Am Freitag Abend des 22. März finden sich in der Wiener Akademie der bildenden Künste 400 Menschen zur Eröffnung des „People’s Summit“ ein. Von den hohen Wänden hängen politische Transparente von Klimakämpfen der vergangenen Jahre. Für drei Tage wird hier das Herz der europäischen Klimagerechtigkeitsbewegung schlagen. Dutzende Workshops, Stadtführungen und Infoveranstaltungen beackern Umweltzerstörung, Kolonialismus und vor allem: die globale Gasbranche.
„Wir entfachen Alternativen“, lautet das Motto des Events.
Der Gipfel ist eine Gegenveranstaltung zur European Gas Conference, die zur selben Zeit hätte stattfinden sollen. Letztere wird jedes Jahr von einer international vernetzten Lobbyorganisation, dem Energy Council, in Wien organisiert. Die Konferenz vernetzt die CEOs der grössten Gaskonzerne der Welt sowie staatlichen Vertretungen im Rahmen exklusiver und informeller Treffen.
Doch dieses Jahr wurde aus der Gaskonferenz nichts. Nur wenige Tage vor ihrem Beginn verkündete der Veranstalter, die Konferenz auf einen späteren, bislang unbekannten Termin zu verschieben. Aus Angst vor Gegenprotest.
Geopolitik auf Kosten des Klimas
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine befindet sich die westliche Gasbranche im Umbruch. Pipelines für Erdgas zwischen Russland und Europa werden zunehmend gekappt, und stattdessen Infrastrukturen errichtet, um Flüssiggas zu gewinnen, zu verarbeiten und zu transportieren. Deswegen richtet sich nun die ganze Industrie neu aus.
Neue Terminals zur Förderung, Verflüssigung und Verschiffung von Erdgas entstehen etwa auf dem afrikanischen Kontinent, entlang der US-amerikanischen Golfküste oder auf der deutschen Insel Rügen. Vor der rumänischen und der norwegischen Küste erschliesst der österreichische Gasgigant Österreichische Mineralölverwaltung (OMV) etwa neue Gasfelder und plant Förderprojekte. Und sogar in Österreich selbst: Im Umland der beim Nationalpark Kalkalpen gelegenen österreichischen Ortschaft Molln finden gerade Probebohrungen des australischen Unternehmens ADX-Energy statt. Man hofft dort auf ein neues riesiges Gasfeld – und auf die österreichische Unabhängigkeit vom russischen Gas.
Dabei wird deutlich: Überall wo die Gasbranche hinkommt, bringt sie Repression und Militarisierung. Auch in Molln: Die Kundgebungen einer Bürger*inneninitative am Bauzaun wurden in vergangenen Wochen von privaten Securities mit Kampfhunden begleitet.
Ein Kritiker dieser Entwicklung ist Dean Bhebhe. Der Aktivist der Kampagne „Don’t Gas Africa“ war schon letztes Jahr in Wien, um gegen die Gaskonferenz zu protestieren. Dieses Jahr fuhr er als Teil einer Solidaritätsdelegation nach Molln, um dort gegen die Probebohrungen zu demonstrieren. Am „People’s Summit“ organisiert er Workshops über die Aktivitäten der Gaskonzerne auf dem afrikanischen Kontinent.
Bhebhe spricht von einem „neuen Gasrausch“. Das sei eine Gefahr für die demokratische Entwicklung in afrikanische Ländern. „600 Millionen Menschen haben auf dem afrikanischen Kontinent keinen Zugang zu Elektrizität.“ Gleichzeitig würden Infrastrukturen gebaut, um Öl, Gas oder Kohle nach Europa zu exportieren. „Unser Kontinent wird ausgebeutet, während 80 Prozent der Menschen im Subsahara-Raum keine Möglichkeit haben, auf saubere Weise zu kochen.“
Im Norden von Mosambik errichten etwa die Unternehmen TotalEnergies, ExxonMobil und Eni neue Flüssiggas-Infrastrukturen im Gesamtwert von 50 Milliarden US-Dollar. Die EU fördert den Ausbau dieser Projekte. Im September 2022 forderte Josep Borrell von der EU-Kommission sogar die Beschleunigung des Ausbaus. „Don‘t Gas Africa“ kritisiert das Vorhaben in Mosambik, weil sie von Massenvertreibungen und bewaffneten Konflikten begleitet werden.
Auf eine Frage aus dem Publikum, ob er im Extraktivismus der Konzerne neokoloniale Strukturen erkenne, erwidert Bhebhe: „Ich lehne den Begriff neokolonial ab. Es gibt keinen Neokolonialismus. Es gibt nur denselben Kolonialismus, der die Ressourcen unseres Kontinents seit 500 Jahren kontinuierlich ausbeutet. Wenn Afrika sich klimaschonend entwickeln soll, müssen wir den Einfluss der Gaskonzerne bekämpfen.“
Privat und verschwiegen
Die Gasbranche sieht sich jedoch im Aufwind. Jährlich werden an der europäischen Gaskonferenz milliardenschwere Geschäftsdeals angebahnt. Laut Veranstaltungswebseite sollten 300 „industry leaders“ aus über 35 Ländern auf 100 „massgeschneiderten Treffen“ innerhalb von „drei Tagen des Netzwerkens“ für einen Preis von „nur“ 3’400 Euro pro Ticket zusammenkommen.
Laut der veröffentlichten Konferenzagenda sollten die Themen Flüssiggas, Energiesicherheit und Wasserstoff im Zentrum stehen. Aber die informellen Meetings seien das eigentliche Herz der Gaskonferenz, sagt Pascoe Sabido von der Brüsseler Organisation Coroporate Europe Observatory, die sich mit dem Lobbyismus innerhalb von EU-Institutionen befasst.
„Alle auf der Konferenz anwesenden Journalist*innen mussten Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben“, sagt Sabido im Telefongespräch mit das Lamm. Dies sei ihm von Veranstalterseite so mitgeteilt worden.
Sowieso werden Journalist*innen kaum zur Konferenz zugelassen. Neben dem US-Medium Bloomberg hatte im Jahr 2024 das österreichische Wochenmagazin Profil als einziges eine Akkreditierung.
Dass der journalistische Zugang zur Gaskonferenz tatsächlich strikt reglementiert ist, habe ich im Jahr 2023 selbst erfahren dürfen. Meine bereits gewährte Akkreditierung wurde mir damals nur wenige Tage vor Konferenzbeginn wieder entzogen – mit der Begründung, es hätten sich zu viele Teilnehmer*innen in letzter Sekunde angemeldet, für mich sei deshalb kein Platz mehr. Auch Interventionen des österreichischen Presseclub Concordia sowie der Schweizer Wochenzeitung WOZ, in deren Auftrag ich damals arbeitete, konnten daran nichts ändern.
Dabei ist öffentliches Interesse angebracht. Denn neben Playern der internationalen Gasbranche nehmen auch zahlreiche staatliche Akteure teil. Die Europäische Kommission etwa oder die österreichischen Wirtschafts- und Handelskammern und das Wirtschaftsministerium. Die Staaten Moldavien, Bulgarien und Rumänien schicken jeweils Vertreter*innen aus ihren Energieministerien. Die ungarischen und türkischen Aussenministerien wären ebenfalls vor Ort gewesen, hätte die Konferenz stattgefunden, genauso wie Vertreter*innen der US-amerikanischen und britischen Botschaften in Wien. Auch der ukrainische Staat hatte ein Ticket gebucht. Aus der Schweiz war die Credit Suisse angemeldet, das Unternehmen Varo Energy mit Sitz in Zug und einige weiteren Energiekonzerne, die in der Schweiz einen Unternehmenssitz haben.
Die Gaskonferenz ist kein Gipfel wie etwa ein EU-Gipfel, oder eine G7-Konferenz. Es werden keine offiziellen Beschlüsse gefällt. Die Ministerien sind auf fachlicher Ebene auf der Konferenz präsent – Techniker*innen unter sich also. Dennoch hat die Konferenz politische Brisanz, da hier über mögliche Vertragsabschlüsse geredet wird, die über Jahrzehnte hinweg Folgen für die Bevölkerungen und die Umwelt ganzer Staaten haben können.
„People’s Summit“ als öffentliches Gegengewicht
Auf dem auf mehrere Wiener Standorte verteilten „People’s Summit“ tummeln sich hingegen Vertreter*innen jener Menschen und Gemeinschaften, die vom neuen Gasrausch direkt betroffen sind. Auf Workshops und in Podiumsdiskussionen berichteten sie über die Repression von Kriegsgegner*innen in Russland, die Zerstörung ursprünglicher Wälder durch den Bau neuer Pipelines in Kanada, oder die Auswirkungen von LNG-Infrastrukturen, also Flüssiggas in Zimbabwe. Sie alle haben Geschichten zu erzählen: von staatlicher und parastaatlicher Gewalt, von Ökozid und von Krankheiten, die durch Pipelines und LNG-Terminals verursacht werden.
Österreich ist dabei kein neutraler Akteur. Das kleine Land ist vielmehr ein Zentrum des globalen fossilen Industriesystems. Das zeigt ein Beispiel aus Texas in den USA. Gemeinsam mit anderen Mitstreiterinnen aus der texanischen Ortschaft Corpus Christi ist die Aktivistin Chloe Torres nach Wien gereist. Die am Golf von Mexiko gelegene Küstenstadt ist ein Zentrum für die Verflüssigung von Erdgas und dessen anschliessende Verschiffung nach Europa. Diese Industrie erlebt im Windschatten des Kriegs in der Ukraine einen Boom.
Das Lamm trifft die Delegation rund um Chloe Torres in einer der seltenen Atempausen der Gegenkonferenz. „Das Gas, das aus den USA nach Europa gelangt, ist gefrackt“, erzählt Torres, die schon seit Jahren gegen die Gasbranche kämpft. Fracking ist eine höchst umstrittene Technologie, mit der Schiefergas aus der Erde geholt wird, indem man mit hohem Druck Wasser, dem zuvor chemische Substanzen beigemengt wurden, in dichtes, gasreiches Gestein pumpt. Die genaue Zusammensetzung dieser Substanzen ist unbekannt, die Methode gilt jedoch als stark krebserregend und kann das Trinkwasser vergiften.
Konzerne wie die Österreichische Mineralölverwaltung AG spielen mit dem Gedanken, Fracking etwa im gasreichen ost-österreichischen Weinviertel anzuwenden. Wegen lokalen Widerstands musste der Konzern die Idee jedoch vorerst sein lassen. Praktischer scheint es, gefracktes Gas aus Weltgegenden, in denen man die Belange der lokale Bevölkerung weniger berücksichtigt, nach Österreich zu verschiffen.
Und hier kommt die Firma ins Spiel, die im texanischen Corpus Christi in Sachen Flüssiggas das Sagen hat: Cheniere Energy. Auch dieses Unternehmen hatte sich für die European Gas Conference in Wien angemeldet. „Cheniere macht die Menschen in Corpus Christi krank“, sagt Chloe Torres: „Die Kinder kriegen Asthma, Krebserkrankungen verbreiten sich. Nachts wird der Himmel taghell erleuchtet, weil Cheniere in ihren Anlagen ohne Pause Gas abfackelt.“
Ende November 2023 unterzeichnete die österreichische Firma OMV einen Liefervertrag mit Cheniere. Ab 2029 sollen zwölf LNG-Frachtschiffe pro Jahr bis zu 850’000 Tonnen Flüssigerdgas von Corpus Christi und der ebenso im Bundesstaat Texas gelegenen Stadt Sabine Pass nach Rotterdam liefern. Von da wird es in OMV-Anlagen zurück in den flüssigen Zustand versetzt.
„Cheniere plant, bis im Jahr 2047 bis zu 20 Gasverflüssigungsanlagen und andere Infrastrukturen wie Tanklager und Pipelines am Golf von Mexiko zu errichten“, sagt Chloe Torres.
In Gasverflüssigungsanlagen wird Erdgas auf eine Temperatur von –160 Grad Celsius abgekühlt, und das Volumen dadurch verringert. Damit wird es für die speziellen Flüssiggas-Tankschiffe transportierbar.
Bei dem Verfahren werden CO2 und andere giftige Emissionen freigesetzt, die zu Haut- und Atemwegserkrankungen führen können. Torres sagt dazu: „Flüssiggas tötet die Menschen in unseren hauptsächlich von Schwarzen, indigenen und Latino-Communities bewohnten Nachbarschaften. Es tötet ausserdem den gesamten Planeten. Zumindest letzteres sollte Euch nicht egal sein, denn Flüssiggas tötet auch euch.“
Protest und Polizeigewalt
Stossend ist auch, dass auf dem amerikanischen Kontinent gefördertes Gas oft auf dem Territorium indigener Bevölkerungen gewonnen wird, die dem nie zugestimmt haben. So berichtet am „People’s Summit“ Chief Na’Moks von der Nation der Wet’suwet’en über die Polizeigewalt, der sie im „sogenannten Kanada“ ausgesetzt sind.
Na’Moks spricht deshalb vom „sogenannten“ Kanada, weil die Wet’suwet’en der von ihnen als „siedlerkolonial“ bezeichneten Autorität des kanadischen Staates auf ihrem Territorium nie vertraglich zugestimmt haben. Durch ihr Gebiet wird eine neue Pipeline für den Flüssiggasexport gebaut. „Ich habe in den letzten Jahren oft in die Gewehrläufe der Polizei geschaut, die die Zerstörung unseres Landes und unserer Natur für den kanadischen Staat und die grossen Konzerne durchsetzt,“ erzählt er.
Chief Na’Moks und Chloe Torres hätten deshalb gerne die für den 27. März 2024 angesetzte Demonstration gegen die Wiener Gaskonferenz genutzt, um den Konzernchefs von OMV und Cheniere ihre Meinung zu sagen. Dass die Veranstalter der Gaskonferenz ihre kurzfristige Absage nun ausgerechnet mit ihrer Angst vor Protesten und mit der Sicherheit der Konferenzteilnehmer*innen begründen, hält Torres für eine grausame Ironie: „Sie geben vor, sich um das Wohlergehen ihrer Gäste zu sorgen, während sie permanent das Wohlergehen der Menschen in Corpus Christi gefährden“, sagt sie.
Letztes Jahr gab es erstmals Proteste gegen die European Gas Conference, die bereits seit 2017 stattfindet. Die österreichische Wirtschaftskammer spielte deren Bedeutung damals herunter, es handle sich nur um eine kleine Konferenz. Dem stand die Reaktion der österreichischen Polizei gegenüber: Ein Versuch, den Veranstaltungsort zu blockieren, wurde brachial mit Pfefferspray und Schlagstockeinsatz verhindert.
Eine anschliessende abendliche Demonstration mit 5’000 Teilnehmenden, die am Marriott-Hotel, dem Veranstaltungsort der Gaskonferenz, vorbeiführte, sah sich mit einer Übermacht von Polizist*innen, Absperrungen, beiden Wiener Wasserwerfern, Hundestaffeln, Helikoptern und Drohnen konfrontiert.
Über ein Jahr hinweg ermittelte die Staatsanwaltschaft Wien anschliessend gegen 165 Personen wegen Verdacht auf „schwere gemeinschaftliche Gewalt“. Im Februar 2024 stellten sie die Ermittlungen ein.
„Dass es zu einer Verschiebung dieser Veranstaltung gekommen ist, war keine Entscheidung der Wiener Polizei“, heisst es dort auf Nachfrage. Wie klassische Schulhofbullys halten es die CEOs der Gaslobby scheinbar nicht aus, wenn ihnen der Wind der Opposition direkter ins Gesicht bläst.
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