich auch in allen anderen 16 Lagern der Schweiz.
Markus wird wütend, wenn er über das SEM spricht. Für ihn ist klar, worum es hier geht. „Das hier ist reine Anti-Asyl-Propaganda“, sagt er. Ziel sei es, dass die Umstände im BAZ die Runde machten und damit weniger Leute in der Schweiz ein Asylgesuch stellen wollen, ist er überzeugt.
Auch Linus spricht von der „grossen Abschreckungsindustrie des SEM“. Man halte es im Zentrum kaum aus. Und er erzählt eine Geschichte:
Vom Kind, das nach seiner Ankunft fröhlich gewesen sei und viel gespielt habe – auch mit ihm. Und das jetzt wenige Monate später nur noch in einer Ecke sitze und depressiv sei. „Ich wäre auch gebrochen, wenn ich einige Monate im BAZ leben müsste.“
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