„Jetzt ist ein Jahr vergangen und nicht einmal ein Stück Seife habe ich bekommen. Sie haben auch mein Tricylce nicht repariert, nichts!” Pierre Karemera’s Stimme wird lauter, als er über die fehlende Unterstützung der Hilfsorganisationen in Kyangwali, einem Geflüchtetencamp im Westen Ugandas, spricht. Die spröden Pneus seines Dreirads könnten jederzeit in die Brüche gehen und ohne kann sich Karemera nicht fortbewegen – seine gelähmten Beine können ihn nicht tragen.
Der rund 80-jährige Mann aus Burundi spricht von starken Schmerzen in seinen Gelenken: vor allem in den Schultern, auf deren Kraft er angewiesen ist, um sich auf sein Tricycle hinauf und hinunter zu manövrieren und um es anzukurbeln. Er öffnet die quietschende Blechtüre in den dunklen Raum seiner Hütte, die von einem von der Decke hängendem Tuch zweigeteilt wird. In einem Stapel von Dokumenten kramt er nach einem Schulheft und zeigt darin die Notiz eines Arztes über seine Beschwerden. „Ich habe den Bericht hier, aber sie helfen mir nicht”, sagt er.
Viele Geflüchtete in Uganda haben keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung: In den Gesundheitszentren fehlt es laut dem UNHCR, der UN-Agentur für Geflüchtete, an Betten, Medikamenten und Personal. Uganda beherbergt über 1.5 Millionen Geflüchtete, vor allem aus der Demokratischen Republik Kongo und dem Südsudan. Es ist das Land mit den meisten Geflüchteten in Afrika und eines mit den meisten weltweit.
Gleichzeitig ist Uganda eines der am stärksten unterfinanzierten Einsatzgebiete des UNHCR und seiner Partnerorganisationen. Nur rund die Hälfte des für 2022 vorgesehenen Budgets konnte die Agentur für das Land bereitstellen; fürs Jahr 2023 waren Ende Oktober erst 39 Prozent finanziert. Grund dafür ist die weltweite Zunahme von Geflüchteten, nicht zuletzt wegen dem Ukraine-Krieg, der mit dem Preisanstieg für Lebensmittel und Treibstoff auch die humanitäre Hilfe selbst verteuert hat. Die Spenden aus wohlhabenden Ländern sind zwar gestiegen, aber nicht annähernd so schnell wie der Bedarf.
In Kyangwali ist all dies spürbar, vor allem für Menschen mit Behinderungen. Es sind aber nicht nur die Finanzierungslücken, die gerade dieser Gruppe das Leben schwer machen.
Eine hohe Dunkelziffer
„Wenn wir Gehstöcke oder Hörgeräte verteilen, suchen wir uns die auffälligsten Fälle aus. Nicht, weil wir die anderen Fälle nicht sehen, sondern wegen der begrenzten Mittel”, sagt George Akena. Er arbeitet als Physiotherapeut für Humanity & Inclusion, eine in Genf ansässige Organisation, die bis vor kurzem unter dem Namen Handicap International agierte. „Es ist wirklich eine grosse Herausforderung, die Personen ständig auf Wartelisten setzen zu müssen”, sagt Akena im kleinen Büro der NGO in Kyangwali. In einer Ecke lagern in Plastik eingepackte Krücken.
Auch Kiwanuka Rudovic, der direkt nach seinem Studium einen Job als Psychologe bei Humanity & Inclusion annahm, ist bei dem Gespräch dabei. „Diese Ressourcenknappheit bedeutet auch, dass wir uns eher auf die Personen konzentrieren, die noch gar keine Unterstützung erhalten haben, anstatt die bereits verteilten Mobilitätshilfen zu ersetzen”, sagt er.
Im Februar 2023 lebte laut dem UNHCR fast jede zwanzigste Person in Kyangwali mit einer Behinderung. Diese Zahl ist im internationalen Vergleich tief: Laut Schätzungen der WHO ist weltweit fast jeder sechste Mensch von Behinderung betroffen. Die beiden Experten in Kyangwali vermuten, dass die tiefe Prozentzahl im Geflüchtetenlager vor allem Ausdruck einer weitaus höheren Dunkelziffer ist. „Das liegt am Screening, das dringend verbessert werden muss”, sagt Rudovic von Humanity & Inclusion. „Gerade Menschen mit einer mentalen Beeinträchtigung – sei es Depression oder eine posttraumatische Störung – werden oft übersehen.”
Als eine der wenigen NGOs, die sich auf Menschen mit Behinderungen konzentrieren, gilt Humanity & Inclusion als die Anlaufstelle zum Thema Behinderung in Kyangwali. Doch keine der betroffenen Personen, mit denen das Lamm für diesen Artikel gesprochen hat, hat die Organisation erwähnt – auch Pierre Karemera nicht.
Vor seiner Hütte zählt er die Organisationen auf, die in den letzten Jahren gekommen und gegangen sind, um Menschen wie ihm – Personen mit speziellen Bedürfnissen, wie sie die Hilfsorganisationen bezeichnen und kategorisieren – zu helfen: Action Africa Help, World Vision, Danish Refugee Council, Israaid, American Refugee Committee, Alight, Lutheran World Federation. Von der letztgenannten erhielt Karemera ein weiteres Tricycle, das er nur kurze Zeit benutzt hat und dessen blau-metallener Rahmen nun verstaubt und mit flachen Pneus an der Wand seiner Hütte lehnt.
Dass Karemera die Organisation Humanity & Inclusion nicht kennt, sollte nicht überraschen. Denn sie ist nur eine von insgesamt 43 Hilfsorganisationen, die im Januar 2023 in Kyangwali vor Ort sind. In dem Dorf, das ins Camp führt, kündigt ein ganzer Wald von älteren und neueren Schildern deren Präsenz an. Das UNHCR koordiniert und überwacht all diese Organisationen – und finanziert sie teilweise. Als Hauptgeldgeberin entscheidet die Agentur, welche Zuständigkeiten wie etwa Gesundheitsversorgung, sanitäre Anlagen oder Bildung sie an welche NGO vergibt. Andere NGOs führen ihre Aktivitäten im Camp mit eigenen finanziellen Mitteln durch.
“Sie essen das Geld”
Karemera hat eine klare Meinung zu vielen dieser Organisationen: „Es scheint, als würden sie das Geld einfach essen.” So wird es in Uganda ausgedrückt, wenn jemand der Korruption verdächtigt wird. Das Geld sei da, aber die NGOs wollen es nicht verteilen, hiess es von Menschen mit Behinderungen bereits damals, als die Spendengelder noch weniger rar waren.
Dass die Geflüchteten in Kyangwali so skeptisch sind, hat unter anderem damit zu tun, dass sie unter ganz anderen Umständen leben als die anwesenden humanitären Helfer*innen. Das weitläufige UNHCR-Gelände in Kyangwali ist mit hohen Mauern in strahlendem Weiss und Blau – und Stacheldraht – umgeben. Ein Blick auf die modernen und klimatisierten Büros ist nur möglich, wenn sich das grosse Tor für die weissen UN-Landcruiser öffnet. Autos, die die Mitarbeitenden “ins Feld” bringen, wie es in ihrer Fachsprache heisst, wenn sie Hausbesuche, Schulungen oder Evaluationen in den Dörfern durchführen. Und die Jobs sind gut bezahlt: Je nach Zuständigkeiten, Berufserfahrung und Dienstalter verdienen NGO- und UN-Mitarbeitende in Kyangwali zwischen 800 und 10’000 Dollar im Monat.
Hinzu kommt, dass im Jahr 2018 in Uganda ein Korruptionsskandal in der Verwaltung der Geflüchteten aufgedeckt wurde. Sowohl das UNHCR als auch die ugandische Regierung waren darin involviert. Dutzende Millionen Dollar veruntreute das UNHCR, indem Mitarbeitende Aufträge an Scheinfirmen vergaben und zu viel für Waren und Dienstleistungen verbuchten. Gleichzeitig überhöhte die ugandische Regierung die Zahl der Geflüchteten in ihrer Datenbank um 300’000, um mehr Geld einzukassieren.
Heute gibt es in Kyangwali wie in den anderen Camps in Uganda eine kostenlose Beschwerde-Hotline und diverse Beschwerdekästen. Zudem hängen überall Plakate mit der Aufschrift: „Jeder Service ist gratis” und „Null Toleranz für Betrug, Korruption und Schmiergelder”.
Dass sich Menschen mit Behinderungen in Kyangwali trotz dieser Mühen betrogen fühlen und den Hilfsorganisationen misstrauen, hat aber noch andere Gründe.
Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Davon finden 74 Prozent Zufucht in Ländern des Globalen Südens – also in Ländern, die deutlich weniger Ressourcen haben als etwa die Schweiz.
Uganda nimmt mit 1.5 Millionen die meisten Geflüchteten unter afrikanischen Ländern auf; weltweit liegt das Land an fünfter Stelle. Gleichzeitig haben humanitäre Organisationen zu wenig Geld, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen.
Was bedeutet diese Situation für Menschen, die aufgrund einer Polioerkrankung im Rollstuhl sitzen oder die wegen Kriegshandlungen Gliedmassen verloren haben?
In einer dreiteiligen Serie geht das Lamm der Frage nach, wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen – besonders verletzliche Personen unter den Geflüchteten – die aktuelle Situation im Kyangwali Refugee Camp* in Uganda erleben, wo die Zahl der Geflüchteten stetig steigt, während die Hilfsgelder schwinden.
Die Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 — die Welt verstehen“ unterstützt. Sie fand im Januar 2023 statt, die Autorin bezieht sich aber auch auf die Jahre 2015 und 2016, als sie zu diesem Thema im Kyangwali Refugee Camp forschte.
* In Uganda wird zwischen Lagern (Camps) und Siedlungen für Geflüchtete unterschieden: Erstere bieten keinen Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen und in der Regel weniger Bewegungsfreiheit. Da aber beide Strukturen in der Art und Weise, wie sie Menschen organisieren und kontrollieren, sehr ähnlich sind, verwenden wir in diesen Artikeln beide Begriffe.
Bedürfnisabklärung und Befragungen
Marcelin Busemererwa sitzt von drei Kindern umgeben auf einer Matte vor ihrer Hütte, sie trägt ein loses T‑Shirt mit dünnen Trägern und einen pinken, schmutzigen Rock. Vor ihr steht eine metallene Schüssel, in die sie die Maiskörner fallen lässt, die sie von den Kolben pullt. Sie erzählt, dass sie sich nun schon seit mehr als einem halben Jahr allein um die Kinder kümmert. Ihr Mann sei in den Kongo zurückgekehrt. Sie lacht bitter, als sie erwähnt, dass er sie damals krank im Spital zurückgelassen hat.
Die siebenjährige Tochter von Busemererwa trägt die mit Maiskörnern gefüllte Schüssel zur Kochstelle in der Hütte und kommt mit einer leeren zurück. Busemererwa ist auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen, da ihre Beine seit einer Polioerkrankung in der Kindheit gelähmt sind. Sie stützt sich auf ihre Knie und Hände, um sich im und um das Haus fortzubewegen.
„Es sind so viele Geflüchtete. Wir schlafen hungrig, ich kann mich kaum um die Kinder kümmern und unsere Unterbringung ist schlecht”, sagt sie. Eine löchrige Wolldecke verdeckt den Eingang zu dem Zimmer, in dem sie mit ihren Kindern schläft. An vielen Stellen bröckelt der Lehm von der Wand und hinterlässt Lücken.
Auch sie ist misstrauisch gegenüber den Mitarbeitenden der Hilfsorganisationen, die ständig vorbeikommen, um Menschen mit speziellen Bedürfnissen zu identifizieren und um zu evaluieren, welche Hilfe sie benötigen. „Wenn du ihnen kein Geld gibst, nehmen sie deinen Namen nicht auf die Liste der bedürftigen Personen”, sagt Busemererwa. Sie habe sich bei ihnen über den Zustand ihrer Hütte beschwert; sie habe sie darum gebeten, ihren kaputten Rollstuhl zu ersetzen; sie habe ihre schwierige familiäre Situation geschildert. Aber danach geschah jeweils nichts. Oder jedenfalls nicht das, was Busemererwa erwartet hatte.
Die Abklärungen und Befragungen sind integraler Bestandteil der Arbeitsabläufe der Hilfsorganisationen in Kyangwali: Mitarbeitende müssen die Bedürfnisse der Geflüchteten laufend registrieren, um Berichte und Projektbeschreibungen zu verfassen, mit dem Ziel, Gelder zu erhalten und gegenüber den Geldgeber*innen Rechenschaft abzulegen. Für Geflüchtete generell, aber besonders für Menschen mit Behinderungen mit ihren zusätzlichen Bedürfnissen bedeutet dies vor allem eins: Erwartungen, die immer wieder enttäuscht werden. Denn oft bleibt Hilfe wie der Bau einer Hütte oder die Reparatur eines Rollstuhls ganz aus oder verzögert sich enorm, weil die Budgets der Hilfsorganisationen die Bedürfnisse nicht decken können.
Diese Situation schürt Misstrauen. „Ich denke, dass diejenigen, die uns registrieren, vielleicht nicht alle unsere Beschwerden in die Büros bringen”, sagt Busemererwa. „Oder sie sagen dir, du sollst unterschreiben und gehen am nächsten Tag zum Büro, um zu zeigen, dass die Unterstützung geleistet wurde. Doch wir haben sie nicht erhalten!”
Hinzu kommt: Busemererwa hat nie zu lesen und schreiben gelernt. Oft weiss sie nicht genau, wozu sie einwilligt oder was sie bestätigt, wenn sie ihren Daumen auf das Stempelkissen und dann auf die Papiere der humanitären Helfer*innen drückt.
Teilhabe, Mitsprache und Ermächtigung
International haben sich humanitäre Organisationen spätestens auf dem Weltgipfel für humanitäre Hilfe 2016 dazu verpflichtet, die Begünstigten von Hilfe in Entscheidungen miteinzubeziehen. Die Betroffenen sollen mitbestimmen können, welche Waren und Dienstleistungen sie erhalten. Gerade für Menschen mit Behinderungen wurde dies immer wichtiger. Denn seit die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 für die 175 unterzeichnenden Staaten in Kraft trat, ist das Bewusstsein für die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch in der humanitären Arbeit gestiegen.
„Es liegt an uns, Menschen mit Beeinträchtigungen zu befähigen und sie in alle Programme einzubinden. Sie müssen an allen Programmierungsschritten beteiligt werden”, sagt George Akena von Humanity & Inclusion. Die Organisation stellt hierfür beispielsweise sicher, dass Rampen bei Büros gebaut werden oder dass Dolmetscher*innen für Gebärdensprache verfügbar sind. Sie bauen auch Vereinigungen auf, in denen Menschen mit Behinderungen ihre Interessen vertreten können.
Akena und sein Kollege Kiwanuka Rudovic sprechen von „bedeutungsvoller Teilnahme an der Gesellschaft” und „Beseitigung von Barrieren”, sie benutzen Begriffe wie „gemeinschaftsbasierte Interventionen” oder „Mainstreaming von Dienstleistungen”, um die Arbeit von Humanity & Inclusion zu beschreiben. Die Organisation setzt ihren Fokus klar auf die strukturellen Herausforderungen, mit denen sich Menschen mit Behinderungen konfrontiert sehen. Deshalb stehen bei Humanity & Inclusion auch Trainings, Aufklärung und Lobbyarbeit über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Vordergrund.
Das sind allesamt Arbeiten, die von den Betroffenen jedoch kaum wahrgenommen, geschweige denn als die wichtigste Hilfe für sie verstanden werden. „Ich möchte eine stabile Hütte, eine richtige Matte, damit die Kinder gut schlafen können und Geld, um mein Geschäft wieder aufzubauen“, sagt etwa Busemererwa. Ihre zwei Mädchen turnen auf ihren Beinen und auf der Matte in der Hütte herum, die Prinzessin auf dem ausgebleichten Kleid der älteren Tochter ist kaum mehr erkennbar.
Bereits 2015 kam eine partizipative Evaluation des UNHCR in Kyangwali zum Ergebnis, dass sich Menschen mit Behinderungen vor allem eins wünschen: Unterstützung, um sich in Notlagen sowohl Essen oder medizinische Behandlung leisten zu können, um sich selbst eine wirtschaftliche Tätigkeit aufzubauen oder die Schulbildung ihrer Kinder zu ermöglichen. Am liebsten in Form von Geld, um selbständig über die Ausgaben entscheiden zu können.
Warum Trainings allein nicht ausreichen
Wegen der Finanzierungslücken zielen das UNHCR und die Partnerorganisationen in Uganda vor allem darauf ab, dass die Geflüchteten wirtschaftlich selbständig und nicht von Hilfsgütern abhängig sind. Das ist für Menschen mit physischen Beeinträchtigungen im Kontext von Ugandas Siedlungspolitik von besonderem Belang, weil viele von ihnen das zugeteilte Land nicht bebauen können. Für sie stellen die Hilfsorganisationen höhere Essensrationen bereit und organisieren zusätzliche Trainings, in denen Menschen mit Behinderungen in meist zwei-tägigen Workshops etwa lernen, Schuhe zu flicken, Taschen zu nähen oder Seife herzustellen. Doch viele der Betroffenen in Kyangwali üben Kritik an diesen Programmen.
Der ältere Mann Pierre Karemera sagte in einem früheren Gespräch: „Wenn du einem Menschen das Fischen lehrst, sollst du ihm auch eine Angelrute geben. Die Hilfsorganisationen unterrichten uns, aber sie geben uns kein Material. Ich habe Hände und Fähigkeiten, aber ich brauche Material, um arbeiten zu können.”
Was Karemera sagt, ist eine von vielen Kritiken an der durch zahlreiche Hilfsorganisationen vertretenen Maxime „Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag – lehre einen Mann zu fischen, und du ernährst ihn ein Leben lang”. Diese Maxime umschreibt die Überzeugung, dass Entwicklungsarbeit den Begünstigten produktive Fähigkeiten und Möglichkeiten vermitteln soll, anstatt ihnen Almosen zu geben.
Das Beispiel von Karemera verdeutlicht aber: Die Fähigkeiten, die er in diesen Trainings lernt, hat er schon längst. Bereits als 20-Jähriger reiste er von Burundi nach Uganda, um in einem Rehabilitationszentrum eine Ausbildung zu absolvieren, wo er Schuhe und Gehhilfen für Menschen mit Behinderungen herstellte. Mit seinem Zertifikat erhielt er Arbeit in Rehabilitationszentren in ganz Ostafrika: in Tansania, in Ruanda und im Kongo – bis er vor dem Krieg im Ostkongo nach Kyangwali floh.
Viele der Menschen, die in Kyangwali mit einer körperlichen Beeinträchtigung leben, haben irgendwann in ihrem Leben ein Handwerk gelernt und wissen genau, wie man beispielsweise mit Scheren und Nadeln arbeitet. Was ihnen fehlt, sind Materialien oder Startkapital, um ein Geschäft aufzubauen. Doch die Hilfsorganisationen konzentrieren sich auf Schulungen und Sensibilisierung; sie bevorzugen Anleitungen zur Selbsthilfe gegenüber der Bereitstellung von Ressourcen. Denn dies stimmt auf den ersten Blick mit dem aktuellen Entwicklungsdiskurs überein, der Ermächtigung und Nachhaltigkeit fördern und Abhängigkeit verhindern will.
Geld bedeutet Selbstbestimmung
„Wenn ich Geld bekäme, wüsste ich genau, was ich damit machen würde”, sagt Busemererwa. Bevor ihr Mann in den Kongo zurückkehrte, hatten sie über Jahre sowohl an einem wöchentlichen Markt in Kyangwali wie vor ihrer Hütte lokal gebrauten Schnaps verkauft. Alles Geld aus diesem Geschäft brauchte sie aber für Medikamente nach ihrem Spitalaufenthalt auf. „Wenn ich Geld bekäme, könnte ich wieder arbeiten. Ich könnte Reis und Seife verkaufen”. Die Kinder würden ihr beim Transport der Waren helfen, versichert sie.
Dass die betroffenen Menschen selbst am besten wissen, wie sie Geld nachhaltig für ihr eigenes Leben investieren, findet zunehmend Ausdruck in Ansätzen für direkte Geldtransfers in Lagern für Geflüchtete. Aber nur stockend: Noch immer ist unter Mitarbeitenden von humanitären Organisationen die Haltung weit verbreitet, dass die Empfänger*innen unverantwortlich mit dem erhaltenen Geld umgehen würden.
Hinzu kommt, dass sich die Hilfsorganisationen jeweils auf abgegrenzte Sektoren der Hilfe fokussieren: Bildung, Gesundheit, Unterkunft, Nahrung oder Lebensunterhalt werden separat programmiert und finanziert. Stattdessen wären gross angelegte Cash-Transferprogramme notwendig, die die individuellen Aufgaben und restriktiven Mandate der verschiedenen Hilfsorganisationen überbrücken und die Lebensrealitäten der Geflüchteten ganzheitlich betrachten.
Nichtsdestotrotz bleiben Dienstleistungen wie diejenigen von Humanity & Inclusion essenziell: Hilfsmittel wie Rollstühle oder Gehstöcke verteilen, den Zugang zu Bildung für Kinder mit Behinderungen ermöglichen, psychologische Betreuung anbieten oder über Rechte von Menschen mit Behinderungen sensibilisieren, sind zentrale Bausteine der humanitären Arbeit.
Aber weil diese Art der Hilfe nicht immer dem entspricht, was die betroffenen Menschen als das Wichtigste für ihr Leben betrachten, und weil sich humanitäre Organisationen trotz dem Grundsatz der Partzipation eher an den Bedürfnissen der Geldgeber*innen als denjenigen der Betroffenen orientieren, bleiben Misstrauen und Enttäuschung gross. Gerade, wenn die finanziellen Mittel nicht ausreichen.
Marcelin Busemererwa betonte dies eines Tages treffend in einem Gespräch über ein Projekt von World Vision, das zwischen 2014 und 2015 Workshops für Menschen mit Behinderungen organisierte, um über ihre Rechte und Inklusion zu sprechen. Auf die Frage, was sie von den Treffen mit dieser NGO mitgenommen habe, reagierte sie zunächst fragend: „Was sie mir gesagt haben? Das meiste davon habe ich vergessen”. Der Übersetzer ermutigte sie: „Nur das, woran du dich erinnern kannst”, worauf sie schroff antwortete: „Du kannst dich nur an das erinnern, was dir gegeben wurde”.
Diese Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 — die Welt verstehen“ unterstützt. Wir danken!
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