Für Linke gibt es keine Heimat

In Zeiten von Krieg und Krise wird natio­nale Iden­tität über­höht. Doch gerade Linke sollten dem Heimat-Pathos miss­trauen – es grenzt aus, recht­fer­tigt Mili­ta­rismus und verschleiert die Klassenherrschaft. 
«Heimat» ist als Vorstellung meist ein ländliches Idyll. (Bild: Luca Mondgenast)

Eine Replik zu diesem Text erscheint morgen.

Die Zuge­hö­rig­keit zu einem «Volk» oder einer «Nation» und das Gefühl der Verbun­den­heit mit einer «Heimat» gelten weithin als selbst­ver­ständ­lich. Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat sich das noch verschärft. So wird bis in linke Kreise hinein kaum mehr ernst genommen, wer die Selbst­ver­ständ­lich­keit der natio­nalen Iden­tität bezwei­felt und der Auffas­sung wider­spricht, dass es sich lohnt, dafür zu sterben.

Eine konse­quent linke, kriti­sche Sicht auf «Heimat» sieht anders aus. Sie gerät aber leider häufig in Verges­sen­heit – und zwar immer dann, wenn «Linke» behaupten, man dürfe den Begriff «Heimat» nicht den Rechten über­lassen, sondern müsse ihn selbst positiv besetzen. Dahinter steckt wohl die Absicht, die nach rechts Gedrif­teten zurück­zu­ge­winnen, indem man ihnen das anbietet, was sie sich von rechts verspre­chen: geschlos­sene Grenzen, Auto­rität, Tradi­tion und eben «Heimat».

«Heimat» ist also genau dort, wo die SVP ihre Hoch­burgen hat.

Ein posi­tiver Bezug auf «Heimat» wirkt oft harmlos, kommt sie doch häufig als regio­nales Idyll daher, das Vertraut­heit und Gebor­gen­heit verspricht. Doch was ist «Heimat»?

Ein «mäch­tiges Gefühl»

Als das Natio­nal­ge­fühl um sich griff, stellte 1837 die Brock­haus-Enzy­klo­pädie fest:

«Heimat nennt man das Land, wo man geboren ist. Jeder Mensch fühlt in seiner Brust ein mäch­tiges Gefühl, welches ihn zu dem Lande hinzieht, in welchem er seine Kind­heit und Jugend­zeit verlebte. […] Diese Liebe zur Heimat, welche sich auch bei den rohe­sten Völkern findet, wird bei dem gebil­deten und mündigen Staats­bürger zur Vater­lands­liebe, welche sich nicht bloss auf ein dunkles Gefühl stützt, sondern auf eine bestimmte Über­zeu­gung von der Tüch­tig­keit vater­län­di­scher Einrich­tungen und von der Möglich­keit, mittels derselben seine Zwecke als vernünf­tiger Mensch und als Staats­bürger errei­chen zu können. In recht­li­cher und staats­wirt­schaft­li­cher Bezie­hung wird der Begriff der Heimat beson­ders dadurch wichtig, weil aus ihm für die Ange­hö­rigen derselben gewisse Rechte und Verbind­lich­keiten erwachsen.»

Heute, knapp 200 Jahre später, ist «Heimat» für den Brock­haus etwas nüch­terner «eine teils vorge­stellte, teils real angeb­bare Gegend (Land, Land­schaft oder Ort), zu der – aufgrund tatsäch­li­chen Herkom­mens oder vergleich­barer ‹ursprüng­li­cher› Verbun­den­heits­ge­fühle – eine unmit­tel­bare und für die jewei­lige Iden­tität konsti­tu­tive Vertraut­heit besteht.»

Aus dem «mäch­tigen Gefühl» von 1837 für das «Vater­land», wo man geboren ist – der Verliebt­heit ähnlich, aber zugleich eine «mündige» Über­zeu­gung von der Zweck­mäs­sig­keit und Verbind­lich­keit der natio­nalen Insti­tu­tionen -, ist etwas Abstrak­teres geworden. «Heimat» ist nicht mehr immer real, sondern auch imagi­niert, und der tatsäch­liche Geburtsort legt auch nicht mehr zwin­gend fest, wo «Heimat» ist. Sie bleibt aber etwas «Ursprüng­li­ches» und damit ausschlag­ge­bend für die Identität.

Wenn die Fremden unge­fragt in der «Heimat» auftau­chen, werden sie zu Krimi­nellen, da sie gegen die Auslän­der­ge­setze der «Heimat» verstossen.

«Heimat» als Vorstel­lung ist nun meist ein länd­li­ches Idyll: Der Mühl­bach plät­schert, die Gänse schnat­tern, der Gross­vater raucht seine Pfeife, und die Gross­mutter backt Kuchen. «Heimat» ist also genau dort, wo die SVP ihre Hoch­burgen hat. Das Zürcher Lang­stras­sen­quar­tier mit seiner ethni­schen Diver­sität und der Sicht­bar­keit von Unan­ge­passt­heit, Sucht und Prosti­tu­tion passen nicht dazu. Ebenso wenig die Agglo­me­ra­tion, das zersie­delte Gebiet zwischen Land und Stadt, wo der Gross­teil der Bevöl­ke­rung lebt.

«Heimat» ist also nicht nur eine roman­ti­sie­rende Idee vom Ort der behü­teten Jugend, sondern eine rück­wärts­ge­wandte Einbil­dung. Vom Grauen, welches das Dorf­leben im Verbor­genen prägte, wird geschwiegen.

Die mörde­ri­sche Logik von Heimat

Dem deut­schen Publi­zi­sten und Poli­tiker Thomas Eber­mann folgend, ist «Heimat» mit zwei unheil­vollen Ideen bela­stet: «Prägung» und «Verwur­ze­lung». Die angeb­lich unwi­der­ruf­liche «Prägung» durch die «Heimat» ist ein Angriff auf den gesell­schaft­li­chen Fort­schritt. «Heimat» schützt die Tradi­tion, Neues bedroht sie. Und man hat genau eine «Heimat», nicht etwa mehrere oder gar viele «Heimaten». Diese Exklu­si­vität ist für die Iden­tität der Heimat­ver­liebten entschei­dend, für die anderen ist sie ausgren­zend. Das zeigt sich in den ständig geäus­serten Zwei­feln an der Loya­lität von Menschen mit mehr als einer Staats­bür­ger­schaft – an ihrer Eignung für poli­ti­sche Ämter oder als Sportler*innen in «Natio­nal­mann­schaften».

Der mini­male Fort­schritt der letzten Jahre, der mehr Tole­ranz für mehr­fache Staats­bür­ger­schaften brachte, ist unter Druck geraten. Verschär­fungen und Ausbür­ge­rungen von miss­lie­bigen Personen stehen zur Debatte. Auf die Spitze treibt es die Forde­rung nach «Remi­gra­tion», also die Ausschaf­fung von Menschen, die anderswo geboren wurden, um die «Iden­tität» der «Heimat» zu bewahren.

Die zweite unheil­volle Idee, die «Verwur­ze­lung», macht fakten­widrig aus Menschen Bäume. Nicht Sess­haf­tig­keit, sondern Migra­tion – die Suche nach einem besseren Leben anderswo – ist seit ihren Anfängen kenn­zeich­nend für die Mensch­heit. Frei­heit bedeutet auch, wegzu­gehen und woan­ders will­kommen zu sein.

Wie können Menschen, die zufällig in einem Land gebo­renen wurden, sich anmassen, anderen, die ebenso zufällig anderswo geboren wurden, den Aufent­halt zu verbieten?

Der Gegen­satz zu «Heimat» ist die «Fremde». Die dort Lebenden betrachten die Heimat­ver­liebten im Urlaub zwar mit Neugier, viel­leicht sogar Wohl­wollen. Aber wenn die Fremden sich anmassen, unge­fragt in der «Heimat» aufzu­tau­chen, rühren sie an den Grund­fe­sten von Iden­tität und Nation und werden zu «Scheinasylant*innen», «Wirt­schafts­flücht­lingen» und stets zu Krimi­nellen, da sie per Defi­ni­tion gegen die Auslän­der­ge­setze der «Heimat» verstossen.

Dass Leute gute Gründe zur Migra­tion haben könnten, die sie dazu auch mora­lisch berech­tigen, ist für die Heimat­ver­liebten undenkbar. Die laute Forde­rung nach einem «besserem Schutz der Grenzen», bei dem sich alle bemühen, die anderen an Unmensch­lich­keit zu über­treffen, hat längst das rechts­na­tio­nale Milieu verlassen. Die Verweh­rung des Fami­li­en­nach­zugs, menschen­un­wür­dige Unter­brin­gung und Arbeits­verbot bei finan­zi­ellen Zuwen­dungen unter dem bereits kläg­li­chen Sozi­al­hil­fe­ni­veau gehören ange­sichts der mörde­ri­schen Grenzen der west­li­chen «Werte­ge­mein­schaft» noch zu den milderen Massnahmen.

Tausende von in den Meeren Ertrun­kenen und in den Wüsten Verdur­steten dienen gezielt dazu, abzu­schrecken und Härte zu demon­strieren. Der Zynismus, mit dem man die Gier der «Schlepper*innen» für die Toten verant­wort­lich macht und die Kroko­dils­tränen für die Opfer sind wider­wärtig. Denn es bräuchte nicht einmal die Aufhe­bung des Visa­zwangs für Menschen aus den Flucht­ur­sprungs­län­dern. Es bräuchte ledig­lich einen Verwal­tungsakt: Die Aufhe­bung der Verpflich­tung der Flug­ge­sell­schaften, auf eigene Kosten alle Passa­giere ohne gültige Einrei­se­do­ku­mente an den Abflugort zurückzufliegen.

Niemand bräuchte mehr sein Leben zu riskieren, um in ein Land der Hoff­nung zu gelangen. Wer in der Schweiz einen Asyl­an­trag stellen möchte, könnte das einfach am Zürcher oder Genfer Flug­hafen tun. Die «Schlepper*innnen» müssten sich einen anderen Lebens­un­ter­halt suchen.

Der Schutz der «Heimat» und der dort Verwur­zelten ist also iden­tisch mit der Abwehr der Fremden. Man braucht keinem linken Inter­na­tio­na­lismus anzu­hängen, um für offene Grenzen einzu­treten. Andreas Cassee hat die philo­so­phi­schen Argu­mente für und wider das von den Einhei­mi­schen bean­spruchte Recht, Fremden die Einreise und den Verbleib zu verbieten, gründ­lich analy­siert. Ausge­hend davon, dass es in der Schweiz heute völlig inak­zep­tabel wäre, jemandem den Zuzug in einen anderen Kanton von einer Bewil­li­gung abhängig zu machen, fragt er, wieso das bei Ländern als selbst­ver­ständ­lich gilt. Wie können Menschen, die zufällig in einem Land gebo­renen wurden, sich anmassen, anderen, die ebenso zufällig anderswo geboren wurden, den Aufent­halt zu verbieten?

Seine Antwort: «Jeder Mensch sollte frei entscheiden können, in welchem Land er leben will. Einwan­de­rungs­be­schrän­kungen sind nur in Ausnah­me­si­tua­tionen zulässig.» Wenn man das Natio­nale nicht zu einem schüt­zens­werten Wert erklärt, der über dem eines guten Lebens aller anderen steht, sind Zuwan­de­rungs­be­schrän­kungen also mora­lisch nicht haltbar.

Menschen, Bewe­gungen und Parteien, die sich als links verstehen, sollten also allein aus mora­li­schen Gründen den mörde­ri­schen «Grenz­schutz» ablehnen und Forde­rungen nach noch mehr Härte den Rechten überlassen.

Der Haupt­feind steht im eigenen Land

Zudem ist zu bedenken: Nach Marx gibt es seit dem Ende der Stein­zeit in allen Gesell­schaften eine privi­le­gierte Klasse. Diese Klasse sichert sich den Zugriff auf die Produk­ti­ons­mittel, eignet sich den Mehr­wert an und entscheidet über die Entste­hung und Vertei­lung der Güter, wobei der Staat und der kultu­relle Überbau für stabile Verhält­nisse sorgen. Der bürger­liche Staat entstand mit dem Aufstieg des Kapi­ta­lismus im 19. Jahr­hun­dert. Er sicherte der Bour­geoisie die Aneig­nung des Mehr­werts aus der gesell­schaft­li­chen Arbeit auf ihrem Staats­ge­biet mit Gesetz, Verwal­tung und Staats­ge­walt. Natio­nale Iden­tität diente dabei als Herrschaftsmittel. 

Mit frag­wür­digen Bezügen zur Geschichte wurde die Nation zum Subjekt erhoben. Volks­tüm­liche Bräuche, Trachten und Helden sind zu grossen Teilen erfunden, aber die natio­nale Indok­tri­na­tion ist allge­gen­wärtig. Sie verbirgt die Klas­sen­ge­gen­sätze im Inneren und lenkt den Blick auf den äusseren Feind.

Ein völkisch begrün­detes Heimat­ge­fühl wird zugun­sten eines staat­li­chen zurück­ge­wiesen, das die in der Schweiz lebenden Menschen umfasst.

Auch wer sonst nichts hat, es bleibt die Nation – von der «Natio­nal­fahne» über das Lied bis zur Umschlags­farbe des Reise­passes ist nichts belanglos genug für die Stif­tung natio­naler Iden­tität. Die Berge, die Küste, die Steppe – alles wird besungen, und nirgendwo ist es schöner. Wenn die «Natio­nal­mann­schaft» antritt und die «Natio­nal­hymne» erschallt, soll die Nation kollektiv eine Gänse­haut bekommen. Leute schminken sich seit einigen Jahren bei solchen Anlässen die «Natio­nal­farben» ins Gesicht. Das natio­nale Kollektiv ist klassenübergreifend.

Wenn Linke dabei mitma­chen, vergessen sie das grösste histo­ri­sche Versagen der Linken: den Burg­frie­dens­schluss im August 1914, als die meisten sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Parteien ihre anti­mi­li­ta­ri­sti­sche Haltung aufgaben. Daraufhin schossen Arbeiter an den Fronten auf ihres­glei­chen, anstatt die Gewehre gegen die eigenen Offi­ziere zu richten.

Die orga­ni­sierte inter­na­tio­nale Linke hatte 1912 am Frie­dens­kon­gress in Basel feier­lich geschworen, das abseh­bare Gemetzel durch einen Gene­ral­streik und die Weige­rung, Waffen aufein­ander zu richten, zu verhin­dern. Im Sommer 1914 gaben die linken Parteien und Gewerk­schaften – mit wenigen Ausnahmen – ihr inter­na­tio­nales Anti­kriegs­bündnis zugun­sten eines aggres­siven Patrio­tismus auf und stellten Nation vor Klasse.

Linker Inter­na­tio­na­lismus hätte den Krieg verhin­dern können, aber die natio­nale Indok­tri­na­tion erwies sich als stärker.

Die Lektion daraus ist: «Der Haupt­feind steht im eigenen Land», wie der Titel eines Buches des linken deut­schen Poli­tiker Karl Lieb­knecht heisst. Wenn Linke von «Heimat» spre­chen, vergessen sie das. Katrin Göring-Eckhardt, die dama­lige Vorsit­zende der deut­schen Grünen, sagte am Parteitag 2017: «Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat. Diese Heimat spaltet man nicht. Für diese Heimat werden wir kämpfen.» Das ist nicht links.

In der Schweiz gilt der SP-Bundesrat Beat Jans als links. Seine Asyl­po­litik ist so streng, dass er von rechts Applaus bekommt. Das von ihm 2019 verfasste Vorwort zum Sammel­band «Unsere Schweiz. Ein Heimat­buch für Welt­of­fene» zur «Rück­erobe­rung» des Heimat­be­griffs macht klar, wie es dazu kommen konnte: «Sosehr wir uns auch bemühen, global zu denken und Grenzen zu über­winden – wir werden doch immer wieder auf unsere Heimat zurück­ge­worfen.» Der vergeb­liche Versuch, sich von der «Heimat» zu befreien, führt Jans folge­richtig zu einem «gesunden Heimat­ver­ständnis», bei dem «alle Menschen, die hier leben, […] die Schweiz aus[machen].»

Ein völkisch begrün­detes Heimat­ge­fühl wird zugun­sten eines staat­li­chen zurück­ge­wiesen, das die in der Schweiz lebenden Menschen umfasst. Das mag ein «gesun­deres» Gefühl sein als das am SVP-Stamm­tisch unter dem Hirsch­ge­weih, ein linkes ist es aber nicht. Es taugt viel­mehr treff­lich zum Schutz der Grenzen.

Ein klares «Nein» zum Militär

Hier ist auch vom Aufrü­stungs­wahn zu spre­chen, der seit 2022 die west­liche Welt erfasst hat. Ziel ist es, immer höhere Prozent­an­teile der Wirt­schafts­lei­stung (BIP) des jewei­ligen Landes für die «Vertei­di­gung» auszu­geben – also für den Unter­halt der Armee und die Produk­tion von Rüstungs­gü­tern. Donald Trump spricht von fünf Prozent.

Jeder Rappen und jeder Cent für das Militär verschwendet in diesem Fall gesell­schaft­li­chen Reichtum auf die denkbar schlech­teste Weise. 

Selbst wenn man zuge­steht, dass es mili­tä­ri­sche Vertei­di­gung brau­chen könnte, fehlt hier jede mili­tä­ri­sche Logik. Was es zur Vertei­di­gung gegen einen Angriff braucht, hängt von der Feind­se­lig­keit der Nach­bar­länder und der Topo­grafie ab, aber nicht im Gering­sten von der inlän­di­schen Wirt­schafts­lei­stung. Eine Bedro­hungs­ana­lyse müsste klären, gegen wen man sich mit welchen Mitteln wehren soll, und der dafür erfor­der­liche mili­tä­ri­sche Aufwand kann bezif­fert werden. Der Anteil am BIP, der sich dann ergibt, steht aber am Ende des Prozesses, und nicht am Anfang.

Die Prozent­ziele bedeuten massive Subven­tionen für den mili­tä­risch-indu­stri­ellen Komplex – finan­ziert mit Steu­er­gel­dern. Wo das die Korken knallen lässt, ist offen­sicht­lich. Wenn Linke da mitma­chen, sollten sie aber gute Gründe haben, und die gibt es heute nicht. «Die Arbeiter haben kein Vater­land. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben», schrieben Engels und Marx 1848 ins «Kommu­ni­sti­sche Mani­fest». Aus linker Sicht heisst kämpfen, sich gegen Macht und Herr­schaft im eigenen Land zu stellen. Kriege hingegen werden fast immer im Inter­esse der Herr­schenden geführt.

Für die unteren Klassen macht es keinen Unter­schied, welche Fahne auf dem Rathaus weht, solange sie als formal Freie ihre Arbeits­kraft verkaufen dürfen. Ob sich die heimat­liche herr­schende Klasse den Mehr­wert aneignet oder eine andere, spielt für die unteren Klassen nur dann eine Rolle, wenn Aggres­sion von aussen das Leben der einfa­chen Leute Zwängen unter­wirft, die noch härter sind als die eigene Herrschaft.

Beispiele hierfür sind der Krieg gegen Deutsch­land (1939−45), wo es im Osten Europas um den Kampf gegen Verskla­vung und Völker­mord ging, und der Skla­ven­auf­stand auf Haiti gegen die fran­zö­si­sche Kolo­ni­al­macht (1791). Auch einige der kolo­nialen Befrei­ungs­kriege des 20. Jahr­hun­derts dürften dazu­ge­hören, da der Kolo­nia­lismus die Beherrschten häufig als «kultu­rell minder­wertig» verach­tete, miss­han­delte und hemmungslos ausbeutete.

Die aktuell heran­ge­zo­gene Bedro­hung durch Russ­land und China, um Aufrü­stung und Mili­ta­ri­sie­rung zu begründen, gehört nicht in diese Kate­gorie. Hier geht es einzig um geopo­li­ti­sche Vorherr­schaft. Jeder Rappen und jeder Cent für das Militär verschwendet in diesem Fall gesell­schaft­li­chen Reichtum auf die denkbar schlech­teste Weise. Über die Tatsache hinaus, dass man damit Nütz­li­ches finan­zieren könnte, verschlingt das Militär Unmengen an Rohstoffen und fossilen Treib­stoffen. Links ist daher hier und heute nur ein kate­go­ri­sches «Nein» zum Militär.

Was heisst das in der heutigen Situa­tion, wo der Welt­un­ter­gang denk­barer erscheint als die Welt­re­vo­lu­tion? SP und Grüne haben mit der Einbin­dung in die Konkor­danz einen Schweizer Burg­frieden geschlossen. Die Gewerk­schaften betrach­teten auslän­di­sche Kolleg*innen über Jahr­zehnte hinweg als störende Konkur­renz, und die SVP bewirt­schaftet seit langem erfolg­reich die frem­den­feind­li­chen Einstel­lungen der Leute, die es bequemer finden, nach unten zu treten, anstatt sich gegen oben zur Wehr zu setzen.

Es braucht keine «Heimat»

Es gilt zunächst, bei Verstand zu bleiben. «Progres­sive Heimat­ge­fühle» oder «linken Patrio­tismus» gibt es nicht. Wer aus der Tatsache, irgendwo geboren worden zu sein, Iden­tität, klas­sen­über­grei­fendes Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl, Heime­lig­keit oder Gebor­gen­heit ableiten will, verschleiert den Klas­sen­wi­der­spruch. Das giftige Gebräu von Heimat, Volk und Nation gehört den Rechten. Von links kann es nicht positiv besetzt, sondern nur als gefähr­lich gekenn­zeichnet werden.

Es bleibt der aufrei­bende und frustrie­rende poli­ti­sche Alltag der Linken. Sie können aktuell kaum auf mehr hoffen, als den Abbau der sozialen und zivi­li­sa­to­ri­schen Errun­gen­schaften zu verhin­dern, die den Herr­schenden einst abge­rungen wurden. Dieser poli­ti­sche Alltag spielt sich im natio­nalen Rahmen ab, und auch linke Menschen müssen sich ange­sichts des aufge­zwun­genen Lebens im Falschen irgendwo einrichten.

«Heimat» braucht es dafür aber nicht. Sich ange­sichts der schlechten Umstände trotzdem irgendwo wohl­fühlen zu wollen, geht in Ordnung. Es muss nur nicht immer das Jammertal sein, wo man geboren wurde – viel­leicht auch nicht nur ein Ort. Wenn sich das Wohl­fühlen aber an der «Heimat» fest­macht, besteht die Gefahr, in die rechte Falle zu tappen.

So haben mir Leute, die sich als links verstehen, gesagt: Kritik am Zürcher Brauchtum wie dem «Sech­se­läuten» – ein Umzug der Zünfte, der mit der Verbren­nung einer Menschen­puppe auf dem Schei­ter­haufen endet, umringt von kostü­mierten Reitern –, dem «Knaben­schiessen» – eine Wehr­ertüch­ti­gungs­übung – oder dem nach­weis­lich gesund­heits­schäd­li­chen Kirchen­ge­läut sei völlig unan­ge­bracht. Denn es handle sich um liebens­werte Tradi­tionen. Kürz­lich war in den Zeitungen zu lesen, dass die Zürcher Stadt­re­gie­rung «Sech­se­läuten» und «Knaben­schiessen» weiter subven­tio­nieren wird.

Das alles ist nicht links. Links ist, wo keine Heimat ist.

Dieser Artikel erschien zuvor im Wider­spruch, Heft 83.