Ein schwarzer, leerer Sessel steht vor einem schwarzen Hintergrund. Haftbefehl betritt den Raum, er hat deutlich zugenommen. Als er sich hinsetzt und eine Zigarette anzündet, blicken wir in sein stark verändertes Gesicht und hören seine schweren Atemzüge. Ab Sekunde eins des neunzigminütigen Dokumentarfilmes steht Schock auf dem Programm. Es ist glasklar: Hier sehen wir nicht die Story eines Musikers, sondern die eines Drogensüchtigen.
Nach nur zwölf Minuten ist der Film bereits bei seinem musikalischen Durchbruch mit dem Song «Chabos wissen wer der Babo ist» angelangt. Wie hat Aykut Anhan, wie Haftbefehl bürgerlich heisst, zur Musik gefunden? Wie hat er zu schreiben begonnen? Fragen, die die Filmemacher nur wenig interessieren. Schnell und lieblos wird eine Szene aus dem Jugendtreff eingeblendet, in der wir Haftbefehl an einem Mikro rappen sehen. Ein Sozialarbeiter aus dieser Zeit kriegt auch ein paar Sekunden Sendezeit. Und dann war es das auch schon von den musikalischen Anfängen des Megastars. Das Ganze wirkt von Anfang an wie eine Alibi-Übung, in der es um alles andere als seine Musik geht, die Millionen Menschen geprägt hat.
Über eine Stunde handelt der Film von Haftbefehls schlimmsten Drogenexzesse und Szenen, die man schon von Social Media kennt. Nicht mal in den Aufnahmen seiner Live-Aufritte wird seine Live-Musik eingespielt. Die schnellen Zusammenschnitte seiner Shows wirken wie Filmtrailer, die den Mythos eines Rockstars heraufbeschwören, obschon die gesamte PR-Kampagne um den Film vorgibt «schonungslos ehrlich» zu sein und den Menschen hinter der Marke Haftbefehl zu zeigen. Schonungslos? Ja. Ehrlich? Fehlanzeige.
Dieser Film reiht sich in ein grösseres Schema ein, das über Haftbefehl hinaus geht: Das Nicht-Ernstnehmen von Strassenrap als Kunstform.
Besonders makaber werden die Erlebnisse rund um seinen Vater dargestellt. Wer Haftbefehl hört, kennt die Geschichte des tragischen Verlustes seines Vaters bereits: Das Schicksalsjahr 1999 bildet einen roten Faden durch sein gesamtes musikalisches Werk von fünfzehn Jahren. Im Film erzählt er nochmals von diesen traumatischen Erlebnissen, doch das scheint den Filmemachern nicht zu genügen. Zusätzlich werden die schrecklichsten Szenen mit Schauspieler*innen nachgestellt und inszeniert.
Muss ich sehen, wie ein Vater versucht, sich umzubringen, um mit dem Leid eines Sohnes mitzufühlen? Nein. Dafür sollte die eigene Vorstellungskraft genügen. Sie ist die Basis sowohl für Empathie als auch für Kunst. Man kommt nicht drum herum, eine Sensationslust in der Machart des Filmes zu sehen. Und somit arbeiten die Filmemacher entgegen dem, wofür Haftbefehls Musik steht: Eine ernstgemeinte Auseinandersetzung mit menschlichem Leid.
Dass das Ausschlachten von Traumata für die Sensationslust der Zuschauer*innen abgefeiert wird, ist besonders verstörend. Das Adjektiv, das man über die Dokumentation von begeisterten Zuschauer*innen am meisten hört, ist «krass». Doch «krass» allein kann kein Qualitätsmerkmal sein. Leute konsequent zu erschüttern, ist eine erfolgreiche Strategie von Netflix. So schlägt der Konzern seit Jahren Profit aus der Verkümmerung unserer menschlichen Emotionsfähigkeit. Mittlerweise ist es ganz normal, dass wir uns Netflix-Serien anschauen, in denen ungefiltert Vergewaltigungsszenen gezeigt werden.
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Etwas nicht auszuhalten, weil es zu brutal ist, der Reflex vom Bildschirm wegzuschauen, macht uns zu Menschen, die leiden, wenn andere leiden. Der Voyeurismus hingegen, der auch in uns sitzt, findet es geil, anderen beim Leiden zuzusehen. Bei der Haftbefehl-Doku wird unser voyeuristische Anteil von der ersten Minute an geweckt – und er will mehr, mehr, mehr. Wir meinen, dass wir als «gesunde» Menschen auf einen «kranken» Menschen blicken, dabei sind wir es, die euphorisiert und stimuliert in unseren warmen Wohnzimmern neunzig Minuten lang einem menschlichen Zerfall zuschauen, ohne uns dabei nur einmal zu fragen: Darf man das?
Wer ist hier süchtig? Ist es Haftbefehl oder sind es wir?
Dieser Film reiht sich in ein grösseres Schema ein, das über Haftbefehl hinaus geht: Das Nicht-Ernstnehmen von Strassenrap als Kunstform. Die Künstler*innen aus der Unterschicht sind gut genug, um mit ihrem Zerfall, ihrer Kriminalität und Drogensucht Unterhaltung zu bieten, aber nicht gut genug, um deren harten, lyrischen Texte an Gymnasien und Deutschseminaren zu diskutieren. Die Künstler*innen aus der Unterschicht sind gut genug, um für exotisierende und schockierende Dokus herzuhalten, aber nicht gut genug, um sich mit ihrer Kunst zu befassen. Egal, wie viele Menschen sie damit geprägt haben, selbst wenn sie wie Haftbefehl die Sprache inhaltlich wie formell neu erfinden.
Haftbefehl rappt nicht, um zu schockieren, sondern um ungefiltert Zeugnis abzulegen.
Haftbefehls musikalisches Gesamtwerk hat Deutschrap für immer verändert. 2020 kam «Das weisse Album», ein Jahr später folgte «Das schwarze Album». In einem Interview dazu sagte er: «Alle haben eigene Dämonen, die sie zu bekämpfen haben und ich glaube, darüber rappe ich halt in meinen Songs.» Das Schwarze wie das Weisse der menschlichen Existenz bilden seit bald zwanzig Jahren den Kern seines künstlerischen Schaffens. Haftbefehls Musik ist «krass» und ja, sie schockiert.
Wenn uns Haftbefehl ins Ohr schreit, ist es nicht angenehm, doch er muss gehört werden. Seine Zeilen orientieren sich oft näher am Tod als am Leben. Sie konfrontieren uns schonungslos und ehrlich mit der hässlichen Realität der Ungleichheit und ja, Drogenhandel und Drogensucht sind ein zentraler Bestandteil seiner Lyrics. Der Unterschied seines Raps zur Darstellung in dem Film besteht darin, dass der Schock seiner Musik etwas hinterlässt. Haftbefehl rappt nicht, um zu schockieren, sondern um ungefiltert Zeugnis abzulegen. Wer einmal in seine Geschichten eintaucht, bleibt verändert zurück. Seine Musik ist intellektuelle Arbeit, die Netflix-Doku hingegen Billigware.
Die Produzent*innen und Filmemacher haben die einzigartige Chance verpasst, das Werk eines unverkennbaren Künstlers unserer Generation zu würdigen. Der Künstler und seine Musik sind schon immer düster gewesen und ein ehrlicher Film über Haftbefehl musste auch düster werden. Aber düster bedeutet nicht oberflächlich. Diese oberflächliche und voyeuristische Erzählung einer Drogengeschichte hat vor allem eines getan: den Künstler, den so viele lieben und verehren, weil er für diejenigen spricht, die nicht gehört werden, zu entwürdigen statt zu würdigen.
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