Kriti­sche Intel­li­genz und künst­liche Kunst

Die Kunst­branche disku­tiert über „künst­le­ri­sche Intel­li­genz“ als trans­for­ma­tive Kraft. Liegt in der Kunst das Poten­zial, globale Krisen zu lösen? Kolum­ni­stin Ann Mbuti über die Frage, wie viel poli­ti­sche Möglich­keit in einer Diszi­plin liegt, die zwischen Frei­heit und Markt­logik funktioniert. 
Kunstwerke – auch die von künstlicher Intelligenz – entstehen nicht in einem Vakuum, sondern sind stark von ihrer Zeit beeinflusst. (Bild: Pascal Bernardon / Unsplash)

Ende November sass ich in einem grauen Semi­nar­raum der NABA, der Mailänder Kunst­aka­demie, umgeben von einer bunt zusam­men­ge­wür­felten Gruppe von Teil­neh­menden von Kunst­hoch­schulen aus verschie­denen Teilen der Welt. Wir waren für die ELIA Bien­nale 2024 zusam­men­ge­kommen, die unter dem Motto Arts Plural stand. 

Alle zwei Jahre versam­meln sich Studie­rende und Lehrende von Kunst­hoch­schulen, um sich über aktu­elle Themen rund um Kunst und Design auszu­tau­schen und ihre Rolle in der Gesell­schaft zu reflek­tieren. Anders gesagt: Vertreter*innen der Kunst­aka­de­mien versi­chern sich gegen­seitig ihre Relevanz.

An der dies­jäh­rigen Ausgabe stand unter dem Motto Arts Plural die Idee von künst­le­ri­scher (nicht künst­li­cher) Intel­li­genz im Zentrum. 

Die Grund­prä­misse: Künstler*innen und Designer*innen verfügen über eine beson­dere Form von Wissen und Intel­li­genz. Was das genau bedeutet? In der Beschrei­bung der Veran­stal­tung war die Rede von einem „System von Fähig­keiten zur Wahr­neh­mung, Einsicht, Empfin­dung, Schöp­fung und Entschei­dungs­fin­dung“, das „seit Jahr­hun­derten die mensch­liche Evolu­tion über Grenzen hinaus vorantreibt“. 

Klingt ambi­tio­niert und gleich­zeitig vage genug, um sich nicht angreifbar zu machen – ein typi­scher Text im Kunst­sprech also.

Längst sind die Zeiten vorbei, in denen das Wissen der Welt zwischen zwei Buch­deckel passen musste. Gut so, denn statt in verstaubten Enzy­klo­pä­dien im unter­sten Regal­fach kann Wissen in ganz unter­schied­li­chen Formen kommen. 

Doch was zählt über­haupt als Wissen? Wer bestimmt darüber und wer hat Zugang dazu? In der Annzy­klo­pädie widmet sich Ann Mbuti den Wissens­formen unserer Zeit. Mit kriti­schem Blick und einer gesunden Skepsis nimmt sie unsere indi­vi­du­ellen Perspek­tiven und Erfah­rungen unter die Lupe, die die Art und Weise prägen, wie Wissen gesam­melt und inter­pre­tiert wird.

Ann Mbuti ist unab­hän­gige Autorin mit Schwer­punkt auf zeit­ge­nös­si­scher Kunst und Popkultur. Ihre Arbeit konzen­triert sich auf künst­le­ri­sche Projekte, die das Poten­zial für soziale, poli­ti­sche oder ökolo­gi­sche Verän­de­rungen haben. Derzeit beschäf­tigt sie sich mit Mytho­lo­gien, münd­li­cher Geschichte, Science Fiction und der Verschmel­zung von Fakten und Fiktion. Seit 2024 ist sie Profes­sorin für Prozess­ge­stal­tung am Hyper­Werk der Hoch­schule für Gestal­tung und Kunst in Basel.

Künstler*innen werden schon länger als Akteur*innen des Wandels in Politik, Ökologie, Tech­no­logie und Ethik verstanden und Kunst nicht nur als ästhe­ti­sche Welt­erfah­rung, sondern als Werk­zeug für gesell­schaft­li­chen Wandel. 

Häufig ist von der trans­for­ma­tiven Kraft der Kunst die Rede, von der Fähig­keit, bestehende Denk­weisen, soziale Struk­turen oder kultu­relle Normen zu hinter­fragen und zu einem Umdenken anzu­regen. Kunst ist Kata­ly­sator, bietet Raum für Refle­xion, macht komplexe Themen emotional erfahrbar und eröffnet alter­na­tive Perspek­tiven. Blablabla. 

ELIA hat dem Ganzen noch einen neuen Namen gegeben, der sich neckisch an den grossen Mythos unserer Zeit anlehnt: KI als künst­le­ri­sche statt künst­liche Intelligenz.

Kunst als Methode

Versteht mich nicht falsch; ich glaube absolut, dass es Dinge gibt, die man durch Kunst anders betrachten und verstehen lernt. Ich glaube auch an die Kraft, die eine echte Verbin­dung zu einem Werk frei­setzt. Mir ist dieser innere Wow-Moment beim Betrachten von Kunst oft genug begegnet, um mich wieder und wieder an Bien­nalen, Ausstel­lungen, Perfor­mances und Openings zu treiben, immer auf der Suche nach diesem Kick.

Zudem haben sich in den letzten Jahren neue Ansätze im Bereich der künst­le­ri­schen Forschung heraus­ge­bildet, als Kunst­hoch­schulen begannen, sich stärker auf akade­mi­sche Forschungs­tra­di­tionen einzu­lassen. Inzwi­schen gibt es eine Viel­zahl an Studi­en­pro­grammen, die Kunst als Forschung betreiben und Künstler*innen, die ihre Praxis mit Forschung verbinden und artistic rese­arch prak­ti­zieren. Künstler*innen expe­ri­men­tieren, schaffen und reflek­tieren dabei in einer Weise, die zwar ähnliche Fragen stellt, aber weniger syste­ma­tisch vorgeht als wissen­schaft­liche Erkennt­nis­mo­delle es verlangen. 

Künst­le­ri­sche Forschung etabliert sich langsam als Wissen­schafts­zweig und wird in Fach­kreisen immer anerkannter.

Kunst ist dabei nicht das Ergebnis, sondern die Methode. Ein Beispiel: Ein Disser­ta­ti­ons­pro­jekt an der Zürcher Hoch­schule der Künste unter­suchte die Frage, ob eroti­sches Begehren nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Performer*innen und dem Raum, in dem sie auftreten, entstehen kann. Statt das Thema philo­so­phisch oder psycho­lo­gisch abzu­han­deln, nutzte es Perfor­mances als Methode, um diese Frage zu beantworten.

Künst­le­ri­sche Forschung etabliert sich langsam als Wissen­schafts­zweig und wird in Fach­kreisen immer aner­kannter. Das Konzept Künst­le­ri­sche Intel­li­genz hingegen, die dabei ange­wendet wird, ist noch immer schwammig defi­niert und wenig bekannt. 

An den verschie­denen Veran­stal­tungen der ELIA Bien­nale, die ich besuchte, kam die Frage auf, inwie­fern wir künst­le­ri­sche Intel­li­genz dazu nutzen können, um globale Heraus­for­de­rungen wie die Klima­krise zu lösen. Beispiels­weise, indem wir der Intui­tion ein stär­keres Gewicht einräumen – wie es eben die Künste tun – und dadurch die Tren­nung des Menschen von seiner Umwelt infrage stellen. Oder indem wir durch Zusam­men­ar­beit, Auspro­bieren und  Testen, wie es eben die Künste tun, auf über­ra­schende neue Ideen kommen.

Das Ziel der Diskus­sionen, Work­shops und Keynotes war es, dieses Wissen nutz- und lehrbar zu machen, um die grossen Probleme unserer Zeit zu lösen. Es ging aber nicht darum, dieses Wissen genauer zu bestimmen.

Kriti­sche Theorie für künst­le­ri­sche Intelligenz

Dabei ist auch die Idee nicht neu, dass Kunst frei sein sollte, um neue Wege und Lösungen zu finden. Bereits in den Über­le­gungen der Frank­furter Schule, die in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts die Kriti­sche Theorie hervor­brachte, wurde Kunst als auto­nomes Feld und freier Ausdruck von Krea­ti­vität betrachtet. 

Der deut­sche Philo­soph und Sozio­loge Theodor W. Adorno formu­lierte jedoch in seinem Buch „Ästhe­ti­sche Theorie“ von 1970 eine Einschrän­kung. Die Kunst habe einen „Doppel­cha­rakter“: Jedes Kunst­werk sei zwar autonom, gleich­zeitig aber auch eine soziale Tatsache, die in die Wider­sprüche und Macht­ver­hält­nisse der bürger­lich-kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft ihrer Zeit einge­bettet ist. Kunst­werke entstehen also nicht in einem Vakuum, sondern sind stark von ihrer Zeit beein­flusst. Sie funk­tio­nieren aber gleich­zeitig unab­hängig von all dem auf einer ästhe­ti­schen Ebene. Durch diesen doppelten Charakter von “frei” und “unfrei” schafft es die Kunst, eine kriti­sche Funk­tion zu erfüllen, indem sie Wider­sprüche und Macht­ver­hält­nisse ihrer Zeit in sich trägt und sichtbar macht. 

Kriti­sche künst­le­ri­sche Intel­li­genz könnte Wider­sprüche und Span­nungen der sozialen Realität offen­legen, ohne sie zu harmo­ni­sieren oder zu glätten.

Am Ende der ELIA-Tage hatte ich so viele welt­ver­än­dernde Kampf­an­sagen und Absichts­er­klä­rungen der künst­le­ri­schen Intel­li­genz gehört, dass ich die Erkennt­nisse Adornos vermisste. 

Eine entschei­dende Frage ist schliess­lich, ob diese Form der Intel­li­genz tatsäch­lich frei und autonom genug ist, um trans­for­ma­tive Poten­ziale zu entfalten – oder ob sie zu sehr in die Repro­duk­tion des Status quo verstrickt ist.

Lösen wir mit mehr Intui­tion tatsäch­lich die Grenze zwischen Mensch und Umwelt auf oder füllen wir nicht nur die Ausstel­lungs­häuser mit weiteren Werk­zy­klen, die vorgeben, gesell­schaft­lich rele­vant zu sein, aber nach dem Verkauf vor allem für Sammler*innen, Gale­rien und Kunst­messen rele­vant werden?

Gerade das kriti­sche Hinter­fragen solcher Wider­sprüche macht sie so span­nend. Ja, es braucht beson­dere Denk- und Arbeits­weisen und Fähig­keiten in der Kunst wie Intui­tion, visu­elles Verständnis oder imagi­na­tives und senso­ri­sches Gespür. Aber im Sinne Adornos sollte künst­le­ri­sche Intel­li­genz nicht nur ein Set von Fähig­keiten sein, sondern eine Haltung: Kriti­sche künst­le­ri­sche Intel­li­genz könnte Wider­sprüche und Span­nungen der sozialen Realität offen­legen, ohne sie zu harmo­ni­sieren oder zu glätten. Sie müsste sich bewusst der Instru­men­ta­li­sie­rung durch Markt­me­cha­nismen oder poli­ti­sche Inter­essen wider­setzen und statt­dessen auf eine auto­nome ästhe­ti­sche Praxis abzielen, die sich der sozialen Eman­zi­pa­tion verpflichtet. Mal sehen, ob die nächste ELIA Bien­nale sich das zum Ziel setzt.


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