Unter der Parole „Die Klimakrise drängt, wir machen jetzt vorwärts!“ finden an der COP (Conference of the Parties) jährlich Abgeordnete verschiedener Länder zusammen. Kaum ist die Konferenz jedoch vorbei, fliegen alle Delegierten zurück in ihre Länder und lassen von dort nur noch ein müdes „Die Reduktionsziele wurden zumindest nicht abgeschwächt…“ kommunizieren.
Der Stillstand der institutionellen globalen Klimapolitik ist nichts Neues. Da reiht sich auch die Türkei mit ein: Das Land habe an der COP27 neue scharfe Emissionsziele präsentiert und würde ihren Teil zu mehr Klimaschutz beitragen, schrieb die grösste englischsprachige türkische Tageszeitung Daily Sabah, die dem türkischen Despoten Erdogan nahesteht, während der Konferenz.
Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich diese Meldung als falsch. Das neue Reduktionsziel der Türkei sieht gar eine Erhöhung der Treibhausgasemissionen bis 2038 vor und verschiebt somit das von der Türkei im Jahre 2021 angekündigte Netto-Null-Ziel um einige Jahre nach hinten.
Von Interesse an mehr Klimaschutz kann also (auch) in der Türkei nicht die Rede sein. Vielmehr schien der COP-Auftritt der türkischen Gesandten einer propagandistischen Selbstdarstellung zu dienen und die „UN-Greenwashing-Konferenz“ in der ägyptischen Diktatur unter dem Hauptsponsor Coca-Cola diente dafür als ideale Bühne.
Denn Erdogan ist auf den Goodwill der Nationen-Gemeinschaft angewiesen, um seine militärischen Angriffe auf die kurdische Bewegung und deren Autonomiegebiete zu legitimieren. Der Klimaschutz dient hierfür höchstens als Deckmantel.
Erdogans Krieg gegen die Kurd*innen
Den Kurd*innen gelang im Zuge des Arabischen Frühlings in Nordsyrien eine Revolution. Seit 2012 verwalten sie ein Gebiet, das sie Rojava nennen, und haben dort begonnen, eine Gesellschaft mit den Grundpfeilern der föderalistischen Basisdemokratie, der Frauenbefreiung und der Ökologie aufzubauen.
Das autonome, in Räten organisierte Gebiet erstreckt sich heute über Rojava hinaus und bedeckt eine grosse Fläche Syriens. Wie die Rosa Luxemburg Stiftung schreibt, wurden im vergangenen Jahrzehnt verschiedene basisdemokratisch organisierte Unternehmen aufgebaut, ganze Landstriche aufgeforstet und eine Ökologieakademie gegründet, welche Projekte in der Region vorantreibt.
Zudem wurde die internationale Kampagne „Make Rojava Green Again“ lanciert, welche zum Ziel hat, ein ökologisches Bewusstsein in die international organisierte Freiheitsbewegung hineinzutragen. Dadurch besitzt Rojava nicht nur in der Region, sondern auch global eine grosse Strahlkraft.
Doch die Kurd*innen befinden sich in einer ungewissen Situation. Während sie auf der einen Seite den Islamischen Staat (IS) bekämpfen müssen, stellt auf der anderen Seite der türkische Staat unter Präsident Erdogan eine existenzielle Bedrohung dar.
Erdogan hat zum Ziel, eine dreissig Kilometer breite sogenannte Sicherheitszone an der ehemals türkisch-syrischen Grenze zu errichten, in die er syrische Migrant*innen umsiedeln kann. Dies berichtet unter anderen das Rojava Information Center (RIC), eine unabhängige Medienorganisation mit Sitz in Nordsyrien, in ihren „Occupation Reports“. Erdogan will das Gebiet von den Kurd*innen ethnisch säubern und die kurdische Organisierung als Ganzes zerschlagen.
Hierzu nutzt er jede Gelegenheit, so auch das Erdbeben vom 6. Februar 2023. Während Erdogan aus dem sicheren Ankara weitere Luftangriffe auf Kurdistan befiehlt, verhindert er, dass humanitäre Hilfe zu den Erdbebenopfern in den autonomen Gebieten gelangen kann.
Auch gewisse Hilfsorganisationen – spezifisch der Rote Halbmond, welcher momentan auch mit dem Roten Kreuz zusammenarbeitet – wurden von Erdogan und seinem Umfeld schon genutzt, um die eigenen Kassen zu füllen, anstatt die nun vom Erdbeben betroffenen Regionen zu unterstützen.
Rojava und dessen sozio-ökologische Versuche werden von türkischer Seite auch in Krisensituationen konstant angegriffen. Obwohl das ökologische Projekt an sich ein passendes Thema für die COP wäre und die basisdemokratischen Versuche der Kurd*innen, gerade für die „demokratische“ Schweiz spannend wären, ist Kurdistan in der internationalen Gemeinschaft kaum je Thema.
Dies hängt wohl in erster Linie mit der Präsenz der Türkei an UN-Konferenzen und dem Einfluss Erdogans auf den Westen zusammen. Geschwiegen wird in der Konsequenz dann aber nicht nur über Rojava, sondern auch über die Ziele Erdogans und die menschen- und klimaverachtende Art und Weise, wie er diese verfolgt. Denn auch die Natur wird im Kampf gegen die Kurd*innen bewusst zerstört.
Zerstörung der Natur als Kriegstaktik
Im Mittleren Osten haben gerade der Irak und Syrien mit einer zunehmenden Wasserknappheit zu kämpfen. Dies ist nicht nur eine Folge der Klimakrise, sondern hat auch viel mit der politischen Lage in der Region zu tun, wie in einem von der EU finanzierten Bericht des „Middle East Directions Programme“ steht. Der Euphrat als grösster Wasserstrom im Mittleren Osten ist für die Wasserversorgung in der Region unerlässlich. Er entspringt in der Türkei, die nicht davor zurückschreckt, ihn als Machthebel zu benutzen.
So hat die türkische Regierung in den vergangenen Jahren 22 neue Staudämme bauen lassen, mit welchen sie das Wasser im eigenen Land zurückhält. Laut dem erwähnten Bericht war der Wasserstand des Euphrats 2021 auf einem nie da gewesenen Tiefstand. Hunger, Krankheit und zerstörte Ökosysteme in den Gebieten weiter flussabwärts sind die direkten Folgen davon.
In dem von der Türkei seit 2018 eroberten Gebiet Afrîn, einem Teil Rojavas, wurden übereinstimmenden Medienberichten zufolge 1.5 Millionen Bäume gerodet, die Hälfte davon hunderte Jahre alte Olivenbäume. So soll kurdischen Milizen der Aufenthalt in der Region erschwert werden. Doch nicht nur das Anheizen der Klimakrise durch dieses unmittelbare Zerstören der Natur macht den Angriffskrieg auf Rojava klimaschädlich.
Zerbombte Infrastruktur und die Emissionen
Auch wenn Angriffe auf zivile Infrastruktur völkerrechtlich verboten sind, greifen kriegsführende Länder regelmässig Schulen, Spitäler, Kraftwerke, Staudämme und Ähnliches an. Auch in den momentanen Bombenangriffen auf Rojava wurde die Energieversorgung anvisiert. Deren Wiederaufbau erfordert zukünftig ungeheure Ressourcen. Hinzu kommen die Emissionen für die kriegerischen Handlungen selbst und die dadurch verursachten Fluchtbewegungen.
Zum Krieg in Rojava existieren keine offiziellen Zahlen betreffend der Höhe der durch den Krieg verursachten Emissionen. Beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hingegen schon: Dieser hat laut einem Bericht aus dem vergangenen November bis dahin für mindestens 100 Millionen Tonnen an THG-Emissionen gesorgt, was dem Doppelten der jährlichen Emissionen der Schweiz entspricht.
Auch wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj es zu Beginn der COP27 forderte: Angerechnet an die THG-Emissionen eines Landes werden diese Kriegsemissionen von der UNO nicht. Die Klimakrise wird beim Versuch Kriege zu gewinnen ignoriert. Ob Erdogan oder Putin – um machtpolitische Ziele zu erreichen, wird das Klima nachhaltig geschädigt. Im Gegensatz zu Putin hat Erdogan jedoch seit vier Jahren keine Bodenoffensive mehr befohlen. Hierfür hat er seine Gründe.
Internationale Machtspiele
Seit Jahren führen die kurdischen Milizen YPG/YPJ den Kampf der Syrian Democratic Forces (SDF) gegen den IS in Nordsyrien an. Hierbei arbeiten sie aus taktischen Gründen unter anderem mit verschiedenen NATO-Ländern zusammen. Die Türkei als Teil der NATO kann deshalb nicht offiziell in Nordsyrien einmarschieren. Trotzdem haben die letzten Jahre verdeutlicht: Der Globale Norden schert sich herzlich wenig um Kurdistan.
So veranlasste Donald Trump 2019 den Abzug US-amerikanischer Truppen aus Nordsyrien, obwohl klar war, dass im Anschluss eine Offensive durch die Türkei auf Rojava drohen würde und die NATO-Länder verkaufen immer wieder Waffen an die Türkei, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass diese für die systematische Ermordung von Kurd*innen genutzt werden.
Auch im Kontext der momentanen humanitären Katastrophe in der Region schweigen die NATO-Länder lieber, als die Türkei für ihre mutwillige Verschlimmerung der Lage zu kritisieren. Hinzu kommt: Erdogan kennt sich mit innerimperialen Widersprüchen der NATO aus und ist sich nicht zu schade, diese immer wieder zu forcieren und in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Ein Beispiel: Erdogan nutzt Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden und die Uneinigkeit respektive Unfähigkeit der europäischen Staaten im (Nicht-)Umgang mit Migrant*innen als Druckmittel gegen die EU, was ihm den Zugang zu den Erdgasvorkommnissen im Mittelmeerraum vereinfacht.
Ein weiteres Beispiel: Erdogan zögerte 2015 die Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens bewusst hinaus und forderte, dass die Türkei nicht mehr dem Kyoto-Protokoll unterstehe. Diesem Protokoll, welches die Industrienationen aufgrund ihrer historischen Schuld zur Reduktion von CO2-Emissionen verpflichten sollte, trat die Türkei 1997 bei.
Damals wollte sie sich als aufstrebende Industrienation präsentieren. Solche sind aber nicht berechtigt, auf internationale Milliardengelder für Klimaschutzprojekte in „armen Ländern“ zurückzugreifen. Daher wollte Erdogan 2015 die Türkei von der Liste der Industrieländer streichen.
Andere Parteien fürchteten jedoch, dass durch jegliche Änderung die Liste als Ganzes infrage gestellt würde, da verschiedene Länder wie China bis zu diesem Zeitpunkt nicht als Industrienation deklariert waren. Die Türkei unterschrieb das Pariser Klimaabkommen erst, als Frankreich, Deutschland und die Weltbank im Zuge der COP26 über Umwege Milliardenkredite für die Türkei organisierten.
Zuletzt nutze Erdogan auch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine spezifisch für seinen Kampf gegen die Kurd*innen: Der Eintritt von Schweden und Finnland in die NATO vergangenen Sommer erforderte Einstimmigkeit. Die Türkei machte ihre Zustimmung unter anderem davon abhängig, dass die Länder ihre Waffenlieferungen an die YPG, welche die Kurdenmiliz im Kampf gegen den IS braucht, einstellen. Erst als die Länder einwilligten, zog Erdogan sein Veto zurück.
Der Realität trotzen
Das Auftreten der Türkei im internationalen Kontext dient immerzu der eigenen Positionierung auf dem globalen politischen Parkett und somit auch einer Legitimation der völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen gegen die kurdischen Autonomiegebiete. Die internationale Gemeinschaft bietet dem Despoten Erdogan aber kaum je Paroli. Zu gross ist die Angst vor Konflikten und Profiteinbussen, zu klein scheint das Interesse am Menschen zu sein.
Das Auftreten der Türkei an der COP27 war wohl nicht nur aus ökologischer Sicht heuchlerisch, sondern ein weiteres Kapitel in diesem tödlichen Spiel Erdogans mit den anderen NATO-Ländern. Als am 20. November 2022 Bomben auf Rojava fielen, ging das Kalkül Erdogans ein weiteres Mal auf.
Weder die Tatsache, dass bei internationalen institutionellen Kongressen Machtpolitik betrieben wird, noch die Erkenntnis, dass die UN-Klimakonferenz davon nicht ausgenommen ist, überraschen. Die Gleichgültigkeit des Globalen Nordens gegenüber einem ökologischen und basisdemokratischen Projekt wie in Rojava ist nichts Neues. Dass in der machtpolitischen Welt der Kriege ökologische Überlegungen hintenanstehen, ist bekannt.
Das Erdbeben in der Türkei zeigt jedoch erneut die Notwendigkeit, dieser traurigen Realität zu trotzen. Nur dank solidarischer Unterstützungsstrukturen gelingt es momentan, Hilfsgüter nach Rojava zu bringen.
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