Auf dem Fischerboot, das Mouhamed Diop an jenem Oktoberabend in seiner Heimatstadt Mbour besteigt, drängen sich um die 130 Menschen, dicht an dicht. Sitzen geht gerade noch, Liegen ist unmöglich, erzählt Diop. Er habe keinen von den anderen gekannt. Umgerechnet 370 Euro habe die Überfahrt gekostet, die ihm ein besseres Leben ermöglichen sollte. Das Ziel: Gran Canaria. Einer der südlichsten Ausläufer der EU. 1’600 Kilometer von seiner Heimat entfernt.
Am fünften Tag gehen den Geflüchteten Essen und Wasser aus. Bald auch das Benzin. 15 Tage werden Mouhamed Diop und die anderen Geflüchteten auf dem Atlantik treiben. Es ist eines von vielen Booten, die im Senegal in diesen Tagen als vermisst gelten.
Dann, in der Nacht auf den 2. November, sieht Mouhamed Diop ein Flugzeug über sich kreisen, so erzählt er es drei Wochen später in Puerto Rico, einem Hafenort an der Südküste Gran Canarias. Es schlägt Alarm. Wenig später erblickt Diop das orange Rettungsschiff. Es gehört zu Salvamento Marítimo, einer Seenotrettungsorganisation, die der spanischen Seeschifffahrtsbehörde untersteht. Alle werden gerettet, ausser dreien, die während der Überfahrt gestorben sind.
Die Kanarischen Inseln verzeichnen derzeit den höchsten Anstieg von Geflüchteten seit 14 Jahren. Kamen 2019 bis August durchschnittlich zwei Personen pro Tag an, sind es Anfang November 2020 fast 400, so beziffert es die Spanische Kommission für Flüchtlingshilfe (CEAR), eine Hilfsorganisation, die Rechtsberatung für Geflüchtete anbietet. Es sind zehn Mal mehr als noch im Vorjahr. Sie kommen aus Marokko, Senegal, Mali, Mauretanien, der Elfenbeinküste oder Guinea, fliehen vor Krieg oder Armut, manche vor Verfolgung, sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Eine Chance auf Asyl in Spanien hat kaum jemand von ihnen.
Wenn die Einwohner:innen von ihren Ängsten sprechen, nennen sie Gran Canaria ein „zweites Lesbos“, nach der berüchtigten griechischen Insel, dem ersten Etappenziel von Geflüchteten im östlichen Mittelmeer auf dem Weg nach Europa. Doch so wenig Geflüchtete auf Lesbos bleiben wollen, nur um dann dennoch dort stecken zu bleiben, so wenig tun es jene auf den Kanaren. Ihr eigentliches Ziel ist das europäische Festland.
Mouhamed Diop, 20. Wichtiges Detail: Er hält sein Handy immer in der Hand, obwohl es nicht funktioniert. Bei seiner Überfahrt aus Senegal wurde es nass, seitdem kann er keinen regelmässigen Kontakt zu seinen Eltern halten. (Foto: Felie Zernack)
Wie gross ist der Leidensdruck?
Das vermeintlich bessere Leben beginnt für Mouhamed Diop in einem Fischerort in Arguineguín an der Südküste Gran Canarias. Eigentlich für maximal 400 Personen ausgelegt, sollen die Ankommenden im Erstaufnahmelager innerhalb von 72 Stunden auf Corona getestet, registriert und identifiziert werden. Bis das Camp Anfang Dezember geräumt wurde, wurden hier über 2’000 Menschen festgehalten.
„Ich habe es nicht verstanden“, sagt Mouhamed Diop. Zwölf Tage musste er auf dem Hafenstreifen bleiben, während andere Geflüchtete mit Bussen abgeholt wurden. Er hat keine Möglichkeit, sich zu waschen. Unter den Geflüchteten gibt es viele Streitereien. Weil in den überfüllten Zelten keine Betten mehr frei sind, schläft er nachts auf dem Asphalt. So beschreibt es der 20-Jährige, während er im Schatten eines Parks sitzt und sich an seinem Smartphone festhält, obwohl es seit der Überfahrt nicht mehr funktioniert. Erst nachdem er in Puerto Rico angekommen war, habe er seiner Familie ein Lebenszeichen schicken können.
Im Hintergrund ragen Tourismuskomplexe aus Beton in den Himmel. Manche Hotelbesitzer:innen haben in ihren leer stehenden Häusern Platz freigeräumt, um Geflüchtete wie Mouhamed Diop unterzubringen. Das Rote Kreuz koordiniert und bezahlt den Aufenthalt. Eigentlich eine Win-Win-Situation, denn auch die Beschäftigten im Touristenort Puerto Rico bangen in diesem Jahr um ihren Arbeitsplatz. Die Besucher:innen bleiben seit der Coronapandemie aus – hier ebenso wie in Diops Heimat Senegal.
In Mbour, einer Stadt mit rund 200’000 Einwohner:innen, verdiente Mouhamed Diop seinen Lebensunterhalt, indem er Fisch an Hotels verkaufte. Er streift die Ärmel seines weissen Pullovers nach oben. Ein Fisch ist auf seinem Oberarm tätowiert. Seit er 13 Jahre alt ist, arbeitet er als Fischer. „Ich bin gegangen, weil es keine Arbeit mehr gab. Das Geld reichte nicht mehr für die Familie.“ Er stützt die Ellenbogen auf die Knie, seine Augen blinzeln über der Atemschutzmaske: „Wir haben viele Probleme im Senegal.“
Dass es vor den Küsten Senegals nicht mehr genug Fisch gibt, sei einer der Gründe, warum viele junge Senegales:innen ihr Land verlassen, kritisiert Greenpeace Anfang des Jahres. In den vergangenen Jahren hat die Regierung in Dakar Fischereilizenzen an europäische und chinesische Fischfangunternehmen vergeben. Das bedeutet, dass die EU Migrant:innen in ihre Herkunftsländer abschiebt, wo sie ihnen gleichzeitig einen wichtigen Bereich ihrer Lebens- und Einkommensgrundlage entzieht – vertraglich zugesichert von den jeweiligen Regierungen. Das neue Fischereiabkommen zwischen Dakar und der EU soll in den nächsten fünf Jahren 45 europäischen Schiffen ermöglichen, mindestens 10’000 Tonnen Thunfisch und 1’750 Tonnen Schwarzen Seehecht jährlich zu fangen.
„Diese Unternehmen halten sich nicht an die Vorgaben und schützen weder die Fischereibestände noch die Biosphäre des Meeres“, behauptet Alassane Dicko, Koordinator des Netzwerks Afrique-Europe-Interacte. Die senegalesischen Fischer seien Opfer dieses unfairen Wettbewerbs: „Die Einnahmen sind knapp“, sagt Dicko. Die Fischbestände seien in den letzten zwanzig Jahren stark zurückgegangen, weil grosse Fischfangflotten aus China, der EU sowie anderen Seemächten den Meeresboden von Mauretanien bis zum Golf von Guinea kontinuierlich abfischten – besonders in den Gewässern vor Senegal. Das erschwere das alltägliche Überleben der Fischer, so der Aktivist.
Krieg, Folter und Verfolgung gelten als Grund, um Asyl zu erhalten. Armut, Arbeitslosigkeit und Ressourcenknappheit dagegen nicht. Wie gross ist der Leidensdruck, der Menschen wie Mouhamed Diop dazu treibt, eine Fluchtroute zu wählen, die laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) eine der gefährlichsten der Welt ist?
300 Menschen in 14 Stunden
Aus Zeitungsartikeln und Twitter-Meldungen lässt sich rekonstruieren, dass alleine von Mitte Oktober bis Mitte November über 600 Personen während der Atlantik-Passage verschwunden, also wahrscheinlich gestorben sind. Während Mouhamed Diop am Hafen in Arguineguín wartet, werden in Senegal auf der anderen Seite der Atlantikroute Schweigeminuten für die Vermissten abgehalten.
„Das Meer ist so intensiv, so unermesslich“, sagt Manuel Capa. Er arbeitet seit neun Jahren für die Rettungsorganisation Salvamento Marítimo, die Diop gerettet hat. Der 49-Jährige sagt von sich selbst, er werde ruhig, wenn es einen Notfall gibt. Er sei beinahe schon „kalt“ geworden, eine Folge der vielen Rettungseinsätze. Capas Bart ist mehr grau als schwarz, er hat jene kleinen Falten über den Augenbrauen, wie sie Menschen haben, die viel in die Sonne schauen müssen.
Innerhalb der letzten vier Wochen hat Capa 65 Boote aus dem Atlantik gerettet, manchmal 300 Menschen in nur 14 Stunden, sagt er. „So nach und nach stapeln sich die Menschen.“ Müde verrührt er Zucker in seinem Kaffee. Das orange Rettungsschiff schaukelt zwischen Touristenbooten hin und her. Am Hafen, neben Restaurants, die ihre Stühle hochgestellt haben, wartet er auf den Funkspruch, das Kommando zur Rettung. Heisst es „Patera“, spanisch für ein kleines Holzboot, kommen die Geflüchteten aus Marokko. Melden sie „Cayuco“ – so werden die bunt bemalten Fischerboote aus Senegal genannt –, weiss er, dass die Geflüchteten aus Subsahara-Afrika kommen.
Capa schlägt seinen Terminkalender auf. Auf der letzten Seite hat er die Entfernungen notiert:
Gibraltar: 14 km. Wenige Stunden.
Dakhla in der West-Sahara: 444 km. Drei Tage
Nouadhibou in Mauretanien: 778 km. Fünf Tage
St. Louis in Senegal: 1’352 km. Mindestens sieben Tage.
Mbour, wo Mouhamed Diops Boot abgelegt hatte, liegt so weit entfernt, dass Capa es nicht einmal auf seiner Liste notiert hat. „Sie müssen eine neue Route benutzen“, sagt Capa. Und diese verlaufe immer südlicher. Die Schuld dafür, dass Flüchtende auf immer gefährlichere Routen ausweichen, sieht er bei der europäischen Migrationspolitik. Im Norden Marokkos, wo Europa in Sichtweite liegt, patrouilliere die europäische Grenzschutzagentur Frontex gemeinsam mit der spanischen Küstenwache mit Militärschiffen. Frontex habe keinen Plan für den Fall gehabt, dass die Geflüchteten auf immer südlichere Fluchtwege ausweichen, kritisiert Capa. „Dadurch werden die Routen viel länger, gefährlicher und demütigender.“
Offiziell unterstützt Frontex die nationalen Behörden bei der Grenzkontrolle und ‑überwachung, der Identifizierung und Registrierung und dem Patrouillieren mit Schiffen und Flugzeugen zwischen Spanien und Nordafrika. Doch sie haben nicht wie Capa das Ziel, die Geflüchteten zu retten und aufs Festland zu bringen, sondern im Gegenteil: „illegale“ Migration zu verhindern.
Manuel Capa nimmt sein wasserfestes Handy und öffnet die App VesselFinder. Auf seinem Bildschirm leuchten viele bunte Dreiecke auf, die sich langsam entlang der afrikanischen Küste bewegen. Die Dreiecke sind Schiffe. Die Positionen der Schiffe werden über UKW-Frequenzen versendet und können in Echtzeit eingesehen werden. Für Berufsschiffe ist ein sogenanntes AIS-System verpflichtend. Geflüchtetenboote, die sich auf dem Meer bewegen, werden nicht erfasst. Sie können in den Strom der grossen Handelsschiffe geraten, von den Wellen erfasst werden und untergehen.
Das sei noch nicht das Gefährlichste, beschreibt Manuel Capa: Der Nordwind treibe sie nach Westen in den offenen Atlantik. „Vielleicht kommen in drei, vier Jahren Überreste in Südamerika oder in der Karibik an. Und wir würden wahrscheinlich Monate später davon hören. Das ist ein Tod, der in der Vergessenheit zu verschwinden scheint“, sagt Capa. Der Atlantik sei riesig, keiner könne ihn überwachen.
Jedes Land muss Schiffbrüchigen in seiner sogenannten Seenotrettungszone Hilfe bereitstellen können. In Spanien ist diese Fläche drei Mal so gross wie das gesamte Land. Aus der Luft und von der See aus ist das Gebiet nur schwer zu überwachen. Verstärkung können sich die nationalen Regierungen von der EU-Grenzschutzagentur Frontex holen. Frontex war seit 2006 bereits mehrmals über die Operation Hera präsent – zuletzt 2018. Eine Erweiterung ist im Gespräch. Seit November 2020 sind acht Frontex-Mitarbeiter:innen auf Gran Canaria stationiert, um die Küstenwache zu unterstützen. Sie folgten einem Hilferuf der spanischen Regierung.
An einem Morgen Mitte November geht die Schranke auf der Strasse zum Hafen auf und zu. Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen, die Polizei und eine Gruppe von Anwält:innen passieren den Parkplatz zum Erstaufnahmelager, das von einer meterhohen Wand zum Meer abgeschirmt wird. Eine Frau mit kurzen rötlichen Haaren und schnellem Schritt schiebt sich durch die Menschenmenge, vorbei an Kamerateams. Dann erreicht sie die gelbe Absperrung, dahinter haben Journalist:innen keinen Zutritt. „Warum wurden die Geflüchteten hierhergebracht?“, fragt eine der Anwält:innen. Eigentlich sollten einige schon lange den Hafenstreifen verlassen haben. „Wegen der Regierung“, sagt Onalia Bueno García, die Frau mit dem schnellen Schritt. Sie ist die Bürgermeisterin der Gemeinde, und sie ist sauer: auf die EU und die Regierung in Madrid.
Auf das Festland werden die Geflüchteten nicht gebracht, heisst es aus Madrid. Niemand soll denken, dass der Weg automatisch von der Insel an der EU-Aussengrenze zum Festland führe. Die Bewohner:innen Arguineguíns sind besorgt, sagt Bueno García und beschreibt einen täglichen Spagat zwischen humanitärer und chronischer Krise in dem Dorf, das sich zum zentralen Ankunftsort entwickelt hat. „Das Einzige, was ich von der Europäischen Union erwarte, ist, dass sie Spanien dazu drängt, dieses Migrationsproblem auf den Kanarischen Inseln zu lösen. Der Tourismus ist für uns die wichtigste wirtschaftliche Quelle.“
Keine abschreckende Wirkung
Anfang Dezember wird ihre Forderung Wirklichkeit: Das Erstaufnahmelager wird geräumt. Auch die leer stehenden Hotels sollen bis Ende Dezember wieder ausschliesslich von Tourist:innen bezogen werden, verkündete Onalia Bueno García kurz nach ihrem Besuch. Mit Bussen werden die Geflüchteten in die neuen Lager gebracht, welche die Regierung in kurzer Zeit aufgezogen hat.
Eines dieser Lager liegt auf einem Militärgelände in den Ausläufern der Hauptstadt Las Palmas, in einem Stadtteil, dessen Name übersetzt so viel bedeutet wie „trockene Schlucht“. Das Gelände ist mit Stacheldraht umzäunt. Der Geruch der nahe gelegenen städtischen Kläranlage liegt in der Luft. Kakteen und Disteln überziehen die Hügel, im Tal stehen Zelte in Militärfarben. Rund 800 Personen sollen hier in Zelten mit Etagenbetten untergebracht werden. Aber wohin mit den über 7’000, die alleine im November angekommen sind?
Während die ersten Geflüchteten in das Lager umgesiedelt werden, versucht die spanische Aussenministerin Arancha González Laya die Situation auf der anderen Seite der Atlantikroute zu regeln. Am 22. November besucht sie ihre senegalesische Amtskollegin Aïssata Tall Sall in der Hauptstadt Dakar und unterzeichnet ein Rückführungsabkommen. Statt mehr Rettungsboote kündigten die Ministerinnen eine stärkere Präsenz des Militärs und der Nationalpolizei vor der Küste Senegals an. Die spanische Regierung erklärt, ein Flugzeug und ein Überwachungsschiff nach Dakar zu schicken. Gleichzeitig verspricht sie, Anreize für legale Migrationswege zu schaffen.
Bisher stützt sich Spanien vor allem auf ein Rückführungsabkommen mit dem an Senegal grenzenden Mauretanien. Darin ist geregelt, dass Spanien auch nicht-mauretanische Staatsbürger:innen dorthin abschieben kann. Der letzte Abschiebeflug verliess die Kanaren Anfang November. An Bord befanden sich 18 Personen aus Senegal, sagt ein Richter, der die Geflüchteten im Internierungsgefängnis Gran Canaria betreut.
Was passiere, wenn diese Menschen in Mauretanien abgesetzt werden, könne er nicht beantworten. Er vermute nicht das Beste. Dennoch: „Eine abschreckende Wirkung werden die Abschiebungen auf die Menschen in den Herkunftsländern nicht haben“, sagt er. Dafür sei der Migrationsdruck in den Herkunftsländern zu gross. Die Arbeit, die getan werden müsse, solle dort ansetzen.
Diese Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium des „Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) Fund“. Teil des Rechercheteams waren ausserdem: Luisa Izuzquiza, Daniela Sala und Phevos Simeniodis.