Obwohl die Öffentlichkeit in Europa von Nachrichten, Meldungen und Bildern zu Migration und Flucht überflutet wird, haben die wenigsten, die in Europa geboren worden sind, eine Ahnung, was ein solches Ereignis für Betroffene mit sich bringt. Und doch geistert die Bezeichnung Katastrophe durch die Berichterstattungen und die Diskussionen, wenn es darum geht zu bestimmen, was die Migration und die Flucht anderer für Bürger*innen des europäischen Kontinents bedeutet.
Als würde Europa von einem Unheil heimgesucht.
Während der leichtfertige Gebrauch des Begriffs vermutlich eher eine Krise der anderen Art verdecken soll, bedeutet Katastrophe für Geflüchtete konkrete Situationen, in denen das Überleben oft eine Frage von Glück und Zufall ist; oder es bedeutet Lebenssituationen, die kaum oder nur schwer zu bewältigen sind in einem System, das Migrant*innen und Geflüchteten keine Rechtssicherheit bietet.
Katastrophe: Fluchtroute
Vor einigen Jahren musste ich Afghanistan verlassen. Die übliche Route nach Europa führt über den Iran und die Türkei.
Weil die Grenzübertritte illegalisiert worden sind, bedeuten sie besonders für Frauen und Kinder eine grosse Gefahr. Während der Reise werden viele Frauen und Kinder körperlich und sexuell missbraucht – durch Folter, Vergewaltigung, Sklaverei, Zwangsehe, Zwangsprostitution und verschiedene Arten von Erpressung.
Eine Umfrage der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unter Migrant*innen in Italien zeigt, dass ein hoher Prozentsatz an Kindern angaben, gegen ihren Willen festgehalten worden zu sein. Menschenschmuggler zwingen Frauen oft zu sexuellen Handlungen im Austausch für ihre Dienste.
Eine UNICEF-Recherche von 2017 hat gezeigt, dass Frauen und Kinder während der Reise dem Pay-as-you-go-System ausgesetzt sind: Sie müssen für den Schmuggler arbeiten, bis die Schuld beglichen ist. Dadurch werden Frauen und Kinder zu Kreditnehmer*innen und sind dem Schmuggler schutzlos ausgeliefert.
Viele überleben die Reise nicht oder verschwinden spurlos – eine übliche Praxis ist der Handel mit Organen von Kindern und Jugendlichen, die trotz Erpressung und Sklaverei das Geld für die Reise nicht beschaffen können. Diese Taten werden sowohl von den Schleusern wie auch von Männern, die sich ebenfalls auf der Reise befinden, unter Anwendung von massiver Gewalt ausgeübt.
Viele Frauen und Mädchen berichten zudem, dass sie auch in den Aufnahmezentren, provisorischen Unterkünften und Schutzräumen, in denen sie während der Reise und in Europa auszuharren gezwungen sind, belästigt und sexuell missbraucht werden.
Katastrophale Asylverfahren
Auch das Asylverfahren erleben viele als Katastrophe. In Europa hängt es von den nationalen Gesetzen der einzelnen Länder ab, ist also unterschiedlich. Das Asylrecht schreibt vor, dass die Rechte der Asylbewerber*innen geschützt, die Verfahren gewährleistet und fair durchgeführt werden müssen. Sie dauern aber oft sehr lange, auch wenn viele Länder die Absicht äussern, die Anträge innerhalb von sechs Monaten abzuschliessen. Diese Zeit wird in der Regel überschritten.
Asylanträge sind schwierig und kompliziert. Im Fall eines negativen Entscheids sind wir Asylbewerber*innen gezwungen, das Land zu verlassen, in dem wir zum ersten Mal einen internationalen Schutzantrag gestellt haben.
In einigen Fällen werden wir bis zu unserer Abschiebung in Gefängnissen festgehalten.
Als Asylbewerber habe ich in Deutschland das Recht, dreimal gegen einen Negativbescheid Berufung einzulegen. Wir müssen uns aber jedes Mal zwei Jahre gedulden, bis das Gericht entschieden hat. Während dieser Zeit gelingt es nur ganz wenigen Migrant*innen, Arbeit zu finden. Unternehmen, die Personen ohne Arbeitsbewilligung einstellen, machen sich strafbar.
Die Hürden des Arbeitsmarkts
Im Fall eines positiven Entscheids ist es mir erlaubt zu arbeiten. Der europäische Arbeitsmarkt ist jedoch sehr formalistisch. Als Arbeitssuchender muss ich über offizielle Dokumente wie Pass, Diplome und Arbeitsvisa verfügen, um eine Stelle zu bekommen. Die Sprache des Ziellandes muss in Wort und Schrift beherrscht werden.
Manchmal verfügen Einwanderer*innen jedoch nicht über das notwendige Wissen, um auf dem europäischen Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, oder ausländische Diplome werden von den Arbeitgebern nicht akzeptiert. In Europa ist die Gefahr, ohne Ausbildung und mit geringen beruflichen Qualifikationen in die Arbeitslosigkeit abzurutschen, für junge Menschen ohne Berufserfahrung sehr gross.
Gemäss EU-Recht müssen Asylbewerber*innen von den Aufnahmeländern Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Wir werden jedoch ungefragt von Unterkunft zu Unterkunft geschickt. Während der kurzen Zeit an den jeweiligen Orten bekommen wir keine Erlaubnis, uns für Sprachkurse anzumelden. Und kaum sind wir mit der Situation vertraut, müssen wir unsere Sachen packen und an einen anderen Ort gehen, der sich – oft weit weg von Familienmitgliedern und Freund*innen – in völlig abgeschiedenen Gegenden befindet. Also fühlen wir uns total isoliert und werden depressiv oder bekommen andere psychische Probleme.
Erhalten wir einen positiven Asylbescheid, verlieren wir in der Regel das Recht, weiterhin in einem Asylheim zu leben, und sind gezwungen, uns eine eigene Wohnung zu suchen. Was ja eigentlich eine gute Sache wäre, wenn es da nicht die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt gäbe. Und in Ländern oder Städten mit Wohnungsknappheit müssen Einwanderer*innen private Wohnungen mieten, was sie anfällig für Ausbeutung durch Hauseigentümer*innen oder Immobilienagenturen macht. Oft sind wir gezwungen, völlig überteuerte Wohnungen oder Zimmer in alten, verwahrlosten Häusern zu akzeptieren.
Zugang zu Gesundheitsversorgung
Da die Illegalisierung und Kriminalisierung von Migration für Geflüchtete und Migrant*innen eine gefährliche Situation erzeugt, und sie massiver Gewalt aussetzt, leiden viele an körperlichen, aber auch psychischen Erkrankungen oder sind zumindest in einem geschwächten Zustand. Sie bräuchten eigentlich medizinische und psychologische Unterstützung.
Einwanderer*innen und Asylbewerber*innen haben in den meisten europäischen Ländern jedoch nur beschränkten Zugang zum Gesundheitssystem. In der Regel gibt es eine Behandlung nur im Fall einer lebensbedrohlichen Krankheit oder wenn eine dauerhafte Beeinträchtigung die Folge sein könnte. Es gibt zwar Länder, die Asylbewerber*innen versichern lassen. In Deutschland dauert dieser Prozess aber bis zu drei Jahre, und in Griechenland etwa muss man die medizinische Grundversorgung selbst bezahlen, solange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, was Jahre dauern kann.
In der Schweiz sind Asylsuchende, vorläufig aufgenommene Ausländer*innen, Ausreisepflichtige und Personen mit Schutzstatus S, die aufgrund ihres Einkommens und Vermögens keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, verpflichtet, die Kosten für Krankenkassenprämien, Franchisen, Selbstbehalte sowie Arztrechnungen eigenständig zu tragen.
Wenn man sich vorstellt, unter welchen gesundheitsschädigenden Bedingungen Geflüchtete und Migrant*innen in Lagern wie zum Beispiel Moria leben müssen, wird klar, was das bedeutet: eine Katastrophe.
Die Gefahr der Ausschaffung
Viele sogenannt illegale Einwanderer*innen werden von den Behörden in Europa festgenommen und in ihr Heimatland ausgeschafft, weil sie ohne gültiges Visum eingereist sind und aufgrund ihrer Herkunft als nicht schutzwürdig anerkannt werden.
Aber auch in der Türkei ist die Gefahr, abgeschoben zu werden, sehr gross – egal, ob man aus Ländern wie Afghanistan, Iran, Irak oder Syrien kommt. Viele meiner Bekannten berichten, dass Gefängnisse, die temporär für Migrant*innen errichtet worden sind, voll mit Personen sind, die eigentlich ausgeschafft werden sollen, sich aber weigern zurückzukehren.
Eine Rückkehr ist für die meisten dieser Menschen, die jahrelang fern von ihrer Heimat gelebt haben, ebenfalls eine existenziell bedrohende Katastrophe. Die Wiedereingliederung in die Gesellschaft funktioniert oft nicht; es drohen Armut, Diskriminierung, manchmal auch Gefängnis, Folter und Tod. Der hohe psychische Druck der dadurch entsteht, treibt viele in den Selbstmord, in die Alkohol- oder Drogensucht. Oder sie beschliessen, die Reise nochmals anzutreten, in der Hoffnung, dass der Asylantrag diesmal positiv ausfallen wird.
Leben im Warten
Das Scheitern bei all diesen Bemühungen ist für viele von uns eine persönliche Katastrophe und mit dem Gefühl eines tiefen Versagens verbunden. Freunde*innen erzählen, dass ihre Familien wütend und enttäuscht seien, da diese so viel Geld und Mühe in die erfolglose Migration eines Familienmitglieds investiert haben.
Seit Mai 2021 lebe ich als Asylbewerber in Deutschland. Ich habe keine Krankenversicherung. Zum Glück bin ich jung und gesund. Der Sprachunterricht hat noch nicht begonnen. Das Erlernen der Sprache in einem staatlich anerkannten Lerncenter ist jedoch das wichtigste. Geflüchtete ohne Sprachzertifikat finden keine Arbeit. Es drohen Arbeitslosigkeit und Armut, und damit steigt die Gefahr, abgeschoben zu werden. Zudem beantwortet das Asylamt meine Fragen bezüglich meines Antrags nicht.
Täglich habe ich mit Menschen zu tun, die seit 2015 auf ihren Asylentscheid warten. Einige haben bereits zwei- bis drei Ablehnungen erhalten. Was das jahrelange Warten in völliger Ungewissheit für diese Menschen bedeutet, ist schwer vorstellbar. Wie sollen sie es unter diesen Umständen schaffen, in der neuen Umgebung anzukommen?
Dieser Text von Rohullah Suroosh entstand in Kooperation mit Johanna Lier und erschien zuvor im Widerspruch, Heft 78. Johanna Liers Text „Europas Krise der Grausamkeit“ findet ihr hier.