Die Schweiz: Land der Lager

Wahlen 2019: In Kürze wird in Zürich das neue Bundes­asyl­zen­trum auf dem Dutt­weiler-Areal eröffnet. Es steht sinn­bild­lich für das neue, von der SP wesent­lich mitge­prägte Asyl­re­gime, das seit März in Kraft ist. Hinter einer glit­zernden Fassade verbirgt sich: ein Lager. Eine Wutschrift. 
Das neue Bundesasylzentrum auf dem Duttweilerareal. (Foto: Stadt Zürich)

Die Wahlen stehen kurz bevor, und überall lächeln Politiker*innen an Plakat­wänden und geputzten Fassaden ihr vertrau­en­er­weckend­stes Lächeln. Ausserdem: kernige Slogans. Lang­weilig, aber gut. Wir halten die Schweiz zusammen. Die Schweiz will. Gemeinsam weiterkommen.

Aber wohin?

Stachel­draht umgibt das Asyl­zen­trum auf dem Glau­ben­berg­pass im Kanton Obwalden. Man fragt sich, wozu? Das ehema­lige Trup­pen­lager liegt mitten in der male­ri­schen Inner­schweizer Berg­land­schaft. Hier kommt niemand zufällig vorbei, hier fühlt sich keine Nach­bar­schaft gestört oder gar bedroht. Hier gibt es keine Nachbarschaft.

Die Anlage ist schon seit 2015 als Asyl­un­ter­kunft in Betrieb. Früher als Durch­gangs­zen­trum, seit der Einfüh­rung des neuen Asyl­ge­setzes im März 2019 als soge­nanntes Bundes­asyl­zen­trum (BAZ). Nur temporär frei­lich: Stand heute soll das Zentrum noch bis 2022 diese Funk­tion erfüllen, bis ein neuer Standort gefunden wird.

Das BAZ Glau­ben­berg ist eines von 19 Zentren, die im Rahmen des neuen Asyl­ge­setzes als solche in Betrieb genommen wurden. Überall in der Schweiz schiessen neue Anlagen aus dem Boden, und bestehende Einrich­tungen werden umge­baut. Etwa in Zürich, wo die Eröff­nung des neuen BAZ auf dem Dutt­weiler-Areal kurz bevor­steht, oder in Basel, wo das Asyl­zen­trum direkt neben dem Ausschaf­fungs­ge­fängnis Bäss­lergut und in unmit­tel­barer Nähe zur Landes­grenze liegt.

Das Projekt ist gewaltig, das neue Netz von Asyl­zen­tren penibel geplant und effi­zient umge­setzt. Für die Planung verant­wort­lich zeich­nete SP-Bundes­rätin Simo­netta Somma­ruga. Ihre Partei unter­stützte das neue Asyl­ge­setz im Abstim­mungs­kampf ebenso wie die Grünen und alle anderen grossen Parteien, mit Ausnahme der SVP. Linke Oppo­si­tion gab es prak­tisch nur vonseiten der Klein­par­teien AL und BastA! Die Vorlage wurde als Kompro­miss mit linkem Einschlag verkauft und bei der Volks­ab­stim­mung 2015 mit deut­li­cher Mehr­heit angenommen.

Die Unter­brin­gung Geflüch­teter in den Bundes­asyl­zen­tren bildet den Kern des neuen Asyl­ge­setzes. Zu unter­scheiden sind drei verschie­dene Arten von Zentren. Zum einen dieje­nigen „mit Verfah­rens­funk­tion“, in denen alle Personen, die ein Asyl­ge­such stellen, zunächst unter­ge­bracht werden. Zum anderen dieje­nigen „ohne Verfah­rens­funk­tion“, die bezeich­nen­der­weise den mit Abstand grössten Teil der Zentren stellen. Das sind die Zentren mit „Warte- und Ausreisefunktion“.

Hinzu kommen schliess­lich die „beson­deren Zentren“, die als Straf­mass­nahme für wider­stän­di­sche Asyl­su­chende dienen sollen. Das einzige solche Zentrum, das bis jetzt eröffnet wurde, ist wegen Unter­be­le­gung aber bereits wieder still­ge­legt. Zu wenige Personen im Asyl­ver­fahren haben sich als reni­tent erwiesen.

Rigides Regime mit klarem Ziel

Das über­rascht wenig. Die persön­li­chen Frei­heiten sind in allen Bundes­asyl­zen­tren so eng beschnitten, dass reni­tentes Verhalten bereits im Keim erstickt wird. Die Zimmer der geflüch­teten Personen dürfen jeder­zeit durch­sucht werden; Privat­sphäre gibt es nicht. In fast allen Bundes­asyl­zen­tren gibt es soge­nannte „Besin­nungs­räume“, in denen Personen, die sich störend verhalten, bis zu zwei Stunden einge­schlossen werden können, bis die Polizei eintrifft. Gemäss einer Unter­su­chung der Natio­nalen Kommis­sion zur Verhü­tung von Folter geschieht dies ohne hinrei­chende gesetz­liche Grundlage.

Auch die persön­liche Unver­sehrt­heit wird verletzt. Etwa im BAZ Embrach, wo wie vieler­orts das Mitführen von verderb­li­chem Essen verboten ist – was mit Hilfe von Ganz­kör­per­kon­trollen beim Betreten der Anlage durch­ge­setzt wird. Es gibt drei Mahl­zeiten am Tag, Abend­essen um 18:00 Uhr, und wer danach noch Hunger hat, hat Pech. Denn wie in allen Bundes­zen­tren ist das Verlassen der Anlage am Abend nicht mehr erlaubt. Üblich sind Öffnungs­zeiten von 09:00 Uhr bis 17:00 Uhr. Danach hindern private Securitas-Mitarbeiter*innen und Stachel­draht die Personen daran, das Gelände zu verlassen. Die hier unter­ge­brachten Personen leben in Halbgefangenschaft.

Das Ausmass der in den Bundes­asyl­zen­tren betrie­benen Repres­sion macht deut­lich, worauf das neue Asyl­re­gime ausge­richtet ist: darauf, Landes­ver­weise möglichst effi­zient zu voll­strecken. Leibes­vi­si­ta­tionen und Halb­ge­fan­gen­schaft sind dazu da, möglichst gute Voraus­set­zungen für kompli­ka­ti­ons­freie Ausschaf­fungen zu schaffen, und allen­falls, um Wegge­wie­sene zu zermürben, bis sie ‚frei­willig‘ ausreisen.

Keine Chance, keine Hoffnung

Während des abge­kürzten Verfah­rens muss sich eine Person, die ein Asyl­ge­such gestellt hat, im Bundes­asyl­zen­trum mit Verfah­rens­funk­tion aufhalten. Sie hat kaum Möglich­keiten, mit der Gesell­schaft ausser­halb des Zentrums in Kontakt zu treten; sie befindet sich gewis­ser­massen immer noch ausser­halb des Landes. In den meisten Fällen wird es niemand merken, wenn ihr Gesuch abge­lehnt wird. Dann wird sie in ein Zentrum ohne Verfah­rens­funk­tion, etwa nach Embrach, verlegt. Hier gibt es keine Hoff­nung mehr. Nur das Warten auf die Ausschaf­fung, die Verhand­lung über die Ausreise oder das Untertauchen.

Beson­ders aussichtslos ist die Situa­tion unter dem neuen Regime für soge­nannte Dublin-Fälle. Also Personen, die vor der Einreise in die Schweiz schon in einem anderen EU-Land regi­striert wurden. Die Vorab­klä­rungen dauern bei Dublin-Fällen gerade einmal 10 Tage. So schnell wie möglich folgt auf das Asyl­ge­such die Abschie­bung in ein BAZ ohne Verfah­rens­funk­tion – und darauf ins EU-Land, das gemäss Dublin-Abkommen für die Person zuständig ist. 3700 Dublin-Fälle wurden 2019 schon behan­delt. Die meisten Ausschaf­fungen werden nach Italien durch­ge­führt, wo eine proto­fa­schi­sti­sche Partei damit Wahl­kampf macht, dass Italien vom Rest Europas im Stich gelassen werde. Und damit Recht hat.

Der Landweg ist seit der Abschaf­fung des Botschafts­asyls für die aller­mei­sten Personen der einzige Weg hierher zu gelangen, um ein Asyl­ge­such zu stellen. Der Weg führt also zwangs­läufig durch ein anderes EU-Land, womit die Flüch­tenden auch zwangs­läufig zu Dublin-Fällen werden. Wem es nicht gelingt, sich illegal durch die Staaten mit EU-Aussen­grenze zu schlei­chen, wird die Schweiz nie anders zu sehen bekommen – als durch Stacheldraht.

Mit der Isola­tion der Geflüch­teten in Bundes­asyl­zen­tren während des Verfah­rens wurden ‚die Fehler‘ der vorher­ge­henden Asyl­po­litik korri­giert. Früher hatten Personen, die ein Asyl­ge­such gestellt haben, minde­stens während der Dauer ihres Asyl­ver­fah­rens die Möglich­keit, sich in der Gesell­schaft mehr oder weniger frei zu bewegen. Je nach Kanton, dem sie zuge­teilt wurden. Viele vernetzten sich. Und je länger die Verfahren dauerten, desto schwie­riger wurde es, einen allfäl­ligen Landes­ver­weis zu voll­ziehen. Freund­schaften, Kontakte zu enga­gierten Anwält*innen und Aktivist*innen oder auch Heiraten: Persön­liche Bezie­hungen wurden als Sand im Getriebe der Asyl­ma­schi­nerie erkannt  und weit­ge­hend verunmöglicht.

Das ganze Leben der Asyl­ge­such­stel­lenden soll sich statt­dessen nur noch inner­halb des Zentrums abspielen. Dort, wo gegen aussen vertre­tene rechts­staat­liche Prin­zi­pien ihre Gültig­keit verlieren. Etwa das Recht auf Rechte. Zwar wird Personen im Asyl­ver­fahren seit Neustem eine kosten­lose Rechts­ver­tre­tung zur Seite gestellt. Aber das System weist massive Mängel auf, wie die Demo­kra­ti­schen Jurist_innen (DJS) in mehreren Stel­lung­nahmen festhielten.

Die Rechts­ver­tre­tung wird pauschal vergütet, sodass sie ein finan­zi­elles Inter­esse an der möglichst schnellen Erle­di­gung jedes Mandats hat. Wenn sie einen Rekurs für aussichtslos erachtet, ist sie vom SEM ange­halten, ihr Mandat nieder­zu­legen. Und wenn sie das tut, bleibt der gesuch­stel­lenden Person eine Rekurs­frist von gerade einmal sieben Tagen – um eine*n neue*n Anwält*in zu finden und Rekurs einzu­legen. Während sie vorher daran gehin­dert wurde, mit der lokalen Zivil­ge­sell­schaft in Kontakt zu treten. Es handle sich um ein Regime, sagen die DJS, „das die um Asyl ersu­chenden Menschen inter­niert und deren Rechte abbaut“.

Glit­zer­fas­saden stein­harter Bürgerlichkeit

Am Beispiel der Rechts­ver­tre­tung wird sichtbar, wie das neue Asyl­ge­setz funk­tio­niert. Was zunächst gut aussieht, offen­bart sich bei genauerem Hinsehen als gnaden­loses Regime zur Verhin­de­rung des Aufent­halts von Personen, deren Blei­be­recht aberkannt wird. Auch die Fassade des neuen BAZ Zürich auf dem Dutt­weiler-Areal glänzt. Aber dahinter verbirgt sich ein Lager.

Euphe­mismen wie „Besin­nungs­raum“ oder „Zentrum mit Warte­funk­tion“ sollen nicht darüber hinweg­täu­schen können, wie das Schweizer Asyl­wesen funk­tio­niert. Ein BAZ ist ein Raum, in dem Personen, die sich nichts zu Schulden haben kommen lassen, in Halb­ge­fan­gen­schaft leben, vom Rest der Gesell­schaft isoliert werden, sich nicht hinrei­chend gut gegen die an ihnen verübte Staats­ge­walt wehren können – und Sonder­ge­setzen unter­stellt werden.

Gemeinsam bilden die Bundes­lager verschie­dener Funk­tionen ein engma­schiges Netz zur möglichst effi­zi­enten Verwal­tung derje­nigen Personen, die darin fest­ge­halten sind. Um sie daran zu hindern, Teil einer Gesell­schaft zu werden, in der sie nicht erwünscht sind. Auch die Demo­kra­ti­schen Jurist_innen schreiben in einer ihrer Stel­lung­nahmen im Zusam­men­hang mit dem neuen Asyl­re­gime von „Lager­po­litik mit Sonderrecht“.

Und trotzdem gibt es kaum Wider­stand. Die Rats­linken haben mit ihrer Zustim­mung zur Asyl­ge­setz­re­vi­sion die Oppo­si­tion gegen die Schweizer Asyl­po­litik der SVP über­lassen. Die linke Kritik auf der anderen Seite wurde damit weitest­ge­hend marginalisiert.

Die Ideo­logie der Schweizer Sozi­al­de­mo­kratie scheint nicht mehr im Wider­spruch zu Stachel­draht und Inter­nie­rung zu stehen. Viel­sa­gend ist das Bild der Grund­stein­le­gung des neuen Bundes­la­gers in Zürich, welches das Ajour-Magazin im Früh­ling bekannt machte. Auf dem Bild zu sehen sind Simo­netta Somma­ruga, Mario Fehr und Raphael Golta, die sich mit einer Schaufel an den Bauar­beiten betä­tigen. Sie alle sind Mitglieder der SP, alle sind in Exeku­tiv­äm­tern tätig und alle sind zu diesem Zeit­punkt für den repres­siven Asyl­be­reich mitzu­ständig. Die Asyl­ge­setz­re­vi­sion ist kein Einzel­fall – und das ist verheerend.

Denn bei den kommenden Wahlen steht eine Alter­na­tive zur herr­schenden Asyl­po­litik kaum mehr zur Wahl. Das Narrativ, dass ‚nicht alle kommen können‘, ist konkur­renzlos; dass es deshalb erlaubt ist, Personen auch funda­men­talste Rechte abzu­spre­chen, unum­strit­tener Main­stream. Die wich­tige Frage ist heute deshalb eigent­lich nicht mehr, ob ‚alle kommen können‘. Sondern ob eine Gesell­schaft, die  scheinbar ohne Wider­stand so weit zu gehen bereit ist, in dieser Form über­haupt noch erhal­tens­wert ist.

Zurück auf den Glau­ben­berg­pass. Hier ist die Schweiz so, wie sie sich viele wünschen. Mit spek­ta­ku­lärer Aussicht, unbe­rührter Natur, fried­li­cher Stim­mung – und einem Lager fernab der Gesell­schaft. Einem Lager, in dem Personen fest­ge­halten werden, die hier hätten leben wollen, aber die nicht erwünscht sind, und die deshalb auf der falschen Seite des Stachel­drahts stehen. Hoff­nungslos. Isoliert. Hier ist die Schweiz, so wie sie ist: ein Land der Lager.


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