Kolo­niales Kapital in Schweizer Tresoren

Mit dem Ende der Kolo­ni­al­zeit landeten Milli­arden aus ehema­ligen Kolo­nien in Schweizer Banken. Was damals begann, sichert dem Schweizer Finanz­platz bis heute seine Spitzenposition. 
Das Geschäftsmodell des Schweizer Wirtschaftsstandortes. (Bild: Alain Schwerzmann)

Es gab einmal eine Zeit, da flohen Menschen nicht in Not über das Mittel­meer, sondern mit Geld­kof­fern. Mit Schnell­booten trans­por­tierten Schmuggler*innen die Koffer von Tanger über die Strasse von Gibraltar, dann durch Spanien über die Pyre­näen nach Frank­reich. Von dort gelangten sie in die Schweiz, wo der Inhalt dieser Koffer schliess­lich in Tresoren von vornehm­lich Genfer Banken landete. Das geschah zu einer Blüte­zeit des Schweizer Finanz­platzes in den 1950er- und 60er-Jahren.

So beschreibt es die Histo­ri­kerin Vanessa Ogle in einem Inter­view mit dem IPG-Journal der deut­schen Fried­rich-Ebert-Stif­tung. Die kali­for­ni­sche Histo­ri­kerin hat dazu geforscht, wie die Deko­lo­ni­sie­rung mit dem Aufstieg globaler Steu­er­oasen zusammenhängt.

Bis zur Unab­hän­gig­keit Marokkos war die Stadt Tanger ein wich­tiger Finanz­platz. Hier parkierten die Gewinner*innen der fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­öko­nomie ihre Vermögen, es florierten die orga­ni­sierte Krimi­na­lität, die Geld­wä­scherei und der Schmuggel.

Dies war möglich, weil die Stadt seit 1912 als „Inter­na­tio­nale Zone“ galt. Sie war nicht Teil des fran­zö­si­schen Protek­to­rats, sondern stand unter inter­na­tio­naler Verwal­tung der USA und der euro­päi­schen Grossmächte.

Dieser Status sorgte gemäss Ogle für ein behörd­li­ches Vakuum: Strin­gente Regeln und Kontrollen fehlten und die Stadt zog Kapital aus dem Mitt­leren Osten, aus Nord­afrika und aus Europa an. Auf dem Höhe­punkt des Booms soll es in Tanger 145 Banken und 6’000 Firmen gegeben haben. Die meisten davon waren Brief­ka­sten­firmen, die die wahre Iden­tität und Herkunft ihrer Investor*innen verschleierten.

Als Marokko 1956 von Frank­reich unab­hängig wurde, war die Party vorbei. Die Kapi­tal­flüch­tigen, die in den Jahr­zehnten zuvor in Tanger gut gelebt hatten, mussten sich ein neues Versteck suchen.

Schweizer Wirt­schafts­boom und Dekolonisierung

Wie so oft, wenn Geld infolge poli­ti­scher Krisen verschoben und umge­schichtet wird, öffneten sich für das Kapital aus Tanger die Tresor­türen der Banken in der neutralen Schweiz. Der hiesige Finanz­platz hatte bereits während des Ersten Welt­krieges und in der Zwischen­kriegs­zeit einen Boom erlebt. Damals trieben die poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Insta­bi­lität sowie neu einge­führte Einkom­men­steuern in ihren Nachbar*innenländern neues Geld auf Schweizer Bank­konten und in Holdingfirmen.

All dies wurde vom Schweizer Bank­ge­heimnis begleitet. Bereits 1713, also 135 Jahre vor der Grün­dung des Bundes­staates, verbot das Kantons­par­la­ment in Genf den dortigen Bankiers, Details über ihre Kund*innen bekannt zu geben. Schon damals galt der Genfer Finanz­platz der euro­päi­schen Aristo­kratie als sichere Schatzinsel.

Nirgendwo auf der Welt werden so viele auslän­di­sche Vermögen verwaltet wie in der Schweiz.

Mit dem Wirt­schafts­boom in den 1920er- und 30er-Jahren wurde das Bank­ge­heimnis dann 1934 in der ganzen Schweiz insti­tu­tio­na­li­siert: Per Bundes­ge­setz wurde unter Strafe gestellt, dass Banken Kunden­daten heraus­geben. Dieser Geset­zes­ar­tikel steht bis heute im Banken­ge­setz (Art. 47) und wurde in jüngerer Vergan­gen­heit mehreren Whistleblower*innen aus der Schweizer Vermö­gens­ver­wal­tung zum Verhängnis – beispiels­weise Rudolf Elmer, einem ehema­ligen Ange­stellten der Bank Julius Bär.

Im Zug der Deko­lo­ni­sie­rung profi­tierte der Schweizer Finanz­platz nicht nur von der Kapi­tal­flucht aus Marokko, sondern auch aus Tune­sien und Alge­rien. Bei der Schweizer Natio­nal­bank war man über diesen Schub für den Finanz­platz aller­dings alles andere als erfreut. Man befürch­tete, dass dieser Geld­segen die Wirt­schaft über­hitzen und es zu einer über­mäs­sigen Liqui­dität im Schweizer Geld­kreis­lauf kommen könnte.

Gleich­zeitig hatten die Schweizer Behörden Mühe, für diese Entwick­lungen neue Regu­lie­rungen einzu­führen – weil sie wegen der extremen Intrans­pa­renz des Schweizer Finanz­platzes diese unlau­teren Finanz­flüsse selbst nicht restlos durchschauten.

Netz­werk von Kapitalfluchthäfen

Mit den neuen Geld­flüssen eröff­neten auch mehr auslän­di­sche Banken, die enge Verbin­dungen zu den früheren Kolo­ni­al­mächten hatten, ihre Filialen in der Schweiz. Das trug dazu bei, dass sich der Schweizer Finanz­platz nach dem Zweiten Welt­krieg inter­na­tio­na­li­sierte und bis heute davon profi­tiert: Immer noch werden nirgendwo auf der Welt so viele auslän­di­sche Vermögen verwaltet wie in der Schweiz.

Gemäss den Zahlen der Schwei­ze­ri­schen Bankier­ver­ei­ni­gung stehen 2023 rund 4’600 Milli­arden Franken Vermögen von Personen, die in der Schweiz wohnen, den rund 3’800 Milli­arden privaten Vermögen von Personen aus dem Ausland gegen­über. Damit ist die Schweiz nach wie vor die welt­weite Nummer 1 bei den grenz­über­schrei­tend verwal­teten Vermögen, die auch als Offshore-Vermögen bekannt sind.

Der Schweizer Finanz­platz profi­tiert damit bis heute von einer welt­po­li­ti­schen Entwick­lung der 1950er- und 1960er-Jahre, als sich mit der formalen Abwick­lung der Kolo­nien ein globales Netz­werk von Kapi­tal­flucht­häfen und Tief­steu­er­ge­bieten zu entwickeln begann.

„Es dauerte nicht lange, bis die Eliten in den ehema­ligen Kolo­nien die Vorteile eines Schweizer Bank­kontos entdeckten.“

Vanessa Ogle, Geschichts­pro­fes­sorin an der Univer­sität Yale

Aus Angst um die Sicher­heit ihrer Vermögen zogen Investor*innen ihr Kapital aus den ehema­ligen Kolo­nien ab, nachdem diese unter der Kontrolle von neuen, unab­hän­gigen Regie­rungen standen. Diese Investor*innen operierten fast immer von den Macht­zen­tren der alten Impe­rien aus –  etwa London oder Paris. Während Gelder aus dem fran­zö­si­schen Impe­rium vor allem in die (West-) Schweiz flossen, landete Kapital aus den briti­schen Kolo­nien vornehm­lich auf den Kari­bik­in­seln Bahamas und Bermudas.

So fehlte in den post­ko­lo­nialen Natio­nal­staaten das Geld, um eine eigen­stän­dige Verwal­tung und ein Bildungs- und Gesund­heits­wesen aufzu­bauen, um eine unab­hän­gige Wirt­schaft zu entwickeln oder die zuneh­mend über­al­terte Infra­struktur zu erneuern. 

Erst­mals war von capital flight oder eben Kapi­tal­flucht die Rede. Und die Schweiz gehörte von Anfang an zu den wesent­li­chen Trei­be­rinnen und Profi­teu­rinnen dieser Entwicklung.

Lokale Eliten profitieren

Unmit­telbar nach der Deko­lo­ni­sie­rung und der ersten Welle der Kapi­tal­flucht durch die abzie­henden Kolo­ni­al­herren hatte sich dieses Modell etabliert. Vieler­orts entwickelte sich in den ehema­ligen Kolo­nien eine neue regio­nale Elite, die die finanz­öko­no­mi­schen Kanäle aus der Kolo­ni­al­zeit neu zu nutzen wusste. Sie stand mit ihren Vermö­gens­ver­wal­tungs- und Inve­sti­ti­ons­prak­tiken den Kolonisator*innen in nichts nach – zum weiteren Schaden der gerade deko­lo­ni­sierten Länder. Vanessa Ogle schreibt: „Es dauerte nicht lange, bis die Eliten in den ehema­ligen Kolo­nien die Vorteile eines Schweizer Bank­kontos entdeckten.“

Ein Beispiel für Kapital, das den lokalen Steu­er­be­hörden entzogen wurde, sind die soge­nannten Poten­ta­ten­gelder. 1986 flogen Schweizer Konten der Dikta­toren und Klep­to­kraten Jean-Claude Duva­lier aus Haiti und Ferdi­nand Marcos aus den Phil­ip­pinen auf, die ab den 1960er-Jahren riesige Vermögen in die Schweiz trans­fe­rierten. Später kamen Gelder des mexi­ka­ni­schen Präsi­denten Carlos Salinas und von Joseph Mobutu ans Licht, der die demo­kra­ti­sche Repu­blik Kongo von 1960 bis 1997 auto­kra­tisch regierte. Und während ihrer Herr­schaft – vor dem Sturz im arabi­schen Früh­ling 2011 – verschoben etwa der tune­si­sche Diktator und Klep­to­krat Ben Ali oder sein ägyp­ti­sches Pendant Husni Mubarak ihre Vermögen in undurch­sich­tige Konten auf Schweizer Banken.

Essen­zi­elle finan­zi­elle Ressourcen fliessen aus den ökono­misch benach­tei­ligten Ländern des globalen Süden in die reiche Schweiz ab.

Mitt­ler­weile haben die Schweizer Behörden viele dieser Gelder entweder gesperrt oder in die geprellten Länder zurück­ge­führt. Trotz des Bemü­hens fällt es ihnen aber in einigen Fällen immer noch schwer, dabei sicher­zu­stellen, dass sie nicht in die Taschen der Herr­scher­fa­mi­lien zurückfliessen.

Umge­kehrt fehlt es der bürger­li­chen Mehr­heit in der Schweizer Politik am Willen, Gesetze zu erlassen, die verhin­dern, dass neue Gelder aus ähnli­chen Quellen in die Schweiz gelangen. An dieser Dynamik hat sich im Grund­satz seit der Deko­lo­ni­sie­rung bis heute nichts geän­dert: Essen­zi­elle finan­zi­elle Ressourcen fliessen aus den ökono­misch benach­tei­ligten Ländern des globalen Süden in die reiche Schweiz ab.

Das Bank­ge­heimnis ist nicht tot

Zwar musste die Schweiz ihr finan­ziell äusserst einträg­li­ches Bank­ge­heimnis auf Druck der USA und der EU ein paar Jahre nach der Finanz­krise von 2008 lockern. Andere Staaten wie Indien oder Argen­ti­nien hatten dies von der Schweiz schon früher gefor­dert, blitzten aber immer ab.

Auch im Inland hatte die „Banken­in­itia­tive“ der SP, der Gewerk­schaften und der „Dritte-Welt-Bewe­gung“ bereits 1984 dessen (Teil-)Abschaffung verlangt. Sie erzielte nach einer massiven Nein-Kampagne der Wirt­schafts­ver­bände und bürger­li­chen Parteien, die unbe­grün­dete Ängste vor dem Verlust der Privat­sphäre aller Bürger*innen schürten, nur gerade eine Zustim­mung von 27 Prozent.

Seit 2017 teilt die Schweiz nun Daten über die Konten auslän­di­scher Bankkund*innen mit deren Wohn­sitz­län­dern. Dieser soge­nannte auto­ma­ti­sche Infor­ma­ti­ons­aus­tausch für Bank­kun­den­daten (AIA) soll es den Steu­er­be­hörden in den Herkunfts­län­dern der Gelder ermög­li­chen, Vermö­gende zu enttarnen, die in der Schweiz Steuern hinter­ziehen oder Geld waschen.

Doch auch hier zeigen sich wieder die alten kolo­nialen Gräben: Die Schweizer Steu­er­be­hörden tauschen mitt­ler­weile mit über 100 Staaten welt­weit Daten aus. Vom afri­ka­ni­schen Konti­nent gehören bloss Ghana, Nigeria, Kenia und die Steu­er­oase Mauri­tius dazu. Alle anderen erfüllen die entspre­chenden inter­na­tio­nalen Stan­dards nicht. Diese hat die OECD defi­niert, die aus bloss 38 Mitglieds­staaten besteht und in der noch immer die ehema­ligen kolo­ni­sie­renden Staaten und weitere reiche Länder – darunter die Schweiz – dominieren.

Als erster Kanton führte Zug zu Beginn der 1920er-Jahren ein Steu­er­pri­vileg für Holding­firmen ein. 

Das gleiche gilt für die neue Mindest­steuer für multi­na­tio­nale Konzerne: Zwar wurde sie in einem inter­na­tio­nalen Forum verhan­delt, an dem über 130 Länder teil­nahmen. De facto domi­nierten aber auch diesen Prozess die wirt­schaft­lich starken OECD-Länder wie die USA, Deutsch­land und Frank­reich, sowie Tief­steu­er­ge­biete wie Irland, Luxem­burg und die Schweiz.

Entspre­chend ist das Ergebnis: Die Mindest­steuer wird vornehm­lich den reichen Ländern mehr Einnahmen bringen – vor allem den Tief­steu­er­ge­bieten, die sehr viele multi­na­tio­nale Konzerne behei­maten. Der Globale Süden geht prak­tisch leer aus.

Tot, wie oft behauptet wird, ist das Schweizer Bank­ge­heimnis also noch lange nicht.

Billiger Park­platz für Gewinne

Auch als billiger Park­platz für die Gewinne der Konzerne ist die Schweiz trotz Einfüh­rung der Mindest­steuer immer noch äusserst beliebt. Das geht auf Kosten derje­nigen ökono­misch und poli­tisch benach­tei­ligten Bevöl­ke­rungs­schichten in den ehema­ligen Kolo­nien: Durch die Steu­er­flucht von privaten Vermögen und die Gewinn­ver­schie­bungen multi­na­tio­naler Konzerne verlieren diese Länder essen­zi­elle Einnahmen, um in öffent­liche Dienste wie Bildung und Gesund­heit zu investieren.

Auch diese Gewinn­ver­schie­bungs­prak­tiken von multi­na­tio­nalen Unter­nehmen entwickelten sich gleich­zeitig mit der Deko­lo­ni­sie­rung in Afrika und Asien. Dazu schreibt Vanessa Ogle: „In den 1960er- und 1970er-Jahren waren viele west­liche multi­na­tio­nale Unter­nehmen geschickt darin geworden, künst­liche Buch­füh­rungs­me­thoden zu verwenden, um in Entwick­lungs­län­dern erwirt­schaf­tete Gewinne so umzu­leiten und zu verbu­chen, als ob sie in Steu­er­pa­ra­diesen ange­fallen wären, so wie multi­na­tio­nale Unter­nehmen heute scheinbar einen Gross­teil ihrer Gewinne aus Verkäufen in der ganzen Welt in winzigen Steu­er­pa­ra­dies­län­dern mit winziger Bevöl­ke­rung erzielen.“

Die Schweiz steht auf Platz 4 der undurch­sich­tig­sten Tief­steu­er­ge­biete welt­weit – direkt hinter den briti­schen Steu­er­oasen in der Karibik.

In der Schweiz erwies sich dabei der Kanton Zug als Vorreiter. Als erster führte er bereits zu Beginn der 1920er-Jahren ein Steu­er­pri­vileg für Holding­firmen ein. Damit bot der Kanton vor allem auslän­di­schen Konzernen die Möglich­keit, ihre inter­na­tio­nalen Geschäfte von der Inner­schweiz aus zu steuern und die entspre­chenden Gewinne dort zum steu­er­li­chen Null­tarif zu verbuchen.

Leben auf Kosten anderer

Dieses Geschäfts­mo­dell des Schweizer Wirt­schafts­stand­ortes stei­gert also das Steu­er­sub­strat in der Schweiz und vermin­dert es andern­orts. Econo­mists Without Borders – eine Gruppe kriti­scher Ökonom*innen um Gabriel Zucman – errech­nete, dass multi­na­tio­nale Konzerne jähr­lich 112 Milli­arden Dollar Gewinne künst­lich in die Schweiz verschieben. Damit nehmen der Bund und die Kantone 8.9 Milli­arden Dollar an zusätz­li­chen Steuern ein. Das sind 39 Prozent der gesamten Schweizer Steu­er­ein­nahmen aus Firmengewinnen.

Folge­richtig steht die Schweiz im „Corpo­rate Tax Haven Index“ des Tax Justice Networks denn auch auf Platz 4 der undurch­sich­tig­sten Tief­steu­er­ge­biete welt­weit – direkt hinter den briti­schen Steu­er­oasen in der Karibik.

Die Rolle der Schweiz als kolo­niale Komplizin steht im Wider­spruch zum Schweizer Selbst­ver­ständnis als „self­made country“.

Der Mythos des Erfolgs­mo­dells Schweiz jedoch blendet das alles aus. Statt­dessen erzählt er uns vom Sonder­fall Schweiz, dessen Erfolg angeb­lich auf Frei­heit, Neutra­lität, Unab­hän­gig­keit, Fleiss, Spar­sam­keit und unter­neh­me­ri­schem Geschick beruht.

Die Rolle der Schweiz als kolo­niale Komplizin, deren Wirt­schaft sich aus eigener Kraft gar nie so hätte entwickeln können, steht im Wider­spruch zum Schweizer Selbst­ver­ständnis als „self­made country“: Man lebt hier heute nicht primär von der eigenen Hände Fleiss, sondern auf Kosten der Welt.

Bis heute ist es nicht gelungen, den Sonder­fall­my­thos aus dem kollek­tiven Bewusst­sein der Schweiz heraus­zu­drängen. Vermut­lich auch deswegen nicht, weil er für den Wirt­schafts­standort Schweiz kommer­ziell immer noch sehr erfolg­reich ist.

Partei­ische Vermittlerin

Diese Diskre­panz zwischen iden­ti­täts­po­li­ti­scher Theorie und volks­wirt­schaft­li­cher Praxis mani­fe­stiert sich derzeit auch bei der UNO: In den letzten zwei Jahren war die Schweiz nicht-stän­diges Mitglied im Sicher­heitsrat. Dort ist sie in Zeiten extremer geopo­li­ti­scher Verwer­fungen als Vermitt­lerin zwischen den grossen Macht­blöcken aufge­treten – und zwar durchaus erfolg­reich.

Umge­kehrt versucht sie in den Verhand­lungen für die neue UNO-Rahmen­kon­ven­tion für Steuern kompro­misslos ihre urei­gen­sten Inter­essen als Tief­steu­er­ge­biet und Offshore-Finanz­platz durch­zu­setzen. Dabei wären auch dort ihre Dienste sehr will­kommen: In der Frage, wie die inter­na­tio­nalen Steu­er­sy­steme zukünftig orga­ni­siert werden sollen, stehen sich verschie­dene Welt­re­gionen zurzeit nämlich ähnlich unver­söhn­lich gegen­über wie im Sicherheitsrat.

Unter der Führung der afri­ka­ni­schen Staaten fordert der globale Süden mit diesem inter­na­tio­nalen Abkommen, dass die UNO steu­er­po­li­tisch die Ober­hand über die OECD mit ihren kolo­nialen, unfairen Bedin­gungen gewinnt. Diese Deko­lo­ni­sie­rung der Steu­er­po­litk wäre der erste Schritt hin zu gerech­teren Steu­er­sy­stemen, die allen Erdteilen ihren fairen Anteil am globalen Steu­er­ku­chen garan­tieren könnten. Die reichen OECD-Mitglieds­staaten hingegen setzten alles daran, die Vormacht­stel­lung der OECD in Steu­er­fragen zu bewahren. Bis im Früh­ling 2027 soll die UNO-Steu­er­kon­ven­tion fertig verhan­delt sein – der Ausgang ist offen.

Dieser Beitrag ist in einer längeren Version im Hand­buch „Neue Schweiz“ von INES (Institut Neue Schweiz) erschienen.


Das Gespräch mit Dominik Gross im Hörkombinat:

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