Eltern­zeit: „Wir setzen uns konse­quent für die Anliegen von Müttern ein”

Im Inter­view spricht Miriam Dürr, Mitglied der „Eidge­nös­si­schen Kommis­sion dini Mueter“, über ihre Vorstel­lung einer fairen Eltern­zeit und die Bedürf­nisse von Müttern – und wieso die EKdM eine Eltern­zeit bekämpfen würde, bei der beide Eltern­teile exakt gleich viele Wochen erhalten. 
Illustration: Nora Ryser

Vor zwei Wochen sorgte ein Artikel der WOZ zum Thema Eltern­zeit für Aufruhr. Konkret auf der Face­book­seite der „Eidge­nös­si­schen Kommis­sion dini Mueter” (EKdM): Sie schrieben in einem Beitrag, sie seien zu Unrecht als Spiel­ver­der­be­rinnen der Eltern­zeit aufge­führt worden.

Das Lamm hat nochmal nach­ge­fragt und mit Miriam Dürr von der EKdM darüber gespro­chen, wie sich gemäss der EKdM die Orga­ni­sa­tion der Kinder­be­treuung in Zukunft weiter­ent­wickeln sollte – und wieso die EKdM mit ihrem Verständnis einer fairen Eltern­zeit scheinbar auch in linken Kreisen auf Unver­ständnis stösst.

Das Lamm: Frau Dürr, was ist da vor zwei Wochen genau passiert?

Miriam Dürr: Im Artikel der WOZ werden wir als Verhin­de­rinnen der Eltern­zeit darge­stellt, doch das stimmt so nicht. Wir haben aktiv bei der Allianz Eltern­zeit mitge­wirkt, zusammen mit poli­ti­schen Parteien und anderen Grup­pie­rungen, und haben unsere Wünsche einge­bracht. Doch keine unserer Forde­rungen wurde aufge­nommen. Im Gegen­teil: Die von uns mitge­teilten roten Linien wurden letzt­lich sogar über­schritten. Deshalb haben wir uns entschieden, aus der Allianz auszutreten.

Die EKdM begrün­dete den Austritt in einer Mail an die Allianz. Im Zentrum stand ein soge­nanntes pari­tä­ti­sches Modell, in welchem beide Eltern gleich viel Eltern­zeit erhalten würden. In der Mail steht, dass die EKdM den ausge­ar­bei­teten Vorschlag „bekämpfen” würde. Wieso?

Weil der Vorschlag, der auf dem Tisch lag, für uns nicht in Frage kommt. Es war ein strikt pari­tä­ti­sches Modell mit je 18 Wochen Eltern­zeit für beide Eltern­teile, so wie es jetzt auch der Kanton Zürich vorschlägt.

Das sind immerhin vier Wochen mehr für Mütter bzw. gebä­rende Personen und ganze 16 Wochen mehr für Väter bzw. den zweiten Eltern­teil. Was ist daran schlecht?

Grund­sätz­lich wäre das eine Verän­de­rung in eine posi­tive Rich­tung. Aber da müssen wir uns klar sein, zu welchem Preis: Diese Eltern­zeit würde den vier­zehn­wö­chigen Mutter­schafts­ur­laub ersetzen, und das möchten wir auf keinen Fall. Der Mutter­schafts­ur­laub ist für uns elementar und sollte eher ausge­dehnt statt redu­ziert werden, weil er die gesund­heit­liche Scho­nung der gebä­renden Person ermög­licht und ihrer spezi­fi­schen Situa­tion Rech­nung trägt.

Wieso ist das so wichtig?

Mutter­werden und Vater­werden ist einfach nicht das Gleiche, wenn wir Schwan­ger­schaft, Geburt und Wochen­bett als einschnei­dende Erfah­rungen ernst nehmen. Diese Tatsache muss sich in der Gesetz­ge­bung wider­spie­geln – sonst tabui­sieren wir die Leistung und Erfah­rung von Müttern. Und es wäre zukünftig umso schwie­riger, ihre Bedürf­nisse poli­tisch durch­zu­setzen. Dagegen wehren wir uns.

Zudem ist das Problem bei einem unfle­xi­blen pari­tä­ti­schen Modell auch, dass es viele Menschen und ihre Lebens­um­stände ausschliesst: Allein­er­zie­hende, Nicht-Ange­stellte und Menschen, die nicht in hete­ro­nor­ma­tiven Fami­lien leben.

In der Schweiz gibt es aktuell keine natio­nale Eltern­zeit. Statt­dessen gibt es einen 14-wöchigen Mutter­schafts­ur­laub (auch Mutter­schutz genannt) und seit dem 1. Januar 2021 einen zwei­wö­chigen Vaterschaftsurlaub.

Dafür bewegt sich auf kanto­naler Ebene etwas: Im Kanton Zürich schlägt die Eltern­zeit-Initia­tive ein pari­tä­ti­sches Modell von je 18 Wochen Eltern­zeit für beide Eltern­teile vor. Diese Eltern­zeit würde den bestehenden Mutter­schafts- und Vater­schafts­ur­laub ersetzen. Die Initia­tive kommt voraus­sicht­lich 2022 zur Abstim­mung. Und auch im Kanton Bern ist eine Initia­tive für eine Eltern­zeit hängig: Diese schlägt insge­samt 24 Wochen Eltern­zeit vor, von denen je sechs einem Eltern­teil zustehen. Die rest­li­chen 12 Wochen können frei aufge­teilt werden. Beide dieser kanto­nalen Initia­tiven wurden von der SP lanciert und mitgetragen.

Im euro­päi­schen Vergleich liegt die Schweiz auf den hinteren Plätzen: Die meisten Länder kennen bereits eine Eltern­zeit – einige schon seit Jahr­zehnten. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Deutsch­land dürfen beide Eltern­teile pro Kind bis zu drei Jahre Eltern­zeit beziehen, in Frank­reich haben Eltern­teile ein Anrecht auf insge­samt drei Jahre Eltern­zeit, in Schweden sind es insge­samt 16 Monate Eltern­zeit (wovon drei je einem Eltern­teil zustehen) und in Italien elf Monate.

Welches Modell würde die EKdM befürworten?

Wir setzen uns konse­quent für die Anliegen von Müttern ein. Darum kämpfen wir für eine Eltern­zeit zusätz­lich zum Mutter­schafts­ur­laub, die mit vielen über­trag­baren Wochen flexibel gestaltet ist und auch bis zum Primar­schul­alter der Kinder bezogen werden kann. Zudem bräuchte es einen längeren Kündi­gungs­schutz und Arbeits­platz­ga­ran­tien. In der Schweiz steht die Eltern­zeit noch ganz am Anfang. Es ist eine grosse, freie Wiese und wir sagen: Das wollen wir, in diese Rich­tung wollen wir gehen. Das Modell, das im Kanton Bern zur Debatte steht, kommt dem ziem­lich nahe.

Also 24 Wochen Eltern­zeit: 6 feste Wochen pro Eltern­teil und 12 frei verteil­bare Wochen.

Genau. Bei diesem Modell könnte die gebä­rende Person zusätz­lich zum Mutter­schafts­ur­laub bis zu 18 Wochen Eltern­zeit beziehen. Das ist eine massive Verbesserung.

Die Idee hinter dem pari­tä­ti­schen Modell ist auch, dass insbe­son­dere in hete­ro­se­xu­ellen Paar­be­zie­hungen die Gleich­stel­lung geför­dert werden soll: Der Vater soll genauso lange zu Hause sein wie die Mutter, anson­sten verfallen diese Wochen einfach. Sehen Sie keine Gefahr, dass sich alte Rollen­mu­ster verfe­stigen, wenn die Väter nur sechs Wochen beziehen „müssen”?

Wir suchen kein Modell, das Väter erzieht. Die Entschei­dung, wer wie viel zu Hause ist, können die Fami­lien selbst treffen. Zu sagen, die Männer fallen in alte Rollen­mu­ster zurück, nur weil sie zu wenig Eltern­zeit haben, finde ich sehr verkürzt.

Gleich­stel­lung bedeutet ja nicht, dass alle dasselbe brau­chen. Je flexi­bler das Modell und je geschützter die verletz­lichste Gruppe ist, desto besser. Wir wehren uns dagegen, nach einem Modell zu suchen, dass nur auf die Erwerbs­tä­tig­keit fokussiert.

Wie meinen Sie das?

Das meist­ge­nannte Argu­ment für die pari­tä­ti­sche Eltern­zeit ist, dass so bei der Erwerbs­tä­tig­keit eine Gleich­stel­lung erreicht wird. Doch nicht einmal die Hälfte der Mütter kehren nach den 14 Wochen Mutter­schafts­ur­laub zurück zur Lohn­ar­beit – das würde sich auch bei 18 Wochen nicht ändern. Wenn es wirk­lich darum ginge, dass beide Eltern­teile gleich lange der Erwerbs­tä­tig­keit fern­bleiben, müssten beide viel mehr Zeit haben. Das hat poli­tisch natür­lich keine Chance. Aber dann zieht auch das Argu­ment für die pari­tä­ti­sche Eltern­zeit nicht mehr.

Miriam Dürr ist 40 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern im Primar­schul­alter. Zudem ist sie erwerbs­tätig und lebt in Basel-Stadt. Sie ist Mitglied der Eidge­nös­si­schen Kommis­sion dini Mueter (EKdM), die sich rund um den femi­ni­sti­schen Streik 2019 formierte. Die EKdM berät seitdem Rätinnen und Räte in Sachen femi­ni­sti­sche Mütter­po­litik. Sie inter­ve­niert bei poli­ti­schen Debatten und legt den Finger auf die inak­zep­ta­blen Bedin­gungen von Mutter­schaft und Kinder­be­treuung in der Schweiz und anderswo.

Gebä­rende Personen waren bis anhin mehr­heit­lich allein während dieser 14 Wochen, ausser der zweite Eltern­teil konnte es sich leisten, unbe­zahlt frei­zu­nehmen. Wäre es denn keine Entla­stung, wenn immer beide zu Hause wären?

Sie spre­chen vom doppelt posi­tiven Effekt: Die gebä­rende Person bekommt im rein pari­tä­ti­schen Modell vier Wochen zusätz­lich, und weil der zweite Eltern­teil sie während der gesamten Zeit entla­stet, kann sie sich schneller erholen.

Genau.

Das ist eine sehr hypo­the­ti­sche Diskus­sion, aber von der Logik her: Ja. Ein gemein­samer Bezug von Eltern­zeit soll deswegen unbe­dingt möglich sein. Aber eben: Einer allein­er­zie­henden Mutter hilft das nicht. Wir möchten das Beste für die ganze Familie: Flexible Lösungen für unter­schied­liche Fami­li­en­mo­delle. Aber wir fokus­sieren auf die verletz­lichste Gruppe, denn ihre Inter­essen werden einfach zuhin­terst ange­stellt – und das stört uns.


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