Als zu Beginn der Pandemie Menschen gegen die Coronamassnahmen auf die Strasse gingen, hinterliess ihre Zusammensetzung einen kuriosen Eindruck: Ökoaktivist:innen Schulter an Schulter mit rechten Influencern, Antikapitalist:innen neben Wutbürger:innen, Esoteriker:innen zusammen mit Verschwörungsgläubigen.
Doch die Zusammensetzung der Proteste ist naheliegender, als sie auf den ersten Blick scheint. In seinem Buch Die Legende von den Strippenziehern: Verschwörungsdenken im Zeitalter des Wassermanns analysiert der Journalist Peter Bierl den ideologischen Boden, auf dem diese Menschen zusammenfanden.
Dabei geht es dem Autor nicht um ein Soziogramm der Demoteilnehmenden und auch nicht darum, ihre Behauptungen zu widerlegen. Stattdessen geht der Text der Frage nach: Wie funktioniert das Denkgerüst derer, die gegen „Plandemie“ und „Gesundheitsdiktatur“ wettern?
Das Heft ist eine Handreichung an all jene, die sich während der vergangenen 16 Monate beim Nachrichtenschauen oder in Diskussionen mit Freund:innen und Familie des Öfteren an den Kopf fassen mussten vor Verwunderung.
Das von Katharina Kulenkampff illustrierte Heft verspricht nicht nur intellektuellen, sondern auch visuellen Genuss. Es erschien in der Reihe MaroHefte des MaroVerlags.
Bierl steigt ein mit leiser Kritik an Identitätspolitik und ihrer „postmodernen Beliebigkeit“, in der ein Standpunkt immer subjektiv und daher alle Meinungen und Wahrnehmungen gleich viel wert sind. Das passt gut zur Forderung vieler Querdenker:innen, auch Wissenschaftler:innen zu Wort kommen zu lassen, die dem wissenschaftlichen Konsens zur Pandemie widersprechen.
Der Kern der Ausführung aber ist die Analyse eines „Extremismus der Mitte“. Die Menschen, die in Zürich, Berlin, Liestal und Stuttgart zu Tausenden auf die Strasse gingen, sind keine Widerständigen, obwohl sie sich selbst als „Rebellen“ bezeichnen. Trotzdem hat sich in weiten Teilen dieser selbsternannten „gesellschaftlichen Mitte“ eine Ablehnung gegen zentrale Merkmale des Kapitalismus festgesetzt: Auf den Demonstrationen wird gegen profitgierige Pharmakonzerne, mächtige Milliardäre und Lobbyismus gewettert. Anselm Lenz, Herausgeber der Querdenkenzeitung Demokratischer Widerstand spricht auch gerne vom „Zusammenbruch des Finanzmarktkapitalismus“, der kurz bevorstehe.
Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass die Teilnehmenden der Querdenkenproteste in Deutschland zum Teil dieselben sind, die schon an den Friedensmahnwachen, bei den Occupy-Demos oder an den Protesten gegen das Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) teilgenommen hatten. Diese Menschen sind unzufrieden mit gewissen Konsequenzen des aktuellen Wirtschaftssystems.
Nur geht es in der Kritik der entsprechenden Proteste nicht darum, zu verstehen, wie Kapitalverwertung funktioniert und warum sie mit Ausbeutung von Menschen und Natur einhergeht. Es geht nicht darum, zu verstehen, warum Bill Gates reich ist oder weshalb Pharmafirmen finanziell von einer Pandemie profitieren können. Eine solche Analyse im Sinne von Marx käme zum Schluss: Ein Konzernchef muss um jeden Preis Profit machen, wenn er nicht untergehen will, nicht, weil er ein ethisch fragwürdiger Mensch ist. So funktioniert Kapitalismus.
Querdenkende hingegen sehen nur: „Die da oben“ handeln unmoralisch, sie gehören ausgetauscht.
Bierl bringt diese Haltung auf den Punkt, wenn er schreibt, es „werden Entwicklungen, die mit kapitalistischen Mechanismen zu erklären sind, als unlautere Machenschaften von Strippenziehern hinter der Bühne missverstanden“. Es handelt sich um eine Kapitalismuskritik, die eigentlich keine ist.
Dass die durch und durch bürgerlichen Teilnehmenden der Querdenkenproteste gerade nicht an den Grundfesten des Kapitalismus rütteln wollen, ist nach Bierls Lektüre einleuchtend: Zu sehr sind sie selbst Teil davon. Oder wie Bierl es pointiert formuliert: „Das Unheil ist fest verwurzelt in dem, was der Mitte heilig ist: den Eigentumsverhältnissen und dem Markt.“ Lieber schieben sie die Schuld auf die „Strippenzieher“.
Und schon sind wir mitten im Verschwörungsglauben.
Vorzugsweise werden als Abziehbilder des Bösen Banker, Spekulanten und „Börsianer“ inszeniert, „die sich parasitär an einer idealisierten Realwirtschaft mästen würden, in der fleissige Unternehmer:innen und ihre Mitarbeiter:innen für das Gemeinwohl werkeln“, so Bierl. Die antisemitische Schlagseite solcher Überzeugungen muss nicht ausformuliert werden.
Damit ist auch angedeutet, wozu die Querdenken-Ideologie führen kann: Verschwörungsglaube und Aufstand der sogenannten „Mitte“ laufen immer Gefahr, ins Autoritäre, ins Faschistische zu kippen. Die von rechten Agitator:innen erfundenen „Protokolle der Weisen von Zion“ etwa leisteten dem Naziregime Vorschub. Bürgerliche Parteien, gewalttätige Schlägertrupps und die aufgebrachte Masse verhalfen der NSDAP zu ihrem Aufstieg. Die Konjunktur der Verschwörungstheorien sei daher eine „autoritäre Regression“, so Bierl.
Bierl geht nicht nur mit Schwurblern und Rechten hart ins Gericht, sondern auch mit denen, die Rechte bekämpfen, die eine „offene Gesellschaft“ feiern. Denn sie meinen damit immer noch eine Klassengesellschaft, wie Bierl feststellt, ohne diesen Umstand grundlegend zu bekämpfen. Er schreibt: „Längst hat die Verschwörungsideologie jene ergriffen, die kruden Imperialismustheorien anhängen, bloss Finanzmagnaten ins Visier nehmen oder vermeintlich multinationale Konzerne, die zwar ihren Geschäften in vielen Ländern nachgehen, aber im Regelfall von einem nationalen Kapital dominiert werden.“
Der Text seziert mit scharfer Klinge ein unübersichtliches und widersprüchliches Phänomen. Anstatt schnelle Schlüsse zu ziehen und zu assoziieren, ordnet er ein, stellt heraus, unterfüttert, argumentiert. Und macht damit genau das, was die Querdenken-Protestierenden nicht tun.
Die analytische Präzision ist vorbildlich. Wenn an Hausmauern „eat the rich“ steht oder die Juso eine Rhetorik der „99 Prozent“ bemüht, um eine Steuerinitiative zu bewerben, ist Differenzierung nämlich dringend nötig.
Peter Bierl und Katharina Kulenkampff: Die Legende von den Strippenziehern. Verschwörungsdenken im Zeitalter des Wassermanns. Ein ideologiekritisches Heft. MaroVerlag, 2021.