Lockdown, Inflation, wirtschaftlicher Zerfall, Massenüberwachung und „Cancel Culture“ führen zu gesellschaftlichen Turbulenzen und Unruhen. So malen sich die Veranstalter:innen der Konferenz Liberty in Our Lifetime die Zukunft aus. Organisiert wurde diese Mitte Oktober von einer Stiftung mit Sitz in Zürich, die gegen das drohende Unheil auch gleich eine Lösung zur Hand hat: Dem „Totalitarismus“ entrinnt man durch einen unvermittelten Sprung in die Freiheit autonomer Privatstädte.
Diese Vision präsentierten Vertreter:innen der Stiftung Free Private Cities Foundation an der Konferenz im Thurgau oder genauer: im Regierungssitz des Staates „Avalon“, einem Privatreich des Industriellen Daniel Model in der Gemeinde Müllheim. Im klassizistisch anmutenden dreistöckigen Natursteinbau mit Kuppeldach trat auch Stiftungsrat Titus Gebel, der Erfinder des Konzepts freier privater Städte, auf. Der Unternehmer und Investor mit Wohnsitz in Monaco warb für seine Mission: „Neue Produkte in den ‚Markt des Zusammenlebens‘ einzuführen“, um „Enteignungen“ durch Steuern und Sozialabgaben zu mindern.
Gebels Konzept ist schlicht. Private bieten auf einem begrenzten Gebiet die „Dienstleistungen“ des Staates. Auf selbstgeschaffener rechtlicher Grundlage werden von einer Firma Sicherheits- und Rettungskräfte sowie Gerichte betrieben. Die Bewohner:innen der privaten Städte entrichten dafür eine Gebühr. Bei Streitigkeiten zwischen „Staat“ und „Bürgern“ soll ein internationales Schiedsgericht entscheiden. Die Vollstreckung der Urteile will Gebel dem Markt überlassen: „Ignoriert der Betreiber die Schiedssprüche oder missbraucht er seine Macht auf andere Weise, wandern seine Kunden ab, und er geht in die Insolvenz.“ Die Privatpolizei soll sich auflösen, wenn sie nicht mehr bezahlt werden kann.
Auf dem Konferenzareal in „Avalon“ gilt derweil die Schweizer Rechtsordnung. Zuständig ist die Thurgauer Polizei. Man könnte die Privatstaaten als obskure Fantasie abtun, gäbe es nicht bitterarme Weltregionen, die auf Investitionen und finanzielle Einnahmen dringend angewiesen sind und sich von den privaten Bollwerken der Steuerflucht ein nationales Geschäftsmodell versprechen.
Gesetzesrevision erlaubt marktradikale Utopie
Das ist der Fall in Honduras. Im zentralamerikanischen Land, in dem mehr als zwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, wurde 2013 die Verfassung einschneidend geändert. Der Staat kann seither „Zonen für Beschäftigung und Wirtschaftliche Entwicklung“ (ZEDE) mit eigenen Gesetzen und Gerichten zulassen, die von privaten Firmen verwaltet werden. Die Regierung will mit dieser radikalisierten Variante der Sonderwirtschaftszonen, wie sie mit Chinas gigantischem Industriegürtel bei Hongkong berüchtigt geworden sind, Investor:innen und Unternehmen anlocken.
Das sorgte für Freude an der Konferenz im thurgauischen „Avalon“. Dort stellte US-Tech-Unternehmer Joel Bomgar per Videokonferenz eines der fünf Projekte in Honduras vor: Próspera. Bomgar wurde kürzlich zum Präsidenten der privaten Stadt ernannt, die auf der Karibikinsel Roatán vor der Küste Honduras entsteht. Von der Insel, die etwa die Grösse von Hongkong Island hat, wurden bislang rund 230’000 Quadratmeter in Besitz genommen. Das entspricht etwa der Fläche von 32 Fussballfeldern.
Noch kann man in Próspera bloss einen digitalen Wohnsitz erstehen. Kostenpunkt: 130 US-Dollar pro Jahr inklusive Adresse und der Möglichkeit, über die Privatstadt Handel zu treiben und Firmen zu gründen. Im Oktober 2022 soll aber das erste 14-stöckige Hochhaus mit 85 Wohnungen, Bürofläche und Handelsplatz fertigstellt sein. Die günstigsten Wohneinheiten sollen dann ab 150’000 Dollar zu kaufen sein, der physische Wohnsitz für Ausländer kostet zudem 1’400 Dollar Gebühren im Jahr. Titus Gebel rechnet in einem „offenen Brief an alle Milliardäre“ auf der Website seiner Stiftung mit 300 Millionen Dollar, um die Stadt zu etablieren. Wer dereinst dort wohnt, soll nicht nur Steuern sparen, sondern auch mitbestimmen können: Die Stimmanteile werden im libertären Karibikparadies nach Umfang des Eigentums verteilt. Wer mehr besitzt, soll auch mehr zu sagen haben.
Die Regierungen der hochentwickelten Länder werden eine solche private Oase der Steuerflucht in diesen unsteten Zeiten kaum zulassen. Aktuelle Debatten zumindest weisen in eine andere Richtung. Das Geschäftsmodell von Próspera umfasst aber einen weiteren Aspekt: Derzeit arbeiten dort laut Bomgar neben den lokalen Bauarbeiter:innen und Gärtner:innen rund 30 Menschen in Verkauf, Finanzanalyse, Human Resources und Softwareentwicklung für internationale Unternehmen. Insgesamt sollen auf Roatán 10’000 Offshore-Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Privatstadt wirbt mit besonders schlechtem Arbeitsschutz, also freier Hand in Sachen flexibler und prekärer Arbeitsverhältnisse.
Die theoretische Basis: Superliberalismus
Auf der Webseite des Projekts heisst es vollmundig: „Próspera integriert die Menschen der benachbarten Gemeinde, indem es die Einheimischen in der Beschaffung, dem Bau und der Verwaltung der Häuser schult und zu Bildung, sanitären Einrichtungen und fliessendem Wasser beiträgt.“ Die Realität sieht anders aus. Laut einer Journalistin der NZZ am Sonntag, die vor Ort war, bekamen jene Einheimischen eine Rechnung für die Wasserversorgung präsentiert. Sollten sie nicht bezahlen, würde diese gekappt, drohte demnach der Geschäftsführer der Privatstadt. Viele der rund 30’000 Menschen auf Roatán gehören der indigenen Gemeinschaft der Garifuna an und leben von Fischfang oder Gelegenheitsarbeiten. Sie fürchten sich vor der Vertreibung und haben sich zum Widerstand formiert. Das Gesetz der Privatstadt, die sich weiter ausbreiten will, erlaubt eigenmächtige Enteignungen.
Eigentlich verspricht Honduras‘ Regierung Transparenz in den Sonderwirtschaftszonen: Ein Gremium namens CAMP soll die Vorgänge überwachen. Ein besonderes Gewicht im Gremium hat Juan Orlando Hernández, der Präsident von Honduras, der mehrere Vertrauensleute zu CAMP geholt hat. Sein Bruder wurde in den USA wegen Drogenhandels in grossem Stil verurteilt, laut Staatsanwaltschaft war auch der Präsident darin involviert. Die honduranische Juristin Andrea Nuila mutmasste in einem Interview mit dem Lateinamerika-Magazin Ila, dass hinter den ZEDEs Absichten der Geldwäsche und Interessen der Drogenmafia stecken. Mittlerweile haben sich mehrere namhafte Partner:innen wegen Intransparenz zurückgezogen. Geblieben sind finanzstarke Investor:innen und der Consultingkonzern Ernest & Young.
Den Vorsitz von CAMP hatte Barbara Kolm inne, eine ehemalige FPÖ-Politikerin und Mitglied der Mont Pelerin Society (MPS), der historisch wichtigsten Organisation der Neoliberalen. Im 21-köpfigen Gremium sitzen sieben Mitglieder der MPS. Das zeigt die ideologische Basis des Projekts: Initiator der Mont Pelerin Society war Friedrich August von Hayek, der ebenfalls in Lateinamerika engagiert war. Der Ökonom besuchte 1977, vier Jahre nach dem blutigen Militärputsch in Chile, den dortigen Diktator Augusto Pinochet, um ihn zu unterstützen. Die Begründung: Die Freiheit des Eigentums stehe über der politischen Freiheit. Es ging den Neoliberalen nie um die Abschaffung des Staates als Ordnungsmacht, sondern darum, dass er Bedingungen schafft, in denen Eigentum und Markt besonders gut gedeihen. Eine Privatregierung mit bewaffneten Verbänden treibt diese Idee auf die Spitze.
Eine Zürcher Stiftung und ein Genfer Verein
Bekannt wurde die Zusammensetzung von CAMP durch Recherchen des Baker Street Herald. Auf der Liste findet sich auch Lars Seier Christensen, seit 2010 Einwohner des Kantons St. Gallen. Der Gründer der Saxo Bank fügt sich perfekt ins Bild: Er ist ebenfalls Mitglied der Mont Pelerin Society sowie des Ayn Rand Instituts, benannt nach einer berühmten marktradikalen Märchenerzählerin.
Weitere Spuren führen von Honduras in die Schweiz. Organisiert wurde die eingangs erwähnte Thurgauer Werbekonferenz für private Städte von der Free Private Cities Foundation mit Adresse im Zürcher Kreis 1. Stiftungsrat Titus Gebel hat massgeblich am Aufbau von Próspera mitgewirkt. Er entwickelte als Chefjurist den rechtlichen und administrativen Rahmen mit. Mittlerweile sei er nur noch Investor, heisst es in einem Newsletter der Stiftung. Auf schriftliche Fragen von das Lamm reagierte die Free Private Cities Foundation nicht, ein telefonischer Kontakt war nicht zu ermitteln.
Die Stiftung wirbt: „Für strategische Investoren ab sechsstelligen Beträgen teilen wir kostenlos unser Insider-Wissen über die Industrie, stellen Kontakte her und geben aktuelle Markteinschätzungen.“ Diese Investmentberatung gilt der Free Private Cities Foundation als „ehrenamtliches akademisches Engagement zugunsten der Entwicklung“ des Marktes freier Städte. „Extrem langfristige Investitionen“ seien schliesslich eine Form von Philanthropie, heisst es auf der Website der Stiftung weiter.
Das Anlagemodell der freien Privatstädte weiss Titus Gebel aber auch gängig kommerziell zu bewirtschaften: Als CEO der in Panama ansässigen Kapitalgesellschaft Tipolis unterstützt er Interessierte in Sachen Sonderwirtschaftszonen. Ausserdem ist er Vorsitzender der FEMOZA Management Company auf der Steueroase Isle of Man, die sich demselben Thema widmet. Eng verbunden ist diese mit dem gleichnamigen Verband für Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen, der als Verein nach Schweizer Zivilrecht in Genf angesiedelt ist. Mit der Public Relation nimmt man es dort offenbar nicht so genau, so wird etwa PostFinance als Partner angeführt. Diese erklärt aber gegenüber das Lamm, dass das Logo widerrechtlich auf der Website platziert worden sei. Man habe sich an FEMOZA gewandt.
Die Liste aktueller Partnerschaften von FEMOZA deutet auf wenig Berührungsängste mit autokratischen Regimen hin. Sie umfasst offizielle Institutionen aus Weissrussland, Iran, Kasachstan, dem Mittelmeerraum und Serbien, wo man nach eigenem Bekunden auf die Förderung von Sonderwirtschaftszonen hofft. Die Free Private Cities Foundation weist ihrerseits auf weitere Investitionsmöglichkeiten hin: Mindestens zwei Projekte in Afrika hätten bereits mit Regierungen Absichtserklärungen für autonome Zonen geschlossen. Angesichts der Gegenwehr in Honduras hat die Stiftung für künftige Gründungen einen sprachpolitischen Ratschlag auf ihrer Website parat: „Zur Vermeidung unnötigen Widerstands kann es angezeigt sein, das Projekt als ‚Sonderwirtschaftszone Plus‘, ‚Innovationszone‘, ‚Prosperity Zone‘ oder ähnlich zu bezeichnen“.
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