Der Abstimmungskampf zum Klimaschutzgesetz ist vorbei – zum Glück. Denn die vermeintlichen Strommangel-Szenarien, die von der SVP und ihren Sinnesgenoss*innen über alle Kanäle verbreitet wurden, waren für jede halbwegs informierte Person schwer auszuhalten. Stimmst du ja, dann ist Schluss mit Onlineshopping! Stimmst du ja, dann wirst du nicht mehr chatten können! Stimmst du ja, gehen Zivilisation und Fortschritt wortwörtlich vor die Hunde.
Den absoluten Tiefpunkt erreichte die Kampagne mit einem geschmacklosen und misogyn angehauchten Video, in dem Schauspielende Simonetta Sommaruga und Doris Leuthard zu zweit, nackt und zitternd unter der kalten Dusche mimen. Wenn du ja stimmst, dann wirst du das Schicksal der letzten zwei Umweltbundesrätinnen teilen. Der vermeintliche Grund: Der Kampf gegen die Klimakrise frisst uns den Strom für den täglichen Gebrauch weg.
Doch was die SVP im vergangenen Abstimmungskampf bei jeder Gelegenheit schrill und aggressiv betonte, ist nicht nur falsch. In einer dekarbonisierten Welt gibt es eine limitierende Grösse: Die Menge an Ökostrom, die wir produzieren können. Sie wird nicht genügen, um den materiellen Überfluss zu pflegen, an den wir uns gewöhnt haben.
Möglich wäre 1978
Schlechter Geschmack hin oder her: Der Abstimmungskampf zeigt, dass die Angst vor Verzicht die Debatte zur Klimakrise dominiert. Das führt dazu, dass die politische Kommunikation zum Thema nie ganz ehrlich ist – und ein Vorankommen blockiert wird. Und zwar in beiden politischen Lagern.
Auf einer Webseite des Bundes zum Klima- und Innovationsgesetz, wie es offiziell heisst, steht etwa: „Es gibt darin […] keine neuen Vorschriften oder Verbote.“ Auf das Gesetz bezogen, stimmt dieser Satz. Gleichzeitig verschweigt die Seite, dass wir die Klimakrise ohne Verbote, Einschränkungen oder Verzicht nicht meistern können.
Ulrike Hermann, Wirtschaftsjournalistin bei der TAZ und Autorin des Bestsellers „Das Ende des Kapitalismus“, hat am Beispiel von Deutschland berechnet, welches Wirtschaftsvolumen wir mit dem Ökostrom aufrechterhalten können, der uns in den nächsten paar Jahrzehnten zur Verfügung stehen wird. Die Antwort ist eine Jahreszahl: 1978.
Die Menge an Ökostrom, die wir mit den uns heute zur Verfügung stehenden Mitteln herstellen können, würde also ausreichen, um pro Kopf ein BIP-Level zu erwirtschaften, wie es Deutschland im Jahr 1978 hatte. Wer damals schon dabei war, weiss: Das war nicht so schlecht. Und mit den von SVP und Co. aufgespannten Schreckensszenarien hat 1978 wenig gemein. Was die Jahreszahl aber auch zeigt: Ein Weiter-wie-bisher liegt nicht drin.
Pipelines mit flüssigem CO2 nach Island
Dass die Dekarbonisierung kein Spaziergang ist, weiss eigentlich auch der Bundesrat. Schon heute rechnet er damit, dass wir bis 2050 nicht alle Emissionen auf null reduzieren werden.
Die Schweiz stösst auf ihrem Territorium pro Jahr aktuell rund 45 Millionen Tonne Treibhausgase aus. Im Ausland kommen nochmals rund doppelt so viele Schweizer Emissionen dazu – darum müssen wir uns aber sowohl laut Pariser Klimaabkommen wie auch laut dem neuen Klimaschutzgesetz ganz legal und offiziell nicht kümmern.
Aber auch mit den inländischen 45 Millionen Tonnen sind wir offensichtlich bereits überfordert. Der Bund geht davon aus, dass wir auch 2050 noch jährlich 10 Millionen Tonnen Treibhausgase auf Schweizer Boden ausstossen werden. Etwa in den Kehrichtverbrennungsanlagen, in der Landwirtschaft und bei der Betonproduktion. Diese 10 Millionen Tonnen können laut einem Bericht des Bundesrats schlichtweg nicht verhindert werden.
Die vermeintliche Lösung stellt der Bundesrat im selben Bericht vor: Ein Pipelinenetzwerk nach Nordeuropa, mit dem wir das CO2, das wir aus der Luft ausgeschieden und verflüssigt haben nach Island oder Norwegen verfrachten, von wo aus es dann dorthin zurückgepumpt wird, wo es ursprünglich in Form von Erdöl herkam – in den Untergrund.
Wohlgemerkt: Das sind keine verrückten Zukunftsideen einer dystopisch gestimmten NGO – das sind offizielle Pläne unserer Regierung, die in den nächsten Jahrzehnten umgesetzt werden sollen. Das Problem daran: Auch dieses ganze Prozedere wird Unmengen an Ökostrom brauchen.
Keine Alternativen zu Ökostrom
Einige Politiker*innen wollen stattdessen auf Atomstrom setzen, was auch nicht gerade auf Weitsichtigkeit schliessen lässt. Denn selbst wenn man alle negativen Begleiterscheinungen ausser Acht lässt, die Uran und Co. mit sich bringen – Atomstrom kann das Energieloch nicht füllen, das die notwendige Dekarbonisierung in den fossilen Kapitalismus reisst. Auch hierzu hat Hermann eine Zahl berechnet. Würde man unser aktuelles Wirtschaftssystem mit Atomstrom aufrechterhalten wollen, würde das Uran gerade einmal 13 Jahre lang reichen.
Und auch wenn es mittlerweile eigentlich allen klar sein sollte: Es ist keine Option, weiterhin Tonnen über Tonnen gefährliche Treibhausgase zu emittieren und damit der Klimakrise freien Lauf zu lassen. Der Weltuntergang ist kein diskussionswürdiges Alternativszenario. Es bleibt uns deshalb vorerst nichts anderes übrig als uns mit dem limitierten Angebot an Ökostrom zufrieden zu geben.
Anstatt also auf der einen Seite zu schreien „Ihr wollt uns alles verbieten!“ und auf der anderen Seite zu behaupten, dass alles munter weitergehen könne wie bisher, wäre es an der Zeit, dass beide Seiten der Realität ins Auge sehen. Soll der Ökostrom reichen, müssen wir anfangen, darüber zu reden, wo wir ihn einsetzen und wo nicht. Wie viele Quadratmeter beheizte Wohnfläche liegen drin pro Person? Wie verteilen wir diese? Wie viel Ökostrom können wir für Mobilität verwenden? Welche Geschäftsmodelle sind mit einer dekarbonisierten Welt vereinbar?
Der Kampf gegen den Klimakollaps wird von uns allen Verzicht einfordern. Das, was die SVP im Abstimmungskampf als Schreckgespenst an die Wand gemalt hat, ist Blödsinn. Ganz unrecht hatte sie aber nicht. Das sollte niemanden ängstigen. Stattdessen sollte es den Weg ebnen für einen mutigen Diskurs darüber, wie ein gutes Leben nach der Dekarbonisierung tatsächlich aussehen kann – und zwar für alle.
Denn wenn wir, wie sich das die SVP zu wünschen scheint, nichts tun, dann werden wir noch auf viel mehr verzichten müssen. Und davor sollten wir uns tatsächlich fürchten.
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