Am 25. Dezember 2022 hatte die Sonntagszeitung von einem „Meilenstein“ in der Schweizer Energiegeschichte zu berichten: Noch in diesem Jahr soll im Industriegebiet Schweizerhalle in der Nähe von Basel der erste Flüssiggas-Terminal der Schweiz in Betrieb gehen.
Der Plan sieht so aus: Verflüssigtes Erdgas – häufig LNG (liquified natural gas) genannt – würde in Containern per Zug oder Schiff in Schweizerhalle angeliefert und in einer Verdampfungsanlage wieder in die Gasform zurückverwandelt werden. Die Schweiz müsste dann nicht mehr ihren gesamten Gasbedarf über Pipelines beziehen und wäre unabhängiger gegenüber ihren Nachbarn. Dies sei ein wichtiger Schritt in Richtung Versorgungssicherheit, so das Fazit der Sonntagszeitung. „Denn Gas wird so schnell nicht verschwinden.“
Doch genau darin liegt das klimapolitische Problem. Kritiker*innen monieren, LNG-Infrastrukturen verzögern den Übergang zu einem emissionsarmen Energiesystem.
Fossiler Energiecluster
LNG ist seit der russischen Invasion in die Ukraine der neuste Trend auf dem Energiemarkt. Als Antwort auf das Gasembargo haben die europäischen Energieunternehmen ihre Flüssiggaskapazitäten massiv ausgebaut. Statt Erdgas aus Russland zu beziehen, soll der Gasbedarf nun massgeblich durch LNG aus Qatar und den USA gedeckt werden.
Da die konventionellen Gasvorkommen zunehmend ausgeschöpft sind, wird viel LNG durch das besonders schädliche Fracking-Verfahren gewonnen. Besonders in Deutschland wird der Bau von LNG-Terminals seit einem Jahr im Schnelltempo vorangetrieben – trotz scharfer Kritik von Umweltverbänden und aus der Klimabewegung.
Und jetzt will womöglich auch die Schweiz mitmachen. Für die LNG-Pläne in Schweizerhalle ist der Gasverbund Mittelland (GVM) verantwortlich, ein Unternehmen, das Erdgas und Biogas importiert, und verschiedene Energieunternehmen im Mittelland und der Nordwestschweiz beliefert. Der GVM möchte bei Schweizerhalle einen landesweit bedeutenden „Energiecluster“ aufbauen, war in den Zeitungen zu lesen. Neben dem LNG-Terminal soll in den kommenden drei bis fünf Jahren ein grosser Gasspeicher gebaut werden. Sechs Prozent des Wintergasbedarfs könne darin gemäss Unternehmensangaben aufbewahrt werden. Zudem liesse sich das mit dem geplanten Bau eines Gaskraftwerkes im selben Gebiet kombinieren.
Konkreteres zum LNG-Projekt bei Schweizerhalle ist nicht bekannt. Noch hält sich der GVM bedeckt. Ein konkreter Entscheid stehe noch aus, wie der CEO von GVM, Rolf Samer, gegenüber das Lamm bekräftigt. Aus der in den Medien kommunizierten Umschlagmenge von 150 Containern pro Jahr lassen sich keine Rückschlüsse auf die Grösse der geplanten Anlage ziehen. Denn diese Masseinheit ist weder branchenüblich noch wirklich aussagekräftig. Aber schon jetzt drängen sich Fragen auf: Ist dieses Projekt überhaupt mit den Klimazielen vereinbar? Und überhaupt: Ist LNG die einzige Antwort auf die Energiekrise?
Grünes LNG – eine Zukunftsperspektive?
Auf diese Fragen reagiert der GVM ausweichend: Das Unternehmen prüfte „laufend Möglichkeiten, um die Versorgungssicherheit der Schweiz sicherzustellen.“ Wie auch für andere politische und wirtschaftliche Akteure in der Schweiz scheint die Versorgungslage wichtiger als die Klimakrise zu sein.
Das könnte daran liegen, dass der LNG-Terminal aus Sicht des GVM keine rein fossile Infrastruktur darstellt. Am Terminal könne auch Biogas und aus erneuerbaren Energien erzeugter „grüner“ Wasserstoff umgeschlagen werden, heisst es auf dem Internetportal CNG-Mobility, ein Projekt der Schweizer Energiefirmen Gaznat und GVM. Dies sei ein wichtiger Schritt hin zu einer „klimaneutralen Industrie“.
In Deutschland sind aus der LNG-Branche ähnliche Töne zu hören. Die Terminals seien „H2-Ready“, so das Schlagwort für die Umrüstbarkeit der Anlagen. Jedoch raten Expert*innen zu grosser Vorsicht. In einer umfangreichen Studie von vergangenem November äusserte das Fraunhofer Institut für Innovationsforschung ernst zu nehmende Vorbehalte gegenüber dem Argument der Umrüstung auf nicht-fossile Energieträger.
Zwar sei sie technisch möglich. Jedoch ist sie mit einem beträchtlichen finanziellen und technischen Aufwand verbunden und muss von Anfang an geplant werden. Da die künftige Nachfrage nach unterschiedlichen Energieträgern ungewiss bleibt und praktische Erfahrungen bei der Umrüstung fehlen, bestehe laut den Studienautor*innen die Gefahr, dass die LNG-Infrastrukturen zu gestrandeten Vermögenswerten werden.
Auch bei der Deutschen Umwelthilfe bleibt man skeptisch. Sascha Boden beschäftigt sich dort mit dem Thema LNG. Er beobachtet, wie in Bezug auf die technische und betriebswirtschaftliche Umsetzbarkeit vieles unklar bleibt. Gegenüber das Lamm sagt er: „Noch nie wurde ein LNG-Terminal auf einen Wasserstoffterminal umgerüstet. Es fehlt ganz viel Wissen.“ Offen sei auch, wann eine solche Umrüstung für die Betreiber betriebswirtschaftlich überhaupt sinnvoll wird. Momentan ist das wohl nicht der Fall: Denn grüner Wasserstoff ist teuer und nur in geringen Mengen auf dem Weltmarkt erhältlich.
Somit rät Boden zur Vorsicht, was die Umrüstungsversprechen angeht. Man müsse den Firmen ganz genau auf die Finger schauen: „Auf deutscher Seite ist das nur ein leeres Absichtsversprechen und nicht mit verpflichtenden Vorgaben verbunden. Ich wäre sehr skeptisch, ob der Vorhabenträger im Fall von Basel das verbindlich machen würde.“
Wie der Energiekrise begegnen?
Bleibt das Problem des Energiemangels. Der Bau von LNG-Infrastruktur ist aus Sicht der vieler der einzige Weg, um in der neuen geopolitischen Lage die Gasnachfrage zu decken.
Auch hier lohnt sich ein Blick nach Deutschland. Dort werden nämlich mit den neuen LNG-Infrastrukturen gerade enorme Überkapazitäten geschaffen. Entgegen den Warnungen „gibt es aktuell gar keine Energiemangellage“, unterstreicht Boden von der Deutschen Umwelthilfe. Er fordert deshalb von der Bundesregierung, sie solle eine neue Auslegeordnung vornehmen. Sollte sich trotz der Sparmassnahmen und des Ausbaus von erneuerbaren Energien die Notwendigkeit von neuen LNG-Infrastrukturen ergeben, dann müsste deren Laufzeit klar begrenzt werden.
Schliesslich lässt sich eine Energiemangellage nicht nur über neue Angebote an fossilen Energien beheben. In Anbetracht der Klimakatastrophe muss das gesamte Energiesystem verändert werden, kommt das deutsche Konzeptwerk Neue Ökonomie in einer Publikation zum Schluss. „Fossile Schnellschüsse“ wie der Bau von LNG-Terminals gelte es zu verhindern und das Geld stattdessen in erneuerbare Energien und die Gebäudeisolierung zu investieren. Lasse Thiele, der Autor der Studie, regt im Gespräch mit das Lamm ebenfalls dazu an, über den Rückbau von energieintensiven Industrien nachzudenken und den lebensnotwendigen Energiebedarf zu priorisieren. Dagegen sei es sehr bedenklich, „dass im Jahr 2023 noch immer fossile Abhängigkeiten geschaffen werden“.
Wie aus der fossilen Sackgasse herausfinden?
Und so bleiben die LNG-Terminals vor allem eines: Infrastrukturen, welche die dringend nötige Abkehr von fossilen Energien verzögern und damit die Klimakatastrophe verschärfen. In der Fachsprache gibt es dazu den Begriff Lock-In: Aufgrund ihrer langen Laufzeit und der grossen Investitionen blockieren neue fossile Infrastrukturen den Übergang zu einem emissionsarmen Energiesystem.
Und trotzdem ist der Widerstand gegen diese Projekte gar nicht so einfach, wie erneut ein Blick auf das nördliche Nachbarland zeigt. Zwar gab es verschiedene Aktionen gegen die LNG-Pläne der Regierung. Doch der Umweltbewegung ist es bisher nicht gelungen, den LNG-Ausbau zu stoppen.
Lasse Thiele führt dies unter anderem auf eine Eigenschaft von LNG-Infrastrukturen zurück. „Dadurch, dass das LNG zum Teil mehrfach um die Welt geschifft wird, bevor es verbraucht wird, ist die Betroffenheit von der Förderung und Produktion der Energie nicht unmittelbar ersichtlich.“ Anders als etwa beim Braunkohletagebau sind die zerstörerischen Folgen von LNG weniger bildgewaltig. Thiele hofft deshalb, dass es der Klimabewegung noch besser als bisher gelingt, Betroffene aus unterschiedlichen Regionen zu vernetzen und neben den globalen Auswirkungen auch die lokalen Folgen solcher Infrastrukturprojekte zu thematisieren.
Es scheint, als würde die Schweizer Klimabewegung mit dem Projekt in Schweizerhalle vor dieselbe Herausforderung gestellt.
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