Am 9. April 2024 verurteilte der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz, weil sie zu wenig gegen die Klimaerhitzung unternimmt. Die Kritik von rechts liess nicht lange auf sich warten. Nationalrat Mike Egger von der SVP bezeichnete das Urteil als lächerlich. Als „völlig unverständlich“ beurteilte auch FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen das Urteil: Der Gerichtshof verstehe die Schweizer Demokratie wohl nicht, sagte er mit Verweis auf die Abstimmung von 2021, als das CO2-Gesetz abgelehnt wurde.
Ein paar Tage später doppelte SVP-Nationalrat Lars Guggisberg in der Politsendung Arena nach. Man müsse sich vor allem einmal fragen, warum es diese Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) überhaupt gibt, so Guggisberg – nur um dann gleich selber darüber aufzuklären: „Die EMRK wurde gemacht, um unterdrückte Bürger nach dem 2. Weltkrieg vor Gräueltaten zu schützen.“ Und nun wolle man dieselben Artikel auf die Klimakrise anwenden. „Das ist Rechtsverdrehung“, findet Guggisberg.
Es geht um Gräueltaten
Was Guggisberg nicht zu verstehen scheint: Genau darum geht es beim jüngsten Entscheid des Gerichtshofs zur Klage der Klimaseniorinnen. Staaten und Konzerne, die alle Warnungen vor der Klimakatastrophe bis heute nicht ernst nehmen, machen genau das: Sie begehen Gräueltaten. Oder zumindest verhindern sie nicht, dass diese begangen werden. Genau dafür wurde die Schweiz nun gerügt. Dafür, dass der Schweizer Staat nicht verhindert, dass die fortschreitende Klimakrise die Leben alter Frauen verkürzt. Davor soll die Menschenrechtskonvention Bürger*innen schützen – auch wenn einschlägige Entscheide der Schweiz direktdemokratisch gefällt wurden.
Um das vorweg zu nehmen: Ich liebe die direkte Demokratie. Umso wichtiger ist es anzuerkennen, dass sie, wie alles auf dieser Welt, ihre Stärken und Schwächen hat.
Schwäche Nummer eins: Die Mehrheit kann sich auf Kosten einer Minderheit nicht-legitime Vorteile herausholen. Wenn Entscheidungen allein aufgrund der Mehrheitsmeinung gefällt werden, besteht die Gefahr, dass berechtigte Ansprüche der Minderheit kein Gehör finden. So wie im Fall der Klimaseniorinnen. Ich finde es durchaus ein legitimes Anliegen, dass man nicht verfrüht an einem Hitzetod sterben möchte, weil sich eine Mehrheit dagegen sträubt, auf SUVs, Sandstrand und Fleisch zu verzichten. Das man das dereinst anders gesehen hat, darüber – so meine Prognose – wird man spätestens in zehn Jahren verständnislos den Kopf schütteln.
Schwäche Nummer zwei: Gruppen, die nicht Teil der direktdemokratisch regierten Bevölkerung sind, können von ihr unterdrückt werden. Was wir mit unserem CO2-intensiven Lebensstil jenseits des Schweizer Territoriums bewirken, ist letztlich eine Form der Enteignung. Menschen verlieren ihren Grund und Boden, weil er vom Meer verschluckt wird. In manchen Regionen wird er sich so verändern, dass man darauf nichts mehr kultivieren kann, wovon man satt werden könnte. Ob in der Schweiz weiter ein Lebensstil zelebriert werden soll, der genau das zur Folge hat – darüber hat man weder im Inselstaat Kiribati noch in der Sahelzone jemals direktdemokratisch mitentscheiden können. Dasselbe gilt für alle Menschen, die erst noch geboren werden – egal ob in der Schweiz, in Kiribati oder der Sahelzone. An ihnen wird der Löwenanteil der Klimamisere, die wir ihnen gerade einbrocken, hängen bleiben. Ihre Meinung dazu, wie wir gerade mit dem Planeten umgehen, konnten sie nie in die Urne legen.
Schwäche Nummer drei: Wenn Sie will, kann sich die direktdemokratische Zivilisation theoretisch selber abschaffen. Sie muss ihre Auslöschung nur mit einer Mehrheit beschliessen. Klar, die mehrheitlich beschlossene Selbstauslöschung ist ein extremes Beispiel. Leider sind wir davon aber weniger weit entfernt, als uns lieb sein dürfte. Der Klimawissenschaftler und Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Hans-Joachim Schellnhuber, sagte kürzlich in einem Interview mit dem Stern, dass er vor 30 Jahren bei der Gründung des Instituts damit rechnete, dass es nach 25 bis 30 Jahren wieder eingestampft würde, weil das Klimaproblem dann gelöst sei. „Wir dachten, es geht immerhin um das Überleben unserer Zivilisation, die Menschheit kann gar nicht so verbohrt und gleichgültig sein, dass sie hier nicht entschlossen gegensteuert. Dass man zum kollektiven Selbstmord aus Bequemlichkeit bereit ist, ging über unsere Vorstellungskraft.“
Auch Links will niemand zu viel Wahrheit aussprechen
Spätestens jetzt ist klar: Wer die direkte Demokratie liebt, sollte anerkennen, dass sie ihre Grenzen hat. Nur in diesem Bewusstsein können wir diese zivilisatorische Errungenschaft langfristig schützen. Die Mehrheit hat nicht immer Recht. In der Schweiz heisst das, dass die Mehrheit ihr aktuelles Level an Konsum und Mobilität nicht aufrechterhalten kann, ohne die Menschenrechte zu verletzen. Doch offensichtlich fällt es vielen schwer, das zu akzeptieren. Genau deswegen braucht es den Gerichtshof in Strassburg und die Menschenrechtskonvention.
Sie wurde eingeführt, um unterdrückte Bürger*innen vor Gräueltaten zu schützen, sagt SVP-Nationalrat Guggisberg – ohne zu merken, dass er damit den Kern des neuen Klimaurteils trifft. Erstaunlich ist aber auch, dass auf der links-grünen Seite der Arena niemand auf diese Steilvorlage eingestiegen ist. Niemand sagte: „Genau darum geht es. Wir müssen die Seniorinnen davor schützen, früher zu sterben, weil die Mehrheit lieber im SUV sitzt, anstatt die Welt vor dem Klimakollaps zu bewahren.“ Vielleicht weiss man auch auf der linken Seite, dass es Dinge gibt, die schlicht niemand hören will? Zumindest nicht in der Schweiz, wo so gut wie alle Wahlberechtigten beinahe drei Erden verbrauchen mit ihrem Lebensstil. Und wer Dinge sagt, die niemand hören will, wird nicht wiedergewählt.
Das CO2-Gesetz ist das wichtigste Klimaschutzgesetz der Schweiz. Das Lamm hat zusammen mit Radio Stadtfilter eine dreiteilige Podcast-Serie zum CO2-Gesetz aufgenommen.
In Teil eins geht es die Grundlage des CO2-Gesetzes, das Pariser Abkommen. Denn die Art, wie man unter dem Pariser Abkommen die Emissionen zusammenzählt, ist für kaum ein anderes Land so vorteilhaft wie für die Schweiz.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 15 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1040 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 525 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 255 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?