Entwür­di­gung statt Würdigung

Die Doku über den deut­schen Rapper Haft­be­fehl von Sinan Sevinç und Juan Moreno versprach, den Rapstar scho­nungslos zu zeigen. Das ist ihr gelungen. Aber anstatt den heraus­ra­genden Musiker als solchen zu ehren, ergötzt sie sich an seinem Leid. 
Anstatt den Fokus auf die prägende Musik des Rapstars zu legen, konzentriert sich die Dokumentation auf Haftbefehls Zerfall. (Bild: Screenshot b.v.L.M.)

Ein schwarzer, leerer Sessel steht vor einem schwarzen Hinter­grund. Haft­be­fehl betritt den Raum, er hat deut­lich zuge­nommen. Als er sich hinsetzt und eine Ziga­rette anzündet, blicken wir in sein stark verän­dertes Gesicht und hören seine schweren Atem­züge. Ab Sekunde eins des neun­zig­mi­nü­tigen Doku­men­tar­filmes steht Schock auf dem Programm. Es ist glas­klar: Hier sehen wir nicht die Story eines Musi­kers, sondern die eines Drogensüchtigen.

Nach nur zwölf Minuten ist der Film bereits bei seinem musi­ka­li­schen Durch­bruch mit dem Song «Chabos wissen wer der Babo ist» ange­langt. Wie hat Aykut Anhan, wie Haft­be­fehl bürger­lich heisst, zur Musik gefunden? Wie hat er zu schreiben begonnen? Fragen, die die Filme­ma­cher nur wenig inter­es­sieren. Schnell und lieblos wird eine Szene aus dem Jugend­treff einge­blendet, in der wir Haft­be­fehl an einem Mikro rappen sehen. Ein Sozi­al­ar­beiter aus dieser Zeit kriegt auch ein paar Sekunden Sende­zeit. Und dann war es das auch schon von den musi­ka­li­schen Anfängen des Mega­stars. Das Ganze wirkt von Anfang an wie eine Alibi-Übung, in der es um alles andere als seine Musik geht, die Millionen Menschen geprägt hat.

Über eine Stunde handelt der Film von Haft­be­fehls schlimm­sten Drogen­ex­zesse und Szenen, die man schon von Social Media kennt. Nicht mal in den Aufnahmen seiner Live-Aufritte wird seine Live-Musik einge­spielt. Die schnellen Zusam­men­schnitte seiner Shows wirken wie Film­trailer, die den Mythos eines Rock­stars herauf­be­schwören, obschon die gesamte PR-Kampagne um den Film vorgibt «scho­nungslos ehrlich» zu sein und den Menschen hinter der Marke Haft­be­fehl zu zeigen. Scho­nungslos? Ja. Ehrlich? Fehlanzeige.

Dieser Film reiht sich in ein grös­seres Schema ein, das über Haft­be­fehl hinaus geht: Das Nicht-Ernst­nehmen von Stras­senrap als Kunstform.

Beson­ders makaber werden die Erleb­nisse rund um seinen Vater darge­stellt. Wer Haft­be­fehl hört, kennt die Geschichte des tragi­schen Verlu­stes seines Vaters bereits: Das Schick­sals­jahr 1999 bildet einen roten Faden durch sein gesamtes musi­ka­li­sches Werk von fünf­zehn Jahren. Im Film erzählt er noch­mals von diesen trau­ma­ti­schen Erleb­nissen, doch das scheint den Filme­ma­chern nicht zu genügen. Zusätz­lich werden die schreck­lich­sten Szenen mit Schauspieler*innen nach­ge­stellt und inszeniert.

Muss ich sehen, wie ein Vater versucht, sich umzu­bringen, um mit dem Leid eines Sohnes mitzu­fühlen? Nein. Dafür sollte die eigene Vorstel­lungs­kraft genügen. Sie ist die Basis sowohl für Empa­thie als auch für Kunst. Man kommt nicht drum herum, eine Sensa­ti­ons­lust in der Machart des Filmes zu sehen. Und somit arbeiten die Filme­ma­cher entgegen dem, wofür Haft­be­fehls Musik steht: Eine ernst­ge­meinte Ausein­an­der­set­zung mit mensch­li­chem Leid. 

Dass das Ausschlachten von Trau­mata für die Sensa­ti­ons­lust der Zuschauer*innen abge­feiert wird, ist beson­ders verstö­rend. Das Adjektiv, das man über die Doku­men­ta­tion von begei­sterten Zuschauer*innen am meisten hört, ist «krass». Doch «krass» allein kann kein Quali­täts­merkmal sein. Leute konse­quent zu erschüt­tern, ist eine erfolg­reiche Stra­tegie von Netflix. So schlägt der Konzern seit Jahren Profit aus der Verküm­me­rung unserer mensch­li­chen Emoti­ons­fä­hig­keit. Mitt­ler­weise ist es ganz normal, dass wir uns Netflix-Serien anschauen, in denen unge­fil­tert Verge­wal­ti­gungs­szenen gezeigt werden.

Etwas nicht auszu­halten, weil es zu brutal ist, der Reflex vom Bild­schirm wegzu­schauen, macht uns zu Menschen, die leiden, wenn andere leiden. Der Voyeu­rismus hingegen, der auch in uns sitzt, findet es geil, anderen beim Leiden zuzu­sehen. Bei der Haft­be­fehl-Doku wird unser voyeu­ri­sti­sche Anteil von der ersten Minute an geweckt – und er will mehr, mehr, mehr. Wir meinen, dass wir als «gesunde» Menschen auf einen «kranken» Menschen blicken, dabei sind wir es, die eupho­ri­siert und stimu­liert in unseren warmen Wohn­zim­mern neunzig Minuten lang einem mensch­li­chen Zerfall zuschauen, ohne uns dabei nur einmal zu fragen: Darf man das? 

Wer ist hier süchtig? Ist es Haft­be­fehl oder sind es wir?

Dieser Film reiht sich in ein grös­seres Schema ein, das über Haft­be­fehl hinaus geht: Das Nicht-Ernst­nehmen von Stras­senrap als Kunst­form. Die Künstler*innen aus der Unter­schicht sind gut genug, um mit ihrem Zerfall, ihrer Krimi­na­lität und Drogen­sucht Unter­hal­tung zu bieten, aber nicht gut genug, um deren harten, lyri­schen Texte an Gymna­sien und Deutsch­se­mi­naren zu disku­tieren. Die Künstler*innen aus der Unter­schicht sind gut genug, um für exoti­sie­rende und schockie­rende Dokus herzu­halten, aber nicht gut genug, um sich mit ihrer Kunst zu befassen. Egal, wie viele Menschen sie damit geprägt haben, selbst wenn sie wie Haft­be­fehl die Sprache inhalt­lich wie formell neu erfinden.

Haft­be­fehl rappt nicht, um zu schockieren, sondern um unge­fil­tert Zeugnis abzulegen.

Haft­be­fehls musi­ka­li­sches Gesamt­werk hat Deutschrap für immer verän­dert. 2020 kam «Das weisse Album», ein Jahr später folgte «Das schwarze Album». In einem Inter­view dazu sagte er: «Alle haben eigene Dämonen, die sie zu bekämpfen haben und ich glaube, darüber rappe ich halt in meinen Songs.» Das Schwarze wie das Weisse der mensch­li­chen Existenz bilden seit bald zwanzig Jahren den Kern seines künst­le­ri­schen Schaf­fens. Haft­be­fehls Musik ist «krass» und ja, sie schockiert. 

Wenn uns Haft­be­fehl ins Ohr schreit, ist es nicht ange­nehm, doch er muss gehört werden. Seine Zeilen orien­tieren sich oft näher am Tod als am Leben. Sie konfron­tieren uns scho­nungslos und ehrlich mit der häss­li­chen Realität der Ungleich­heit und ja, Drogen­handel und Drogen­sucht sind ein zentraler Bestand­teil seiner Lyrics. Der Unter­schied seines Raps zur Darstel­lung in dem Film besteht darin, dass der Schock seiner Musik etwas hinter­lässt. Haft­be­fehl rappt nicht, um zu schockieren, sondern um unge­fil­tert Zeugnis abzu­legen. Wer einmal in seine Geschichten eintaucht, bleibt verän­dert zurück. Seine Musik ist intel­lek­tu­elle Arbeit, die Netflix-Doku hingegen Billigware.

Die Produzent*innen und Filme­ma­cher haben die einzig­ar­tige Chance verpasst, das Werk eines unver­kenn­baren Künst­lers unserer Gene­ra­tion zu würdigen. Der Künstler und seine Musik sind schon immer düster gewesen und ein ehrli­cher Film über Haft­be­fehl musste auch düster werden. Aber düster bedeutet nicht ober­fläch­lich. Diese ober­fläch­liche und voyeu­ri­sti­sche Erzäh­lung einer Drogen­ge­schichte hat vor allem eines getan: den Künstler, den so viele lieben und verehren, weil er für dieje­nigen spricht, die nicht gehört werden, zu entwür­digen statt zu würdigen.


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