Die hundert grössten Emittent:innen von Klimagasen in der Schweiz zahlen keine CO2-Abgaben wie die meisten anderen Unternehmen – sie begleichen ihre CO2-Schulden im Rahmen des Emissionshandelssystems (EHS). Wer nun denkt, dass sie so mehr zum Klimaschutz beitragen, liegt falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Anstatt pro Emissionstonne 120 Franken CO2-Abgabe zu bezahlen, müssen diese Firmen lediglich CO2-Zertifikate abgeben. Und diese erhalten sie überwiegend vom Staat, und zwar umsonst.
Zu den EHS-Firmen gehören zum Beispiel Hoffmann-La Roche, Perlen Papier oder die beiden Stahlkonzerne Steeltec und Stahl Gerlafingen. Auf den Start der neuen Handelsperiode kamen 2021 auch noch weitere bekannte Namen hinzu. Die Milchverarbeiterin Emmi oder auch das Holzunternehmen Swiss Krono haben 2021 freiwillig ins EHS-System gewechselt.
Das Zertifikat-Geschäft
Für die ausgestossenen Tonnen Klimagase müssen die EHS-Firmen Zertifikate abgeben. Solche, die sie vom Bund umsonst bekommen, oder solche, die sie auf dem CO2-Markt einkaufen. Laut dem nationalen Emissionshandelsregister erhielten alle EHS-Firmen zusammen in der Handelsperiode 2013 bis 2020 CO2-Zertifikate für den Ausstoss von 38 Millionen Tonnen Klimagase vom Bund geschenkt. Zertifikate abliefern mussten sie dem Bund nur geringfügig mehr, nämlich für 39 Millionen Tonnen. Hätten die Firmen – anstatt die Verschmutzungsrechte für 38 Millionen Tonnen geschenkt zu erhalten – die heute geltende CO2-Abgabe von 120 Franken pro Tonne bezahlen müssen, wären das pro Jahr 570 Millionen Franken [1].
Wie kann es also sein, dass die EHS-Konzerne so glimpflich davonkommen? Die Anzahl der Gratiszertifikate, die das Bundesamt für Umwelt (BAFU) den einzelnen EHS-Konzernen überweist, hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab. Erstens: Wie gut der Konzern bezüglich Emissionen im Vergleich mit dem europäischen Durchschnitt abschneidet. Und zweitens: Wie hoch die Gefahr ist, dass der Konzern bei zu hoher CO2-Abgabelast seine Produktion und die damit verbundenen Emissionen ins Ausland verlegt. Konzerne, bei denen diese Gefahr besteht, fallen in die Kategorie „Carbon-Leakage-gefährdet“.
Für die Einschätzung dafür, ob ein Unternehmen „Carbon-Leakage-gefährdet“ ist oder nicht, bedient sich die Schweiz einer Tabelle aus der EU-Gesetzgebung. In dieser Tabelle sind Sektoren aufgelistet, bei denen davon ausgegangen wird, dass ein Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht.
Laut BAFU fielen von 2013 bis 2020 von den 51 EHS-Firmen 35 in die Kategorie „Carbon-Leakage-gefährdet“ und erhielten deswegen deutlich mehr Zertifikate als die anderen Firmen im EHS. 23 Anlagen erhielten sogar mehr Zertifikate, als sie in dieser Zeit zur Begleichung der CO2-Rechnung abgeben mussten [2]. Darunter einige bekannte Namen wie Hoffmann-La Roche, Perlen Papier, die Model AG oder Holcim. Der Betonriese Holcim sitz deshalb laut einer SRF-Recherche gar auf einem ganzen Haufen ungenutzter Emissionszertifikate.
Keine Anreize für Reduktionen
Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) prüfte 2017 die Lenkungswirkung des EHS und kommt zu einem ernüchternden Fazit: „Generell kann gefolgert werden, dass das Schweizer EHS in der Verpflichtungsperiode 2013 – 2020 für die teilnehmenden Firmen praktisch keine direkten Anreize schafft, um den CO2-Ausstoss zu reduzieren.“
Daran wird auch der in letzter Zeit stark angestiegene Preis für CO2-Zertifikate nicht viel ändern. Denn die meisten Schweizer EHS-Firmen müssen ja, wenn überhaupt, nur einen kleinen Teil der Zertifikate selber kaufen.
Vielmehr werden die Schweizer EHS-Firmen paradoxerweise sogar noch von der Preissteigerung profitieren. Denn wenn sie wollen, können sie ihre überschüssigen Zertifikate weiterverkaufen. Und mit dem steigenden CO2-Preis erhöht sich der Wert der Zertifikate, die sie in der Vergangenheit erhalten, nicht gebraucht und nun auf Reserve haben.
Auch das neuste CO2-Gesetz, das gerade in der Vernehmlassung ist, wird und kann nicht viel daran ändern, dass das EHS ein zahnloser Tiger ist. Warum? Das Schweizer EHS ist seit 2020 dem europäischen EHS angeschlossen. Die Impulse für die Weiterentwicklung des Emissionshandels kommen deshalb vorwiegend aus Brüssel.
...ein neuer Entwurf vor. Er ist derzeit in der Vernehmlassung. Bis am 4. April 2022 können Kantone, Gemeinden und Städte, die politischen Parteien, aber auch Wirtschaftsverbände oder Umweltschutzorganisationen den neusten Entwurf kommentieren und Änderungsvorschläge anbringen. Nach der Vernehmlassung muss das Gesetz noch durch das Parlament – es kann sich also noch viel ändern.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Es gibt keine Flugticketabgabe, der Finanzplatz wird weiterhin nicht reguliert und die CO2-Abgabe auf 120 Franken pro Tonne Klimagase fixiert. Für Industrie und Gewerbe gibt es zwar kleine Verschärfungen. Aber genauso wie das im Sommer abgelehnte Gesetz verlangt auch dieser Entwurf den Firmen mit den grössten CO2-Emissionen weniger ab als den KMU und Privathaushalten.
Die privaten Haushalte werden nicht nur mehr zahlen, sondern auch weniger zurückerhalten, denn der Bundesrat sieht vor, bei der CO2-Abgabe die Teilzweckbindung zu erhöhen. Gleichzeitig kommen die Unternehmen gut weg: So soll der Verkehrssektor weiterhin von der CO2-Abgabe verschont bleiben. Zudem sollen zukünftig nicht mehr nur Unternehmen bestimmter Wirtschaftssektoren, sondern alle Firmen die Möglichkeit haben, Zielvereinbarungen abzuschliessen – und sich so von der CO2-Abgabe befreien zu lassen.
Andererseits sollen die grössten Emittent:innen, also die Firmen, die ihre CO2-Schuld im Emissionshandelssystem begleichen, weiterhin bei der Rückverteilung der CO2-Abgabe profitieren, ohne dass sie selber etwas in den Abgabetopf einzahlen. Immerhin möchte der neuste Entwurf die Rückverteilung der CO2-Abgabe an andere abgabebefreite Unternehmen abschaffen.
Eine detaillierte Analyse des neusten Gesetzesvorschlags findet ihr hier.
Nichts zahlen, trotzdem Geld zurück
Eine Regelung für die EHS-Firmen wird aber durchaus über das Schweizer CO2-Gesetz gemacht. Und zwar die Rückverteilung der CO2-Abgabe. Abgesehen von den EHS-Firmen zahlen die meisten Unternehmen und alle Privathaushalte auf fossile Brennstoffe wie Heizöl oder Erdgas die erwähnte CO2-Abgabe. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Steuer, sondern um eine Lenkungsabgabe. Der Staat sackt das Geld nicht einfach ein, sondern verteilt es grösstenteils gleichmässig an Bevölkerung und Wirtschaft zurück.
Die Idee dahinter: Wer heute schon klimafreundlich lebt oder wirtschaftet, profitiert unter dem Strich, da man dann quasi mehr zurückerhält, als man für das Verbrennen von Erdgas und Erdöl in Form von CO2-Abgaben bezahlen musste. Wer dagegen viele fossile Brennstoffe verbraucht, muss entsprechend auch mehr CO2-Abgaben bezahlen und macht unter dem Strich Minus.
Die Rechnung scheint also aufzugehen, ausser eben bei den EHS-Firmen: Bei denen kommt in der CO2-Abgabebilanz immer ein Plus heraus. Denn sie dürfen bei der Rückverteilung der CO2-Abgabe die hohle Hand machen, ohne vorher etwas eingezahlt zu haben.
Um wie viel Geld es bei der Rückverteilung der CO2-Abgabe an die EHS-Firmen konkret geht, kann das BAFU auf Anfrage nicht sagen, da die Überweisungen an die EHS-Firmen nicht separat erfasst werden. Die EFK schreibt jedoch, dass die Beträge „teilweise bedeutend“ seien und in einigen Fällen „die Kosten für den Kauf von Emissionsrechten bis 2020 zu 100 Prozent“ gedeckt hätten. Bereits 2017 kam die EFK deshalb zu folgendem Schluss: „Die EFK empfiehlt dem BAFU eine Gesetzesänderung vorzuschlagen, die die Rückverteilung an abgabebefreite Firmen künftig ausschliesst.“
Wie bereits in der letzten CO2-Vorlage, die im Sommer abgelehnt wurde, setzt aber auch der neue Vorschlag für ein CO2-Gesetz die Empfehlung der EFK nicht um. Die offizielle Begründung des BAFU: „EHS-Firmen sind zur Teilnahme verpflichtet und haben keine Wahl. Deswegen will das Parlament, dass sie eine Rückverteilung erhalten.“
Ein Parlamentarier, der das so sieht, ist FDP-Nationalrat Matthias Jauslin. Bei den Diskussionen rund um den letzten Entwurf des CO2-Gesetzes habe auch er der Rückverteilung an die EHS-Firmen zugestimmt: „Denn was man auch sehen muss: Die Firmen, um die es hier geht, stellen viele Arbeitsplätze.“ Zudem könne es in künftigen Diskussionen von Vorteil sein, eine gewisse Verhandlungsmasse zu haben.
Auch in der Mitte-Fraktion findet man dieses Vorgehen richtig, sagt Nationalrat Stefan Müller-Altermatt auf Anfrage: „Das EHS hat mit der CO2-Abgabe nicht viel zu tun. Gewisse Firmen werden aber dazu gezwungen, am EHS teilzunehmen. Das heisst, sie müssen sich Emissionsrechte erwerben, um eine gewisse Menge CO2 auszustossen.“ Entsprechend stehe ihnen im CO2-Abgabesystem die Rückverteilung genauso zu wie allen anderen Firmen, so Müller-Altermatt.
Bei den Grünliberalen ist man skeptischer. GLP-Nationalrat Martin Bäumle war gegen die Rückverteilung an die EHS-Firmen, trug aber den Kompromiss am Ende mit.
Bei den Grünen sei man dagegen, dass an abgabebefreite Unternehmen rückverteilt werde, sagt Nationalrat Bastien Girod. Ähnlich klingt es bei der SP. Nationalrätin Martina Munz meint: „Es wäre richtig, die Firmen, welche am Emissionshandelssystem teilnehmen, von der Rückverteilung der CO2-Abgabe auszunehmen. Leider wurde diese Chance im neuen CO2-Gesetz verpasst.“
Ablasshandel geht vorerst weiter
Trotzdem ist Munz optimistisch, dass Firmen mit einem hohen Ausstoss bald einen angemessenen Preis für ihre Emissionen bezahlen müssen – Neuerungen im EU-Regelwerk sei Dank: „Die Kosten für die Zertifikate werden deshalb in nächster Zeit ansteigen. Die Zeiten des Ablasshandels sind vorbei.“
Diese Einschätzung wirkt jedoch wie reines Wunschdenken. Denn obwohl die CO2-Preise in den letzten Monaten tatsächlich stark angestiegen sind, müssen in der Schweiz die wenigsten EHS-Firmen viele Zertifikate zusätzlich selber kaufen. Viele haben sogar überschüssige Zertifikate. Absurderweise ist die Preiserhöhung für diese Firmen dann sogar mehr Geldsegen als CO2-Kostenfluch.
Diese Absurdität wäre wohl erst dann entschärft, wenn die Firmen nicht mehr als „Carbon-Leakage-gefährdet“ eingestuft würden. Die EU plant tatsächlich Neuerungen in diese Richtung. Diese treten jedoch frühestens 2026 in Kraft. Zudem sieht das Regelwerk für „Carbon-Leakage-gefährdete“ EHS-Firmen eine Übergangsfrist von zehn Jahren vor. Für den Grossteil der Schweizer EHS-Firmen würden die neuen EU-Regeln also frühestens ab 2036 greifen. So schnell, wie sich das Martina Munz wünscht, werden die Zeiten des Ablasshandels wohl doch nicht vorbei sein.
Dieser Beitrag erscheint zeitgleich bei der WOZ.
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[1] Gratis zugeteilte Zertifikate für 38’188’109 Tonnen Klimagase in acht Jahren sind im Schnitt 4’773’513 geschenkte Tonnen pro Jahr. Müsste man dafür 120 Franken CO2-Abgabe bezahlen, wären das 572’821’635 Franken pro Jahr.
[2] In der Handelsperiode 2013 bis 2020 nahmen 51 Firmen mit 56 Anlagen am EHS teil.