Julia hat über 40 Jahre lang im Sozialbereich gearbeitet, zuletzt in der Suchtprävention. Nach fast 20 Jahren im selben Betrieb wurde die Zürcherin diesen Sommer entlassen. Julia ist nun über 60 Jahre alt und geht seit Anfang August aufs RAV. Ihren echten Namen will Julia nicht nennen, genausowenig wie ihr genaues Alter – zu gross seien die Scham und der Stolz, sagt sie. In eine Situation zu geraten, in welcher das Geld früher knapp wird als bei den Freudinnen und Bekannten, ist unangenehm und nichts, worüber man gerne spricht. Erst recht nicht in der reichen Stadt Zürich, wo der Medianlohn monatlich rund 7’700 Franken brutto beträgt.
„Es gibt sehr viele von Armut betroffene Menschen in der Schweiz – auch in Zürich”, sagt Stephan Hochuli, Co-Leiter des Kafi Klick. „Armut ist jedoch ein Tabuthema. Laut einem Dokumentarfilmer, der bei uns zu diesem Thema recherchieren wollte, ist es einfacher Menschen zu finden, die offen über psychische Erkrankungen sprechen, als über Armut. Die alleinige Existenz des Kafi Klick beweist jedoch, dass Armut ein Massenphänomen ist.” In der Schweiz, sagt Hochuli, werde Armut meist als persönliches Versagen ausgelegt, als Umstand, den man selbst zu verantworten hat. Ähnlich verhalte es sich mit der Arbeitslosigkeit.
Als Julia sich nach einiger Zeit traute, ihren engsten Freundinnen von ihren Geldsorgen zu erzählen, gestand eine von ihnen, dass sie vor drei Jahren in einer ähnlichen Situation war. Julia hatte von nichts gewusst.
Ein diverses Publikum
Das Kafi Klick gibt es bereits seit 2009. Das Klick ist Teil der IG Sozialhilfe, die sich sonst für die Langzeitbegleitung armutsbetroffener Menschen einsetzt, eine Zeitung gegen Sozialabbau vertreibt und politische Interventionen initiiert.

In seiner Anfangsphase lag das Klick in der Nähe des Helvetiaplatzes, vor rund drei Jahren folgte der Umzug an die Gutstrasse im Kreis 3. Zusammen mit Fabio Weiler übernahm Stephan Hochuli damals die Leitung: „Das Kafi Klick ist genau so, wie wir es uns wünschen. Im Gegensatz zu anderen sozialen Institutionen können wir so arbeiten, wie wir es wollen, das heisst, wir können einen Betrieb führen, der sich parteiisch auf der Seite von Armutsbetroffenen positioniert.”
Das Klick ist quasi schwellenlos: Kommen kann jeder und jede. Entsprechend durchmischt ist das Publikum des Kafi Klick, das neben Computern, Druckern und Scannern auch eine kostenlose Mahlzeit am Tag serviert, kostenlose Kleider und Bücher anbietet – und natürlich als Treffpunkt dient. Die Besucherschaft besteht hauptsächlich aus Menschen, die Sozialhilfe beziehen oder beim RAV sind, viele BesucherInnen sind ArbeitsmigrantInnen. Menschen mit einem laufenden Asylverfahren machen ebenfalls einen kleinen Anteil der BesucherInnen aus. Es gibt aber auch viele Personen aus dem Quartier, die das Klick regelmässig aufsuchen. Ältere Menschen, die Hilfe mit dem Computer benötigen oder die Einsamkeit durchbrechen wollen, zählen ebenfalls zum Publikum.
Die drei oder vier jeweils anwesenden BetreuerInnen helfen den BesucherInnen auch bei der Bewältigung sprachlicher und kultureller Hürden bei Bewerbungen, der Stellensuche oder Formularen. Was vielen natürlich und intuitiv erscheint, ist es nicht immer – auch dann nicht, wenn man die Sprache spricht: „Es gibt zum Beispiel Menschen, die mit 60 zum ersten Mal arbeitslos sind. Für sie ist es oft schwierig, sich an die Online-Bewerbungsformulare zu gewöhnen, die mittlerweile flächendeckend eingesetzt werden”, erzählt Hochuli.
Das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) Zürich, dem auch die lokalen RAV unterstehen, schreibt auf Anfrage von das Lamm: „Die Online-Stellensuche sowie Online-Bewerbungen haben einen hohen Stellenwert. Werden Stellen ausgeschrieben, sind diese in den meisten Fällen online auffindbar […]. Viele Unternehmen bieten die Möglichkeit der Online-Bewerbung an. Wichtig ist bei der Stellensuche zunehmend auch der Auftritt auf Social Media, beispielsweise auf berufsorientierten Online-Netzwerken, auf denen Personalverantwortliche der Unternehmen Profile von Stellensuchenden auffinden können.”
Von Seiten der Stadt sind die Institutionen, die Zugang zu diesen Kanälen bieten, sehr beschränkt. Ein städtisches Internetcafé gibt es nicht, dafür einige andere Angebote: „Vier Sozialzentren der Stadt bieten den Besuchern einen Arbeitsplatz mit Internetzugang im Intake-Bereich. Seit 2002 gehört zudem der Schreibdienst, der täglich abwechselnd in den fünf Sozialzentren stattfindet, zum Angebot der Stadt Zürich”, schreibt die Stadt auf Anfrage. Ein Handy für den Empfang des Zugangscodes und eine Anmeldung werden vorausgesetzt, ansonsten sind die Dienste laut Nadine Grunder, Kommunikationsmitarbeitende der Sozialen Dienste, schwellenlos. Es empfehle sich jedoch gerade bei den Schreibdiensten, früh genug zu erscheinen, da das Interesse sehr gross sei, sagt Grunder. Die Frage von das Lamm danach, wie bekannt die entsprechenden Dienste bei Betroffenen und potenziellen BesucherInnen sind und wie die Informationen dazu vermittelt werden, bleibt unbeantwortet.
„Geh eben ins Klick”
An diesem Mittwochabend wartet Julia auf einen freien Computer im Kafi Klick. Die Warteliste ist auch hier lang, obwohl das Klick schon bald schliesst. Julia ist zum vierten oder fünften Mal da. Rund fünfzehn Minuten Zeit können sich die BetreuerInnen pro Person auf der Liste nehmen. Zum Glück brauchen jeweils nicht alle BesucherInnen Unterstützung. Julia muss scannen und kopieren, ihren CV ausdrucken, der nach so vielen Jahren auf dem Arbeitsmarkt mittlerweile viele Seiten lang ist. Zusammen mit den Arbeitszeugnissen und sonstigen Dokumenten käme in einem gewöhnlichen Internetcafé schnell ein kleines Vermögen zusammen, das sie für die Prozedur ausgeben müsste. Bei einigen Dutzend Bewerbungen pro Monat geht das schnell ins Geld: „Ich habe zwar einen Computer zuhause”, sagt Julia, „aber als mein Scanner kaputtging, war ein neuer halt nicht drin in meiner momentanen Situation.”
Als sich Julia auf ihrem lokalen RAV nach einer Möglichkeit für günstiges Scannen und Drucken erkundigte, drückte ihr die verantwortliche Angestellte einen ausgedruckten Flyer vom Kafi Klick in die Hand. „Geh dahin, da ist es günstig und sie helfen dir bei den Bewerbungen”, soll sie gesagt haben.
„Ich wusste nicht, was das Klick ist, und als ich zum ersten Mal herkam, da wollte ich mich ausweisen – aber es hat niemand nach meinen Dokumenten gefragt, danach, warum ich hier bin und was ich will. Nur, ob ich Unterstützung brauche.” Erst in diesem Moment habe sie begriffen, dass das Klick keine städtische Institution und keine Partnerin des RAV ist, sagt Julia. Von den Angeboten der Stadt war auf ihrem lokalen RAV keine Rede. Julia wusste bis zu diesem Mittwochabend nicht einmal, dass es solche gibt.
„Die verschiedenen RAV stellen zwar hohe Anforderungen an die arbeitslosen Personen, zum Beispiel wie viele Bewerbungen online erfolgen müssen und welche Formulare es auszufüllen gibt, doch mit der Bearbeitung dieser Dinge werden die Menschen meist alleine gelassen”, sagt Hochuli. Gerade für ältere Arbeitslose oder solche mit fehlenden Sprachkenntnissen sind die damit aufkommenden Hürden enorm. Auf Anfrage heisst es dazu beim Amt für Wirtschaft und Arbeit: „Die sechs in der Stadt Zürich angesiedelten RAV können Stellensuchende, die Unterstützung bei Online-Bewerbungen oder ‑Stellensuche benötigen, kurz dabei beraten. Die arbeitsmarktliche Massnahme der Strategiekurse bietet bei Bedarf zusätzliche vertiefte Unterstützung und Begleitung bei der Stellensuche, dem Erstellen von Bewerbungen — auch von Online-Bewerbungen — sowie die erforderliche IT-Infrastruktur.”
Auf die Geschichte von Julia und anderen Personen angesprochen, die nach eigenen Aussagen explizit ins kostenfreie und unabhängige Klick geschickt wurden, schreibt das AWA knapp: „Wir nehmen keine Stellung zu Vorwürfen, die den Medien zugetragen werden. Im RAV registrierte Personen können sich mit Fragen stets an ihre/n Personalberatende/n des RAV wenden.”
Julia erzählt, dass sie gerne in ihrem RAV nachgefragt hätte, warum es kein internes Unterstützungsangebot gibt und warum sie ins Klick geschickt wurde. Doch sie sagt auch: In dieser Situation ist man abhängig und verletzlich. „Ich würde nie den Mund aufmachen und kritische Fragen stellen, wenn ich damit bei der Behörde möglicherweise negativ auffallen könnte.”
Vom Beispiel der Notschlafstellen abgeschreckt
Wenn die RAV vom Angebot des Kafi Klick Gebrauch machen und die vorhandenen städtischen Angebote ebenfalls massiv ausgelastet sind — müsste da nicht eine enge, institutionalisierte Kooperation zwischen dem Klick und der Stadt Zürich aufgegleist werden? Nein, sagt Hochuli. Und das will man auch nicht.
Rund einen Viertel des Jahresbudgets zahlt die Stadt jährlich an das Kafi Klick im Rahmen eines leistungsorientierten Vertrags: „Der Unterschied zu einem klassischen Leistungsauftrag liegt darin, dass wir einmal im Jahr in einem Kontraktgespräch unsere Entwicklungen und Zahlen vorlegen, uns aber nur beschränkt um die Summe bewerben müssen”, erklärt der Co-Leiter.
Im Keller des Klick zeigt Stephan Hochuli auf einen mannsgrossen Stapel von Kartons: Alle sind gefüllt mit Spendenbriefen. „Sieht aus wie eine Petition, oder? Wir müssten nur noch Kantonswappen drauf drucken und sie mit Schubkarren zum Bundeshaus fahren.” In diesen Kisten liegen die Grundlagen für die restlichen drei Viertel des Jahresbudgets.
Stiftungsgesuche zu schreiben und Stiftungen anzuschreiben macht einen grossen Teil der Arbeit aus. Dennoch will das Klick bewusst nicht mehr Geld von der Stadt. Der Grund ist relativ simpel: „Wer viel zahlt, kann viel befehlen. Wenn die Stadt mehr zahlt, will sie mehr mitreden — denn wenn die Summe der staatlichen Beteiligung 50’000 Franken übersteigt, dann muss sie im Gemeinderat diskutiert werden – und da sind die Verhältnisse nicht immer zu unseren Gunsten”, sagt Hochuli schulterzuckend und fügt an: „Würde die Stadt dennoch einwilligen, gäbe es einen Leistungsvertrag. In diesem hält sie dann ziemlich genau fest, was sie von uns will und was nicht. Das widerspricht im Kern den Grundprinzipien der IG Sozialhilfe: Wir sind ein Projekt, das sich parteiisch für Armutsbetroffene positioniert. Wir unterstützen sie auch bei arbeitsrechtlichen Fragen und stehen in Konfliktsituationen auf ihrer Seite. Dort, wo die Stadt viel Geld zahlt, hat sie auch ein Interesse an Regulierung, und es könnte im Endeffekt wohl primär darum gehen, die sozialen Konflikte von der Bildfläche wegzuholen und Schwellen zu installieren. Sozialpolitik ist immer auch Separierung sowie Beruhigung des öffentlichen Bildes einer reichen Stadt.”

Hochuli illustriert diese Befürchtungen am Beispiel der städtischen Notschlafstellen: „Hier kann oft nur reingehen, wer in der Stadt registriert ist, fünf Franken zahlt, Papiere vorweisen kann und so weiter. Die Menschen werden sehr stark selektioniert — das widerspricht unserem Verständnis eines Sozialbetriebs. Wir wollen ein Betrieb sein, der im Bewusstsein aller Differenzen die Leute zusammenbringt statt auseinanderdividiert und marginalisiert.”
Wegen dieser inhaltlichen Diskrepanzen und der Angst vor bürokratischen Hürden existiert das Klick also weiterhin ohne zureichende öffentliche Unterstützung. Dass das Amt für Wirtschaft und Arbeit dennoch vom Angebot des Klick profitiert, etwa indem Arbeitssuchende dorthin verwiesen werden, ist vor diesem Hintergrund besonders stossend.
Ein offenes Ohr unter Zeitdruck
Obwohl das Klick in wenigen Minuten schliesst, ist auch kurz vor sechs Uhr noch Betrieb. Einige Männer essen an den Tischen draussen Suppe, drinnen wird Kaffee ausgeschenkt und geredet, die Computer sind fast alle besetzt.
Julia fertigt die letzten Scans an und verlässt das Klick. Essen, Bücher oder Kleider nimmt sie keine mit, „das haben andere nötiger”, sagt sie. Manchmal komme sie sich hier etwas deplatziert vor, aber auch das, fügt sie an, sei wohl ein Symptom von Stolz und Scham.
Für die Angestellten und Freiwilligen ist auch nach Betriebsschluss noch nicht Feierabend. In einer offenen Runde besprechen sie die Probleme und Herausforderungen des Tages und legen sich Strategien zurecht: „Wir müssen und wollen hier nicht nur BeraterIn, sondern auch ModeratorInnen eines Treffpunktes sein und ein offenes Ohr haben – aber wegen unserer Kapazitäten müssen wir auch Grenzen ziehen können. Das ist nicht immer einfach.”
Rund 30 Prozent der Leistung im Kafi Klick entfällt momentan auf freiwillige MitarbeiterInnen: „Wenn wir mehr Geld hätten, würden wir natürlich bessere Entschädigungen bezahlen”, sagt Hochuli. „Wir müssen eben schauen, wie wir an mehr Geld kommen — aber am liebsten von jemandem, der oder die uns inhaltlich nicht zu fest reinredet und unsere Linie richtig findet.”
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