Ein Eurobus fährt an. An seiner Hinterseite ist eine Werbung für den Europapark angebracht. Wir befinden uns auf dem Duttweilerareal in Zürich, wo an diesem Donnerstag, dem 31. Oktober, das neue Bundesasylzentrum (BAZ) in Betrieb genommen wird. Am gegenüberliegenden Toni-Areal hängt ein Transparent mit der BildAufschrift „Refugees Welcome“ in mehreren Sprachen, und vor dem Eingang zum neuen Zentrum hat sich eine kleine Menschengruppe formiert. Sie ist hier, um ihre Solidarität kundzutun – mit den Kindern, Jugendlichen und wohl ihren Eltern, als diese den ersten Eurobus des Tages verlassen. Einige von ihnen winken der solidarischen Gruppe zu, diese verteilt Flyer. Dann verschwinden die Ankommenden hinter der Glastüre des BAZ.
Was hinter dieser Türe seither passiert ist, kann nur rekonstruiert werden. Wir wagen einen Versuch. Das Lamm hat mit vier Quellen gesprochen, welche die Geschehnisse miterlebt haben.
„Prison! Prison!“
Auf die äusserste Glastüre des BAZ folgt eine Schleuse mit vier weiteren Türen. Drei davon lassen sich nur mit einem Batch öffnen, eine gar nur durch die Angestellten der privaten Securitas AG. Der Eingang und der Ausgang sind separat. Nach dem Durchlaufen der Eingangsschleuse hätten einige Kinder sofort „Prison! Prison!“ gerufen, sagt uns eine Quelle. Danach sei das Gepäck aller Neuankommenden beim Eintritt gefilzt worden, was bis abends um 19 Uhr gedauert habe. Das BAZ hat den Betrieb aufgenommen.
Als am folgenden Tag eine Infoveranstaltung durchgeführt wurde, sei die Stimmung bereits aufgeheizt gewesen. Das Zentrum sei von mehreren Personen erneut mit einem Gefängnis verglichen worden, wird uns gesagt.
Ein Vergleich, der sitzt. Es gibt keinen Ausweg aus dem BAZ ausser durch die Ausgangsschleuse mit ihren zahlreichen massiven Türen, die vorbei am Securitas-Schalter führt. Die Fenster lassen sich nur wenig am oberen Rand öffnen. Der Zaun, der das Dach umgibt und gegen aussen als Fassade getarnt ist, ist unüberwindbar. Das Gelände kann ausschliesslich dann verlassen werden, wenn ein*e Securitas-Mitarbeiter*in den Ausgang freigibt. „Die baulichen Massnahmen sind modern und makellos“, wird uns gesagt. „Das Gebäude ist hermetisch abgeriegelt.“
Hinzu kommen die Regeln, die das Staatssekretariat für Migration (SEM) durchsetzt. Bei jedem Eintritt erfolgen Ganzkörperkontrollen, und wenn dabei verbotene Gegenstände entdeckt werden, werden sie eingezogen. Zu den verbotenen Gegenständen gehören etwa verderbliche Esswaren und Schminkutensilien. Wer einen neuen, erlaubten Gegenstand mit ins BAZ nimmt, muss eine Quittung vorweisen, um zu beweisen, dass er nicht gestohlen wurde.
Wer ein Frühstück braucht, muss spätestens um kurz vor 8 Uhr aufstehen. Denn: „Wer um fünf nach acht zum Frühstück erscheint, also fünf Minuten zu spät, erhält kein Essen mehr“, wie uns gesagt wird. Auch die Schlafenszeit wird vorgegeben: Nach 22 Uhr wird Ruhe erwartet. Securitas-Mitarbeiter*innen schrecken nicht davor zurück, auch mitten in der Nacht mit ihrer Taschenlampe in die Zimmer zu stürmen – um die Nachtruhe durchzusetzen. Das sei schon mehrmals vorgekommen, berichten alle Personen, mit denen das Lamm gesprochen hat, übereinstimmend. Bereits jetzt, nach gerade einmal zwei Wochen, habe eine Person ins Spital eingeliefert werden müssen, weil der überraschende und ruchlose Einfall der Securitas bei ihr einen epileptischen Schock ausgelöst habe, sagt eine unserer Quellen.
Während die Securitas-Angestellten auch mitten in der Nacht in die Zimmer einfallen können, bleibt Personen, die wochentags nach 20 Uhr und am Wochenende nach 22 Uhr zurückkehren, der Eintritt ins BAZ verwehrt. Bereits am ersten Wochenende hätten mehrere Personen auf einer Matratze im Eingangsbereich schlafen müssen, weil sie nicht mehr ins Innere des Zentrums gelassen worden seien. „Die Bedingungen sind unmenschlich“, sagt eine Bewohnerin.
Wut trifft auf Ignoranz
Letzten Mittwoch habe sich die Wut auf das neue BAZ entladen, berichten alle Quellen übereinstimmend: „Dann haben wir protestiert“, berichtet eine Bewohnerin. Angesagt war eine Führung für Mitarbeiter*innen des SEM, das für den Betrieb verantwortlich ist. „Zu Ausbildungszwecken“, wie uns das SEM auf Anfrage mitteilt. Als sich die Delegation ins Innere des Zentrums begeben habe, hätten sich etwa dreissig Bewohner*innen an sie gewandt, Lärm gemacht und ihnen zugerufen, das sei ein „Nazi-Camp“, die Securitas sei schlimm – und sogar „help me“.
Die Mitarbeiter*innen hätten sie ignoriert, und die Führung sei trotzdem fortgesetzt worden. Aber sie sei immer wieder von den Aufgebrachten gestört worden. Einmal habe sogar die Securitas eingreifen müssen. Als ein Teil der SEM-Vertreter*innen das BAZ verlassen wollte, habe sich ihnen eine Gruppe in den Weg gestellt und sie erneut konfrontiert. Die SEM-Mitarbeiter*innen seien statt durch den Eingang durch den Ausgang davongeeilt. „Sie hatten Angst“, sagt man uns.
Was sagt das SEM? Und kann man ihm glauben?
Das SEM bestätigt gegenüber das Lamm, dass beim Besuch seiner Delegation „einige Asylsuchende aufgebracht waren und das Gespräch mit den SEM-Mitarbeiter*innen suchten“. Sie seien sodann über die Möglichkeit eines Gesprächs mit der Zentrumsleitung am Nachmittag des gleichen Tags informiert worden. „Die Besichtigung konnte danach normal weitergeführt werden.“
Tatsächlich bestätigen auch die Personen, mit denen das Lamm gesprochen hat, dass am Nachmittag die Möglichkeit bestand, mit dem SEM in Kontakt zu treten. Einige wenige Änderungen habe es aufgrund des Protests schon gegeben: So würden seither Termine von Einzelpersonen, etwa mit der Securitas, meistens nicht mehr über die Lautsprecher – für alle hörbar – angekündigt. Meistens: Manchmal komme das immer noch vor, wird uns gesagt.
Ansonsten habe die Anhörung durch das SEM wenig gebracht. „Die unmenschlichen Bedingungen werden auch weiterhin bestehen“, ist sich die Bewohnerin sicher. Für die AL-Gemeinderätin Ezgi Akyol ist das ein Skandal: „Die Bedingungen im BAZ sind viel härter, als das SEM angekündigt hatte, als im Gemeinderat der Bau des Zentrums diskutiert wurde.“ Und auch im darauffolgenden Abstimmungskampf seien die Leute falsch informiert worden. Akyol: „Über ein derart repressives Zentrum wurde in Zürich gar nie abgestimmt.“
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