Flucht als Katastrophe

In Europa wird Migra­tion oft als Kata­strophe darge­stellt, die das Leben der Europäer*innen betrifft, während das tatsäch­liche Leid der Geflüch­teten neben­säch­lich bleibt. Rohullah Suroosh, geflüch­teter Jour­na­list aus Kabul, berichtet von den wahren Kata­stro­phen der Flucht. 
Die Haltung der meisten Europäer*innen gegenüber der Situation geflüchteter Menschen ist von Ignoranz geprägt. (Illustration: Alain Schwerzmann)

Obwohl die Öffent­lich­keit in Europa von Nach­richten, Meldungen und Bildern zu Migra­tion und Flucht über­flutet wird, haben die wenig­sten, die in Europa geboren worden sind, eine Ahnung, was ein solches Ereignis für Betrof­fene mit sich bringt. Und doch geistert die Bezeich­nung Kata­strophe durch die Bericht­erstat­tungen und die Diskus­sionen, wenn es darum geht zu bestimmen, was die Migra­tion und die Flucht anderer für Bürger*innen des euro­päi­schen Konti­nents bedeutet. 

Als würde Europa von einem Unheil heimgesucht. 

Während der leicht­fer­tige Gebrauch des Begriffs vermut­lich eher eine Krise der anderen Art verdecken soll, bedeutet Kata­strophe für Geflüch­tete konkrete Situa­tionen, in denen das Über­leben oft eine Frage von Glück und Zufall ist; oder es bedeutet Lebens­si­tua­tionen, die kaum oder nur schwer zu bewäl­tigen sind in einem System, das Migrant*innen und Geflüch­teten keine Rechts­si­cher­heit bietet. 

Kata­strophe: Fluchtroute

Vor einigen Jahren musste ich Afgha­ni­stan verlassen. Die übliche Route nach Europa führt über den Iran und die Türkei. 

Weil die Grenz­über­tritte ille­ga­li­siert worden sind, bedeuten sie beson­ders für Frauen und Kinder eine grosse Gefahr. Während der Reise werden viele Frauen und Kinder körper­lich und sexuell miss­braucht – durch Folter, Verge­wal­ti­gung, Skla­verei, Zwangsehe, Zwangs­pro­sti­tu­tion und verschie­dene Arten von Erpressung.

Eine Umfrage der Inter­na­tio­nalen Orga­ni­sa­tion für Migra­tion (IOM) unter Migrant*innen in Italien zeigt, dass ein hoher Prozent­satz an Kindern angaben, gegen ihren Willen fest­ge­halten worden zu sein. Menschen­schmuggler zwingen Frauen oft zu sexu­ellen Hand­lungen im Austausch für ihre Dienste. 

Viele über­leben die Reise nicht oder verschwinden spurlos.

Eine UNICEF-Recherche von 2017 hat gezeigt, dass Frauen und Kinder während der Reise dem Pay-as-you-go-System ausge­setzt sind: Sie müssen für den Schmuggler arbeiten, bis die Schuld begli­chen ist. Dadurch werden Frauen und Kinder zu Kreditnehmer*innen und sind dem Schmuggler schutzlos ausgeliefert. 

Viele über­leben die Reise nicht oder verschwinden spurlos – eine übliche Praxis ist der Handel mit Organen von Kindern und Jugend­li­chen, die trotz Erpres­sung und Skla­verei das Geld für die Reise nicht beschaffen können. Diese Taten werden sowohl von den Schleu­sern wie auch von Männern, die sich eben­falls auf der Reise befinden, unter Anwen­dung von massiver Gewalt ausgeübt. 

Viele Frauen und Mädchen berichten zudem, dass sie auch in den Aufnah­me­zen­tren, provi­so­ri­schen Unter­künften und Schutz­räumen, in denen sie während der Reise und in Europa auszu­harren gezwungen sind, belä­stigt und sexuell miss­braucht werden.

Kata­stro­phale Asylverfahren

Auch das Asyl­ver­fahren erleben viele als Kata­strophe. In Europa hängt es von den natio­nalen Gesetzen der einzelnen Länder ab, ist also unter­schied­lich. Das Asyl­recht schreibt vor, dass die Rechte der Asylbewerber*innen geschützt, die Verfahren gewähr­lei­stet und fair durch­ge­führt werden müssen. Sie dauern aber oft sehr lange, auch wenn viele Länder die Absicht äussern, die Anträge inner­halb von sechs Monaten abzu­schliessen. Diese Zeit wird in der Regel überschritten. 

Asyl­an­träge sind schwierig und kompli­ziert. Im Fall eines nega­tiven Entscheids sind wir Asylbewerber*innen gezwungen, das Land zu verlassen, in dem wir zum ersten Mal einen inter­na­tio­nalen Schutz­an­trag gestellt haben. 

In einigen Fällen werden wir bis zu unserer Abschie­bung in Gefäng­nissen festgehalten. 

Als Asyl­be­werber habe ich in Deutsch­land das Recht, dreimal gegen einen Nega­tiv­be­scheid Beru­fung einzu­legen. Wir müssen uns aber jedes Mal zwei Jahre gedulden, bis das Gericht entschieden hat. Während dieser Zeit gelingt es nur ganz wenigen Migrant*innen, Arbeit zu finden. Unter­nehmen, die Personen ohne Arbeits­be­wil­li­gung einstellen, machen sich strafbar. 

Die Hürden des Arbeitsmarkts

Im Fall eines posi­tiven Entscheids ist es mir erlaubt zu arbeiten. Der euro­päi­sche Arbeits­markt ist jedoch sehr forma­li­stisch. Als Arbeits­su­chender muss ich über offi­zi­elle Doku­mente wie Pass, Diplome und Arbeits­visa verfügen, um eine Stelle zu bekommen. Die Sprache des Ziel­landes muss in Wort und Schrift beherrscht werden. 

Manchmal verfügen Einwanderer*innen jedoch nicht über das notwen­dige Wissen, um auf dem euro­päi­schen Arbeits­markt Fuss zu fassen, oder auslän­di­sche Diplome werden von den Arbeit­ge­bern nicht akzep­tiert. In Europa ist die Gefahr, ohne Ausbil­dung und mit geringen beruf­li­chen Quali­fi­ka­tionen in die Arbeits­lo­sig­keit abzu­rut­schen, für junge Menschen ohne Berufs­er­fah­rung sehr gross.

Da die Ille­ga­li­sie­rung Geflüch­tete massiver Gewalt aussetzt, leiden viele an körper­li­chen, aber auch psychi­schen Erkrankungen.

Gemäss EU-Recht müssen Asylbewerber*innen von den Aufnah­me­län­dern Unter­künfte zur Verfü­gung gestellt werden. Wir werden jedoch unge­fragt von Unter­kunft zu Unter­kunft geschickt. Während der kurzen Zeit an den jewei­ligen Orten bekommen wir keine Erlaubnis, uns für Sprach­kurse anzu­melden. Und kaum sind wir mit der Situa­tion vertraut, müssen wir unsere Sachen packen und an einen anderen Ort gehen, der sich – oft weit weg von Fami­li­en­mit­glie­dern und Freund*innen – in völlig abge­schie­denen Gegenden befindet. Also fühlen wir uns total isoliert und werden depressiv oder bekommen andere psychi­sche Probleme. 

Erhalten wir einen posi­tiven Asyl­be­scheid, verlieren wir in der Regel das Recht, weiterhin in einem Asyl­heim zu leben, und sind gezwungen, uns eine eigene Wohnung zu suchen. Was ja eigent­lich eine gute Sache wäre, wenn es da nicht die Schwie­rig­keiten auf dem Arbeits­markt gäbe. Und in Ländern oder Städten mit Wohnungs­knapp­heit müssen Einwanderer*innen private Wohnungen mieten, was sie anfällig für Ausbeu­tung durch Hauseigentümer*innen oder Immo­bi­li­en­agen­turen macht. Oft sind wir gezwungen, völlig über­teu­erte Wohnungen oder Zimmer in alten, verwahr­lo­sten Häusern zu akzeptieren.

Zugang zu Gesundheitsversorgung

Da die Ille­ga­li­sie­rung und Krimi­na­li­sie­rung von Migra­tion für Geflüch­tete und Migrant*innen eine gefähr­liche Situa­tion erzeugt, und sie massiver Gewalt aussetzt, leiden viele an körper­li­chen, aber auch psychi­schen Erkran­kungen oder sind zumin­dest in einem geschwächten Zustand. Sie bräuchten eigent­lich medi­zi­ni­sche und psycho­lo­gi­sche Unterstützung. 

Einwanderer*innen und Asylbewerber*innen haben in den meisten euro­päi­schen Ländern jedoch nur beschränkten Zugang zum Gesund­heits­sy­stem. In der Regel gibt es eine Behand­lung nur im Fall einer lebens­be­droh­li­chen Krank­heit oder wenn eine dauer­hafte Beein­träch­ti­gung die Folge sein könnte. Es gibt zwar Länder, die Asylbewerber*innen versi­chern lassen. In Deutsch­land dauert dieser Prozess aber bis zu drei Jahre, und in Grie­chen­land etwa muss man die medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gung selbst bezahlen, solange das Asyl­ver­fahren nicht abge­schlossen ist, was Jahre dauern kann. 

In der Schweiz sind Asyl­su­chende, vorläufig aufge­nom­mene Ausländer*innen, Ausrei­se­pflich­tige und Personen mit Schutz­status S, die aufgrund ihres Einkom­mens und Vermö­gens keinen Anspruch auf Sozi­al­hilfe haben, verpflichtet, die Kosten für Kran­ken­kas­sen­prä­mien, Fran­chisen, Selbst­be­halte sowie Arzt­rech­nungen eigen­ständig zu tragen.

Wenn man sich vorstellt, unter welchen gesund­heits­schä­di­genden Bedin­gungen Geflüch­tete und Migrant*innen in Lagern wie zum Beispiel Moria leben müssen, wird klar, was das bedeutet: eine Katastrophe. 

Die Gefahr der Ausschaffung

Viele soge­nannt ille­gale Einwanderer*innen werden von den Behörden in Europa fest­ge­nommen und in ihr Heimat­land ausge­schafft, weil sie ohne gültiges Visum einge­reist sind und aufgrund ihrer Herkunft als nicht schutz­würdig aner­kannt werden. 

Aber auch in der Türkei ist die Gefahr, abge­schoben zu werden, sehr gross – egal, ob man aus Ländern wie Afgha­ni­stan, Iran, Irak oder Syrien kommt. Viele meiner Bekannten berichten, dass Gefäng­nisse, die temporär für Migrant*innen errichtet worden sind, voll mit Personen sind, die eigent­lich ausge­schafft werden sollen, sich aber weigern zurückzukehren. 

Täglich habe ich mit Menschen zu tun, die seit acht Jahren auf ihren Asyl­ent­scheid warten. 

Eine Rück­kehr ist für die meisten dieser Menschen, die jahre­lang fern von ihrer Heimat gelebt haben, eben­falls eine existen­ziell bedro­hende Kata­strophe. Die Wieder­ein­glie­de­rung in die Gesell­schaft funk­tio­niert oft nicht; es drohen Armut, Diskri­mi­nie­rung, manchmal auch Gefängnis, Folter und Tod. Der hohe psychi­sche Druck der dadurch entsteht, treibt viele in den Selbst­mord, in die Alkohol- oder Drogen­sucht. Oder sie beschliessen, die Reise noch­mals anzu­treten, in der Hoff­nung, dass der Asyl­an­trag diesmal positiv ausfallen wird. 

Leben im Warten

Das Schei­tern bei all diesen Bemü­hungen ist für viele von uns eine persön­liche Kata­strophe und mit dem Gefühl eines tiefen Versa­gens verbunden. Freunde*innen erzählen, dass ihre Fami­lien wütend und enttäuscht seien, da diese so viel Geld und Mühe in die erfolg­lose Migra­tion eines Fami­li­en­mit­glieds inve­stiert haben.

Seit Mai 2021 lebe ich als Asyl­be­werber in Deutsch­land. Ich habe keine Kran­ken­ver­si­che­rung. Zum Glück bin ich jung und gesund. Der Sprach­un­ter­richt hat noch nicht begonnen. Das Erlernen der Sprache in einem staat­lich aner­kannten Lern­center ist jedoch das wich­tigste. Geflüch­tete ohne Sprach­zer­ti­fikat finden keine Arbeit. Es drohen Arbeits­lo­sig­keit und Armut, und damit steigt die Gefahr, abge­schoben zu werden. Zudem beant­wortet das Asylamt meine Fragen bezüg­lich meines Antrags nicht. 

Täglich habe ich mit Menschen zu tun, die seit 2015 auf ihren Asyl­ent­scheid warten. Einige haben bereits zwei- bis drei Ableh­nungen erhalten. Was das jahre­lange Warten in völliger Unge­wiss­heit für diese Menschen bedeutet, ist schwer vorstellbar. Wie sollen sie es unter diesen Umständen schaffen, in der neuen Umge­bung anzukommen? 

Dieser Text von Rohullah Suroosh entstand in Koope­ra­tion mit Johanna Lier und erschien zuvor im Wider­spruch, Heft 78. Johanna Liers Text „Europas Krise der Grau­sam­keit“ findet ihr hier.

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