Es ist Winter. An der Grenze zwischen Polen und Belarus werden Menschen, die von ihrem Recht Gebrauch machen wollen, in der EU einen Asylantrag zu stellen, unter freiem Himmel bei katastrophalen Bedingungen festgehalten und im Dreck eingepfercht.
Mindestens sieben Geflüchtete sind schon gestorben, mit weiteren Toten ist zu rechnen.
Wer aus Verzweiflung – und wie gross muss diese Verzweiflung sein? – versucht, sich einen Weg durch die Wälder und über den Stacheldraht zu bahnen, wird mit Tränengas und Knüppeln zurückgeschlagen, darunter Kinder, Schwangere, kranke Menschen.
Während Europa im Jahr 2015 noch seine Willkommenskultur feierte, heisst es heute: Tja, da kann man leider nichts machen. Restlos alle haben sich auf diesen Standpunkt zurückgezogen.
Im Ergebnis sehen wir auf den wenigen Bildern, die überhaupt noch bei uns ankommen, nicht mehr Menschen mit Rechten. Wir sehen entrechtete, entwertete Körper im Niemandsland.
Paradoxerweise liegt der Grund für dieses Verbrechen ausgerechnet in einer verbreiteten Angst davor, dass von der Ankunft einiger weniger Schutzbedürftiger wieder die ultrarechte Unmenschlichkeit von AFD bis SVP profitiert.
Das ist lächerlich.
Diese Unmenschlichkeit hat längst gewonnen. Aus Angst vor den Rechten sind wir alle in unserem Denken und Handeln so weit nach rechts gerückt, dass Zustände und Taten wie an der Grenze zu Belarus ohne grösseren Widerspruch akzeptiert werden.
Kein Aufschrei, keine Empörung.
Gleiches gilt für das Argument: Weil Putin und Lukaschenko die Menschen missbrauchen, um Europa zu erpressen und zu destabilisieren, müsse man hart bleiben. Würden wir die Selbstverständlichkeit geregelter Asylverfahren garantieren, stünden die beiden autoritären Herrscher ziemlich doof da. Dann hätten sie aktiv daran mitgewirkt, dass Europa zeigen kann, wie es besser geht: mit solidarischer Zusammenarbeit statt nationalistischem Grenzkampf.
Europa hat sich aus Angst vor dem Tod selbst erschossen.
Von Politiker:innen und Parteien ist also nicht mehr viel zu erwarten. Aber auch auf Seiten der Zivilgesellschaft sieht es nicht besser aus. Im Vergleich zu 2015 ist das Interesse gering. Nur noch wenige NGOs setzen sich mit der brutalen Freiheitsberaubung, die den Menschen an der Grenze widerfährt, wirklich auseinander. Eine solidarische Bewegung aus der Gesellschaft heraus gibt es nicht.
Und das, obwohl durchaus argumentiert werden kann, dass an der polnisch/belarussischen Grenze auch unser aller Freiheit infrage steht. Wenn wir uns an diese Art staatlicher Repression noch weiter gewöhnen, dann ist in der nächsten Krise wirklich alles denkbar.
Trotzdem: Kaum eine Diskussion zur Frage, ob der Staat darf, was dort an der Grenze passiert, ob die Knüppel und das Tränengas nicht auch Anzeichen neuer staatlicher Allmachtsfantasien sind, die sich irgendwann gegen alle richten werden. Da macht es keinen Unterschied, dass sich das aktuelle Drama in Polen abspielt. Die Bilder tragen auch in der Schweiz zur Gewöhnung an staatliche Übergriffe bei.
Nein, bei uns wird stattdessen ausführlich ein anderes Freiheitsproblem diskutiert: Darf die Gesellschaft von mir verlangen, dass ich mich zu meinem eigenen und zum Wohl anderer impfen lasse? Die Gegner:innen denken: Nein – und argumentieren selbst mit Freiheit und Angst vor Gewöhnung an staatliche Macht.
Die Parallelen müssen einmal benannt werden. Sie helfen, einen Begriff von Freiheit zu schärfen, den wir Linke um jeden Preis verteidigen sollten. Viele Impfgegner:innen vertreten tatsächlich eine Freiheitsvorstellung, wie sie im Umgang mit Geflüchteten auch von den Rechten benutzt wird. Es geht um die Freiheit der Einzelnen, sich nicht mit den Problemen dieser Welt befassen zu müssen.
Diese Freiheit des Individuums beruht auf der sehr alten Vorstellung, dass Souveränität nur über Abgrenzung von Anderen hergestellt werden kann. Der Staat, in noch älteren Versionen das Volk, muss seine Grenzen ziehen und verteidigen, um innerhalb dieser Grenzen souverän und frei zu sein. Entsprechend gilt die Einzelne nur als frei, wenn sie ganz allein und ohne Rücksichtnahme auf andere über ihren Körper entscheidet.
So wie seit 2015 die Staatsgrenze wieder als unerlässlich für Freiheit und Souveränität eines Landes behauptet wird – heute nicht mehr nur durch rechtskonservative sondern zunehmend auch linke Kräfte wie etwa Sahra Wagenknecht – und die humanitäre Verpflichtung von Staat und Gesellschaft als äusserer Zwang abgelehnt werden, stemmen sich Impfgegner:innen gegen eine Gesellschaft, die für das Gemeinwohl ihre heiligste Grenze, die Grenze zum Körper, überschreiten will: Niemand darf mich zur Impfung zwingen, heisst es, denn das ist mein privater Körper über den ausschliesslich ich ein souveränes Freiheitsrecht ausübe.
Um es festzuhalten: Impf- und Asylgegner:innen sind nicht identisch. Sie gehören oft sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Gruppen an. Wenn sie aber für ihre Freiheit auf die Strasse gehen, sieht man sie in letzter Zeit nicht umsonst oft Hand in Hand. Sie stehen für das gleiche Konzept von Freiheit ein; und dieses Konzept basiert auf einer Art Privateigentum am Körper, am Staats- genauso wie am biologischen Körper.
Diese Art von Freiheit muss aus zwei Gründen bekämpft und zurückgedrängt werden:
Die auf Abgrenzung setzende individuelle Freiheit blendet immer die wahren Opfer der Krise aus und konstruiert ein eigenes Opfernarrativ für die privilegierte Oberschicht. SVP und AFD jammern ständig über die armen Inländer:innen, für die angesichts der vielen Geflüchteten kein Geld und keine Zeit mehr bleiben. Impfgegner:innen finden noch in der Hühnerhaut nach der Spritze Anzeichen für mögliche schwere Nebenwirkungen, unter denen sie vielleicht ihr Leben lang zu leiden haben werden. Die Opfer der Krise aber, die wirklich leiden und wirklich ihrer Freiheit beraubt wurden, werden in beiden Fällen absichtlich vergessen.
Gleichzeitig führt die rein individuelle Freiheit dazu, dass wir am Ende alle unsere Freiheit verlieren. An den Aussengrenzen lernt der Staat, richtig zuzuschlagen, und wird sich damit zwangsläufig irgendwann nach innen wenden. All die rechtsnationalen Regime in Europa legen davon Zeugnis ab, mag die Schweiz im Moment auch noch recht gut dastehen.
Vergleichbare Auswirkungen hat die Impfgegnerschaft. In der Pandemie werden Theater, Schulen und die meisten anderen Orte des öffentlichen Lebens vielleicht bald schon wieder schliessen, auch weil zu viele Menschen ihre Körpergrenze gegen das Gemeinwohl verteidigt haben. Sie lassen sich nicht impfen und nehmen lieber hin, dass alle ihrer Freiheit beraubt werden.
Genau hier sollten wir ansetzen und einen linken Begriff von Freiheit stark machen, der am Ende auch wirklich zu freieren Verhältnissen führt. Gemeint ist die Freiheit, die sich ein Kollektiv oder eine Gesellschaft selbst im Ausnahmezustand erhalten kann, wenn jede Einzelne solidarisch ihren Teil beiträgt; auch und gerade unter kleinen Einschränkungen der eigenen Freiheit oder sogar der Inkaufnahme einer gewissen Selbstverletzung.
Dafür ist es nötig, dass ich meinen Körper nicht nur als Privateigentum betrachte, sondern auch als Politikum, als Mittel zur Verteidigung der Freiheit anderer. Ja, ich nehme mit der Impfung ein gewisses Risiko für meinen Körper in Kauf, damit die Gemeinschaft freier leben kann. Für das Problem der Staatsgrenzen würde das bedeuten: Der Staatskörper sollte eine Verletzung seiner Grenzen akzeptieren, um Geflüchteten zu helfen, weil er damit zu einer freiheitlichen, solidarischen Gesellschaft beiträgt – das Gegenteil führt in die Repression.
Leider sind wir mit Blick auf die Situation am Grenzstreifen zwischen Belarus und Polen über die Möglichkeit einer solchen einfachen Lösung lange hinaus. Die europäischen Staaten haben sich der rechten individuellen Freiheit ergeben und verteidigen ihre Grenzen gegen alles, was sich vermeintlich von aussen aufdrängt. Auf diesen Staatskörper sollten wir nicht mehr hoffen.
Aber vielleicht sind wir trotzdem nicht ganz machtlos. Vielleicht können wir uns auf das Pandemiebeispiel besinnen und uns erinnern, dass wir neben dem Staatskörper auch noch über einen sehr gut politisierbaren biologischen Körper verfügen. Der Körper wird in der Pandemie von allen Seiten als Mittel im Streit der politischen Interessen benutzt. Als letzte Instanz könnte er auch von uns eingesetzt werden, um die Entwertung menschlichen Lebens an den Grenzen zu bekämpfen.
Es sind die Körper der Geflüchteten, die wir so lange entmenschlicht haben, dass sie jetzt kaum mehr zählen. Wir haben sie rassistisch und nationalistisch entleert und entwertet.
Wenn wir im Gegenzug unsere eigenen Körper nicht als Privateigentum betrachten wollen, dann sollten wir diese Körper jetzt – ähnlich wie bei der Impfung – für die Freiheit der anderen aufs Spiel setzen. Wir sollten unsere Körper, die einzig aufgrund unserer hyperprivilegierten Lebenssituation vor dem Staat einen höheren Wert besitzen, spenden: die Grenzen besetzen.
Ein paar Zehntausend Menschen, die sich mit ihren europäischen Pässen als höherwertig auszeichnen, könnten sich anketten, so lange, bis auch der Wert der anderen wieder anerkannt wird. Das ist eine kleine Selbstverletzung – eine Grenzüberschreitung am privilegierten Körper –, die wir unbedingt auf uns nehmen sollten. Besonders wenn wir in Argumentation zum Beispiel mit Impfgegner:innen darauf bestehen, dass der Körper, egal welcher, kein Privateigentum ist, sondern politisch.
Dass es funktioniert, können alle bestätigen, die schon mal in einem inoffiziellen Flüchtlingscamp auf dem Balkan oder in Griechenland ausgeholfen haben. Schon ihre blosse körperliche Anwesenheit als privilegierte Europäer:innen kann die schlimmsten staatlichen Übergriffe gegen Geflüchtete verhindern. Nicht umsonst riegelt Polen seine Grenzgebiete gerade gegen Menschen aus der EU genauso rigoros ab wie gegen Geflüchtete. Man will nicht, dass sich die unterschiedlich politisch aufgeladenen Körper gegenseitig stützen, ergänzen, dass sie sich in ihrer Wertigkeit angleichen.
Mit Occupy gab es schon einmal eine Bewegung, die versuchte, den Körper als Instrument solidarischer Politik ins Spiel zu bringen. Damals durch die Besetzung öffentlicher Räume im Kampf gegen das Kapital. Heute sollten wir zeigen, dass der politisierte Körper seine Macht auch gegen den staatlichen Repressionsapparat in Stellung bringen kann.
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