Es ist eine kalte Nacht Ende September, als Klimaaktivist:innen aus der ganzen Schweiz den Bundesplatz besetzen. Mit der Aktion warnen sie vor zahlreichen bevorstehenden Katastrophen – vor der Auslöschung der Menschheit sogar. Man könnte sagen: Die Klimaaktivist:innen in Bern verbreiten Furcht und Schrecken.
Sie tun das, weil sie die Schweiz verändern und Einfluss auf die staatliche Ordnung nehmen wollen. Schliesslich wollen sie keine oberflächlichen Gesetzesänderungen, sondern eine radikale Veränderung des politischen und wirtschaftlichen Systems.
Es ist ein regnerischer Tag Ende September – die Besetzung auf dem Bundesplatz wurde vor wenigen Tagen geräumt –, als Parlamentarier:innen aller Parteien im Bundeshaus über ein neues Gesetz debattieren.
Wegen dieses Gesetzes könnten Klimaaktivist:innen wie jene vom Bundesplatz bald als „terroristische Gefährder:innen“ gelten – und im Extremfall unter Hausarrest gestellt werden. Das „Anti-Terror-Gesetz“ wird von Jurist:innen kritisiert, selbst Abgeordnete der UNO sind über die Vorlage entsetzt.
Sie wird im Parlament trotzdem angenommen.
Wen schützt das neue Anti-Terror-Gesetz – und wen gefährdet es? Eine Einordnung.
Präventive Repression
Die Schweiz erlässt wie viele andere Länder seit dem 9. September 2001 immer wieder neue, schärfere Gesetze zur Bekämpfung von Terrorismus. Das Gesetzespaket zu den polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) oder Anti-Terror-Gesetz ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Gerade wenn Nachrichten wie die des islamistischen Mords in Frankreich diese Woche um die Welt gehen, wird der Wunsch und der politische Druck nach mehr Sicherheit grösser.
Die Regierung ist der Meinung, dass terroristische Aktivitäten früher verhindert werden müssen – noch bevor eine Person Gewalt anwendet. Das soll nun das Anti-Terror-Gesetz leisten.
Die Bundespolizei darf mit dem PMT vier neue Massnahmen ergreifen, wenn sie eine:n Gefährder:in entdeckt zu haben meint. Erstens: eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht. Das heisst, die Person muss sich regelmässig bei einer kommunalen Stelle melden oder dort an einem Gespräch mit Fachpersonen teilnehmen.
Zweitens: Kontaktverbot. Das bedeutet, dass der Person der Kontakt zu bestimmten Menschen oder Gruppen verboten wird. Drittens: Ein- oder Ausgrenzung. Damit darf der Person zum Beispiel das Betreten eines bestimmten Gebiets verboten werden. Es kann aber auch ein Hausarrest verordnet werden. Viertens: Ausreiseverbot.
Einzig für den Hausarrest braucht es einen richterlichen Beschluss. Über die restlichen Massnahmen entscheidet die Bundespolizei fedpol selbst.
Diese Massnahmen sind in erster Linie präventiv-polizeilich. Das heisst, die Bundespolizei darf sie ergreifen, noch bevor jemand strafrechtlich verfolgt werden kann. Sie dürfen allerdings auch eingesetzt werden, wenn eine Person bereits in Haft war, aber für die fedpol auch nach der Freilassung noch als Gefahr gilt.
Wer ist hier Gefährder:in?
Aus sicherheitspolitischer Sicht sei das PMT sinnvoll, sagt Fabien Merz. Er forscht zum Thema Sicherheitspolitik an der ETH Zürich. Die präventiven Massnahmen, um Radikalisierung zu verhindern, sind im Nationalen Aktionsplan NAP festgeschrieben. Repressive Massnahmen sind im Rahmen des Strafgesetzes vorgesehen. Dazwischen sei aber eine Lücke, die das PMT schliessen würde: Sie soll Menschen betreffen, die nach Ansicht der Bundespolizei in Zukunft Terroranschläge verüben könnten, aber noch nicht straffällig wurden.
Das Entscheidende sei aber die Umsetzung, so Merz: „Diese kann unter Umständen kontraproduktiv sein. Viele Studien belegen, dass solche Massnahmen einen Radikalisierungsprozess auch begünstigen und beschleunigen können, wenn sie fälschlicherweise verhängt werden.“ Letztlich sei es ein Abwägen unterschiedlicher Risiken.
Die Politiker:innen sind bei der Gewichtung dieser Risiken uneins. Einer der wenigen aus seiner Partei, die das PMT befürworteten, war Daniel Jositsch von der SP. Er hält das Gesetzespaket für angemessen. „Die Alternative wäre, diese Leute, die gefährlich sind, frei rumlaufen zu lassen“, begründet er seine Position. Es sei ausserdem bereits eine abgeschwächte Form dessen, was andere Politiker:innen forderten. Insbesondere die SVP wollte auch die Präventivhaft erlauben.
Min Li Marti, ebenfalls SP-Politikerin und Mitglied in der sicherheitspolitischen Kommission, stellte sich im Parlament gegen die Vorlage. Sie kritisiert die unpräzise Definition des „Gefährders“: „Ist ein verwirrter Mensch oder ein neugieriger Jugendlicher, der auf Facebook Dinge teilt, bereits ein Gefährder?“
Laut Daniel Jositsch kratze das nun verabschiedete PMT zwar an der europäischen Menschenrechtskonvention EMRK, sei aber noch im Rahmen des Erlaubten. Zahlreich Jurist:innen sehen das anders. In einem öffentlichen Brief sprachen sie sich gegen die Vorlage aus, bezeichnen sie als nicht konform mit der EMRK und als Türöffner für juristische Willkür.
Unter den Unterzeichnenden ist auch Evelyne Schmid, Juristin und Professorin an der Universität Lausanne. Auch sie kritisiert insbesondere, wie der Begriff „terroristische Gefährder oder Gefährderin“ definiert wird.
Laut dem aktuellen Entwurf betrifft dies „eine Person, wenn aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird“.
Die Definition von „terroristischer Aktivität“ ist nicht weniger vage: „Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.“
Schmid sagt dazu: „Diese Definition ist sehr dehnbar. Völkerrechtlich hat Terrorismus etwas mit der Ausübung einer Gewalttat zu tun.“ In den vergangenen Jahren sei es in der Terrorismusbekämpfung aber immer mehr um Prävention gegangen.
„Die Vermutung ist: Man kann schon eine Gefährder:in sein, wenn man die staatliche Ordnung ändern will und das mit dem Verbreiten von ‚Furcht und Schrecken‘ begünstigt.“ Das geht Schmids Meinung nach zu weit. Die Bestimmung zur Eingrenzung auf eine Liegenschaft sei ausserdem nicht mit dem Völkerrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vereinbaren.
Die Schweiz geht mit dieser breiten Definition weit über das hinaus, was andere Länder in ihren Gesetzen festschreiben. In den anderen europäischen Ländern wird der Begriff Terrorismus immer in Verbindung mit Gewalt oder der Androhung von Gewalt definiert.
Asylsuchende werden weiter überwacht
Eines wird in der Debatte um das Gesetzespaket klar: Die Terrorist:innen, das sind nicht „wir“. Wenn in der Rundschau über das PMT berichtet wird, werden wie selbstverständlich fast nur islamistische Terroranschläge aufgezählt: Paris, Nizza, Berlin. Und als im Nationalrat über die Vorlage debattiert wurde, war wie selbstverständlich immer die Rede von „Dschihadreisen“. Die Idee der Ein- und Ausgrenzung ist zudem eine Idee, die aus dem Migrationsrecht kommt und jetzt auch im Bereich Anti-Terror eingesetzt wird.
Das ist kein Zufall. Abschnitt 2, 3 und 4 des Gesetzespakets betreffen explizit das Asyl- oder Ausländergesetz. Zwar ist das nicht der Kern der Vorlage, dennoch stellt es eine erneute Verschärfung des Asylgesetzes dar: Insbesondere wird die Zusammenarbeit zwischen dem Staatssekretariat für Migration (SEM) und der fedpol sowie dem Nachrichtendienst intensiviert. Vor allem der Austausch von persönlichen Daten wird erleichtert.
Somit ist das PMT Teil eines schleichenden Prozesses, der Asylsuchende immer weiter stigmatisiert, kriminalisiert und ihrer Persönlichkeitsrechte beraubt. Ein Anwalt, der in Straf- und Migrationsrecht tätig ist und in diesem Text nicht namentlich genannt werden will, erzählt: „Die Behörden tauschen schon jetzt ständig Daten aus. Im Kanton Zürich wird jede Lappalie – wie zum Beispiel Schwarzfahren – von der Polizei an die Migrationsbehörden geschickt. Das ist rechtswidrig und unnötig.“
Viele Akten von Asylsuchenden bestünden zur Hälfte aus solchen belanglosen Polizeirapports. Bei vielen wird kein Verfahren eröffnet, sie werden eingestellt oder führen später zu einem Freispruch, stehen aber weiterhin in den Akten. „Die Migrationsbehörden wissen oft gar nicht, was sie mit diesen Infos anfangen sollen – das Bild von den Asylsuchenden, dass sich dadurch zeichnet, schadet ihnen aber trotzdem.“
Der Anwalt sieht darin nicht immer eine böse Absicht: „In einigen Behörden arbeiten sie schlicht dilettantisch – auch beim Migrationsamt.“
Das Referendum könnte das Ziel verfehlen
Ein Zusammenschluss aus verschiedenen Jungparteien hat vergangene Woche das Referendum ergriffen. Das Referendum signalisiert zwar, dass das umstrittene „Anti-Terror-Gesetz“ nicht ohne Weiteres durchgewinkt wird. Es könnte aber einen unerwünschten Effekt haben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass das Gesetz in einer Abstimmung von der Bevölkerung abgelehnt wird, ist klein. Würde es angenommen, hätte es eine grössere juristische Legitimität. Das wiederum könnte eine Klage am Menschenrechtshof in Strassburg in Zukunft erschweren.
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die Klimaaktivist:innen vom Bundesplatz sich künftig vor einem Hausarrest fürchten müssen. Aber mit der vagen Definition des Gesetzes wäre das unter Umständen juristisch durchsetzbar. Es ist zudem ein weiterer Schritt in der Entwicklung hin zu immer mehr polizeilicher Repression und Überwachung. Und die trifft die Schwächsten zuerst.
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