„Ich übernachte an Silvester jeweils mit den Hunden im Badezimmer, weil es da keine Fenster hat“, erzählt mir die Hundetrainerin Stefanie Ammann. Das Komitee, zu dem sie gehört, hat an diesem nasskalten Novembervormittag die Initiative „für eine Einschränkung von Feuerwerk“ beim Bundeshaus eingereicht. Lautes Feuerwerk soll in Zukunft bewilligungspflichtig werden, so dass effektiv nur noch grössere Feuerwerke „von überregionaler Bedeutung“ erlaubt wären – etwa das Silvesterfeuerwerk auf dem Zürisee. Mit kleinem, privatem Geböller wäre dann Schluss.
Der Lärm ist nicht das einzige Problem. „Meine Emmi ist komplett gehörlos, aber schon nur das Blitzen und die Gerüche von Feuerwerk versetzen sie in Panik.“ Mit dem Alter werde es immer schlimmer. Auch bei Gewitter schnuppere die Hündin schon ganz nervös in der Luft, sagt Ammann.
Schaut einmal zum Fenster raus, wahrscheinlich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehrheit der Bevölkerung. Doch in der Schweizer Medienlandschaft werden sie meist ignoriert. „Animal Politique“ gibt Gegensteuer. Nico Müller schreibt über Machtsysteme, Medien, Forschung und Lobbyismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unterdrückung hängt oft mit der Unterdrückung von Menschen zusammen. „Animal Politique“, geschrieben von Tierethiker Nico Müller macht das sichtbar.
Hunde und Katzen gehören dabei noch zu den stärker behüteten Tieren. In Schweizer Produktionsanlagen gibt es zehn Millionen Hühner – für sie gibt es keine Eins-zu-eins-Betreuung. Auch nicht für Schweine und Rinder, die ebenfalls in Panik geraten können. Ein Kalb im Solothurnischen Lohn-Ammansegg wurde an Silvester 2022 bei Feuerwerk totgetrampelt. Bei Wildtieren kommt es laut einem Bericht des Bundes zu „Ausweichbewegungen bis zu Aborten, panische Flucht mit gelegentlichen Todesfolgen und die Vertreibung ganzer Populationen“. Es geht der Initiative also nicht um ein Luxusproblem, sondern um Leben und Tod.
Entsprechend erleichtert zeigt sich das Initiativkomitee, dass die nötigen Unterschriften zusammengekommen sind. Dank einem starken Schlussspurt konnten die Initiant*innen über 137’000 gültige Unterschriften sammeln. Die Stimmung auf der Bundesterrasse erinnert an diesem Morgen an eine Abschlussfeier.
Doch der schwerste Teil der Arbeit steht noch bevor.
Traditionen haben keinen Zweck
Feuerwerk wird bereits seit Jahren hitzig diskutiert. Neulich zum Beispiel im Kontext des „Zürifäschts“, dessen Feuerwerk der Gemeinderat aus Umweltgründen möglichst schnell abschaffen möchte. Auch bei anderen Festen, etwa dem Kreuzlinger Seenachtfest, wird die Frage gestellt, ob Feuerwerk noch „zeitgemäss“ sei. Die Auswirkungen auf Tiere sind dabei eher eine Randnotiz, es geht hauptsächlich um Lärm, Brandgefahr, Feinstaub und sonstige Umweltverschmutzung.
Doch Feuerwerk ist ein gutes Geschäft. Rund 40 Millionen Jahresumsatz soll die Branche gemäss Schätzungen in der Schweiz machen – nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass es grösstenteils an zwei Tagen im Jahr zum Einsatz kommt. Zudem ist Feuerwerk ein Teil des Unterhaltungspakets bei grossen Veranstaltungen, mit denen ebenfalls Geld verdient wird.
Diese Branchen verteidigen Feuerwerk vor allem mit dem Argument, es sei hierzulande nun mal Tradition. „Feuerwerk ist ein wichtiges Kulturgut in der Schweiz, und Kultur muss gepflegt werden“ meinte zum Beispiel ein Grossveranstalter zum Schweizer Fernsehen. „Feuerwerke gibt es seit mehr als tausend Jahren und faszinieren immer noch viele Menschen“ äusserte sich ein Verkäufer.
Die Initiant*innen halten dagegen: „Feuerwerksknallerei stammt aus dem frühen Mittelalter und ist unzeitgemäss, ja, veraltet. Laser-Shows und Drohnen als moderne, zeitgemässe Lichtkunstformen und Ausdrucksmittel des Feierns könnten längst die schädliche Pyrotechnik ablösen.“
Diese techno-optimistische Ersetzungslogik ist typisch für uns Tierschützer*innen. Wir sind auch Leute, die bereitwillig Erbsenprotein statt Fleisch essen. Das setzt allerdings ein starkes Zweck-Mittel-Denken voraus. Nur wenn ich weiss, wozu ich eigentlich Fleisch esse oder Feuerwerk zünde, kann ich eine tierfreundlichere Alternative suchen, die denselben Zweck erfüllt.
Traditionen widerstreben dieser Ersetzungslogik, weil sie keinen besonderen Zweck haben. Traditionen sind, was „halt einfach dazugehört“, was man „halt einfach macht“. Man weiss nicht, wozu. Wozu kommt der Samichlaus zu den Kindern? Ohne besonderen Grund, er macht es halt einfach. Das macht sogar den besonderen Reiz von Traditionen aus: Sie sind organisch gewachsene Kultur, die nicht durch die Vernunft zurechtgestutzt wurde. Genau deswegen sind sie sinnstiftend und verbindend.
Wer eine Tradition wirklich schätzt, wird sich deshalb nicht über den Vorschlag freuen, man könne sie doch einfach durch neue Technologie ersetzen. Wenn wir Drohnen statt Feuerwerk einsetzen, sagen wir damit auch, dass es bei dem betreffenden Fest um ein unterhaltsames Lichtspektakel geht. Was zuvor unhinterfragt war und „bei uns einfach dazugehörte“, wird so ein Mittel zu einem Zweck. Das Traditionelle an der Tradition geht damit kaputt.
Leuten wie mir ist das egal, aber vielen anderen nicht. Für sie hat die Initiative aber noch ein anderes Argument parat.
Die wahre Geschichte des Feuerwerks
„Feuerwerk zum Silvester hat in der Schweiz keine Tradition“ schreibt das Komitee und fügt hinzu: „Tradition in diesem Sinne hat das Feuerwerk auch am 1. August keine, vielmehr sind es die Lampions, die Fackelzüge und das 1. August-Feuer oder die Höhenfeuer.“
Tatsächlich war die herkömmliche Bundesfeier bis vor zwei Generationen böllerfrei. Feuerwerk ist eine erfundene Tradition, aber das ist jede andere Tradition auch. Den 1. August gibt es als Nationalfeiertag zum Beispiel nicht seit 1291, sondern erst seit 1891. Ein jährliches Fest ist der Tag erst seit 1899.
Die wahre Geschichte des Feuerwerks in der Schweiz ist sogar relativ bitter. Im 19. Jahrhundert aus Frankreich importiert, wuchs im Berner Oberland eine kleine Feuerwerksindustrie heran, die vor allem Attraktionen für ausländische Kurgäste herstellte. Ohne Sicherheitsstandards verloren in der neuen Industrie unzählige Arbeiter*innen ihr Leben. Und als während den beiden Weltkriegen die Nachfrage sank, stellte die grösste Schweizer Feuerwerksfirma stattdessen militärische Signalpatronen her.
Die gemeinsame Geschichte von Feuerwerk mit Gewalt und Tod wird heute kaum noch thematisiert. Tradition und Kulturerbe sind eben nicht dasselbe wie Geschichte. Sie beruhen auf einer bestimmten, durch dominante Interessen geprägten Auswahl, was an der Vergangenheit denkwürdig und erhaltenswert ist.
Die jährliche Bundesfeier wurde 1899 vor allem eingeführt, damit Auslandschweizer*innen in Kolonialstaaten etwas zu feiern hatten, so wie ihre französischen und deutschen Mitbesetzer*innen. Zudem ging es darum, dem kurz zuvor eingeführten Tag der Arbeit am 1. Mai ein patriotisches Gegenstück zu geben.
Traditionen kann man also ruckzuck erfinden. Zwanzig Jahre später haben die ersten Erwachsenen schon nostalgische Kindheitserinnerungen an sie und finden, sie „gehören halt einfach dazu“. Gegen solche starken Gefühle kommt man mit Vernunft nur schwer an.
Nostalgie neu interpretieren
Die Fondation Franz Weber, die auch die Feuerwerksinitiative unterstützt, hat den Kampf zwischen Tierschutz und Tradition schon einmal gewonnen. 2019 wurde in Basel über das sogenannte „Ozeanium“ abgestimmt – ein Meeresfischaquarium, das der Zoo für rund 100 Millionen auf öffentlichem Grund bauen wollte. Die auszustellenden Tropenfische hätte man zum Teil wild fangen und einfliegen lassen wollen. Ohne Garantie, dass die Fische den Transport überleben.
Die Nein-Kampagne gegen das „Ozeanium“ hatte auffällig ähnliche Argumente wie die Feuerwerksinitiative. Auch sie setzte auf Fakten über Schäden für Tiere und Umwelt und schlug vor, das geplante Aquarium durch ein virtuelles Ausstellungskonzept zu ersetzen.
Der Zoo positionierte sich hingegen als Traditions- und Nostalgieinstitution. Er sprach von der „Faszination“, die er besonders bei Kindern wecken wolle, und dass er auf die „Zuneigung“ der Basler*innen hoffe. Für viele waren das Triggerworte für rosagefärbte Erinnerungen. Ich erinnere mich noch gut an Stimmen aus dem Publikum, die bei öffentlichen Podien in breitestem Baslerdeutsch schwärmten: „Scho syt i Kind by, bini jeeede Daaag fünfezwanzig Stund in Zolli und ha de Flamingo Läggrly gfuetteret.“
So überzeichnet war die Wirklichkeit natürlich nicht. Aber die Diskussion war durchsetzt mit Kindheitserinnerungen an „unseren Zolli“. Wissenschaftliche Argumente über die Schäden des geplanten Aquariums für Tiere und Umwelt wurden wie selbstverständlich verdrängt. Die Tiere „gehören einfach dazu“ und sie durch Technologie ersetzen zu wollen, war ein Affront gegen die Traditionsinstitution Zoo.
Die Nein-Kampagne gegen das „Ozeanium“ reagierte clever und drehte den Spiess um: Genau aus Liebe zum Basler Zoo soll man ihn davor schützen, sich mit dem teuren Grossprojekt zu übernehmen und sich zu verändern. Die Message lautete: „Du bist gut, so wie du bist.“ Man hinterfragte die Traditions- und Nostalgienarrative des Zoos also nicht, sondern interpretierte sie neu. Und tatsächlich wurde der Zoo von den treuherzigen Basler*innen mit 54,6 Prozent Nein-Stimmen vor seinem eigenen Unglück bewahrt.
Mir als Tierrechtler war diese zoofreundliche Rhetorik zuwider, ich hätte mir mehr Grundsatzkritik gewünscht. Aber ich bin überzeugt, dass wir allein mit meinen Argumenten die Abstimmung verloren hätten. Tradition und Nostalgie sind starke Mechanismen, gegen die vernünftige Argumente nur schwer ankommen.
Um privates Feuerwerk erfolgreich abzuschaffen, wird man auch den 1. August und Silvester neu interpretieren und alte Formen wiederentdecken müssen, die zufällig tierfreundlicher sind als Böller. Mir wird jetzt schon schlecht, wenn ich mir vorstelle, wie von patriotischen Höhenfeuern und Lampions „wie damals“ geschwärmt wird. Aber da müssen Leute wie ich über ihren Schatten springen, wenn sie Abstimmungen gewinnen wollen.
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