Liebe Leser:in: Bereust du, irgendwas an deiner Jugend? Warst du zu brav? Zu angepasst? Hast du Dinge nicht gemacht, die du heute gerne nachholen würdest, für die du jetzt jedoch zu alt bist?
Stefanie Sargnagels Jugend im Wien der 90er-Jahre war vieles, aber bestimmt nicht langweilig oder wenig ereignisreich. Das Buch, welches die heute 35-Jährige über diese Zeit geschrieben hat ist irgendwie jetzt schon Kult, auch wenn es vor nicht mal einem Jahr erschienen ist.
In Dicht, einem kleinen roten Büchlein, das man gut und gerne auch in einer Nacht durchlesen kann, erzählt Sargnagel eine zeitgenössische, authentische und gradlinige Geschichte, ohne Schnickschnack, ohne sprachliche Verrenkungen und ganz eindeutig ohne den Drang, sich sprachlich zu profilieren oder jemandem etwas beweisen zu müssen. Ihr autobiografischer Debütroman handelt von der Flucht aus der Langeweile des Alltags, dem Durst nach Erleben und dem Rausch der Jugend, von Drogen, von schweren Krankheiten, alten und neuen Freunden, von einer multikulturellen Stadt und all ihren Bewohner:innen, vom Versagen und, so abgedroschen es klingen mag, von Freundschaft.
Statt sich dem öden Schulalltag hinzugeben, verbringt die Ich-Erzählerin ihre Zeit auf den Strassen Wiens, wo sie unter dem Einfluss diverser Substanzen allerlei Bekanntschaften macht: Säufer und Hippies, Kriegstraumatisierte und verunsicherte Nazis, Arbeitslose und schizophrene Mathematiker. Wer Sargnagels Aufzeichnungen liest, erkennt entweder sich selbst in ihren Erzählungen wieder oder bereut, nie eine so ausgelassene Jugend gehabt zu haben. Es sind unmittelbare Bekanntschaften, welche die Autorin in simpler Sprache skizziert, ohne sie zu werten oder gegeneinander auszuspielen.
Trotz aller Unbefangenheit wirft Dicht auf subtile Art und Weise auch Fragen auf: Welche Optionen existieren neben dem linearen Bildungsweg? Welche Vorbilder gibt es für junge Menschen in einer hyperindividualisierten, auf Leistung und intellektuelle Anerkennung ausgelegten Gesellschaft? Welche Räume gibt es, in denen sich junge Menschen frei bewegen können, Räume, die frei sind von Konsumzwang oder den kontrollierenden Augen Erwachsener?
Die Protagonistin findet einen solchen Raum in der Wohnung eines verwahrlosten, queeren und schwerkranken Vierzigjährigen: Michi. In dem exzentrischen Mann findet sie auch ein Vorbild – und nicht nur sie.
Sargnagels Debüt ist eine Geschichte, die ganz ohne moralische Zwänge auskommt, ohne jedoch dabei in zwanghafte Coolness oder das unsympathische Runterleiern von Räubergeschichten zu verfallen. Es ist eine Geschichte, die nicht nur nach eineinhalb Jahren Pandemie Lust darauf macht, auf die Strassen zu gehen, sich zu betrinken und neue Leute kennenzulernen.
Stefanie Sargnagel – Steffi, wie es im Buch steht – würde übrigens bestimmt nicht sagen, dass sie für irgendetwas zu alt ist oder zu bürgerlich, um Verpasstes nachzuholen – auch heute nicht.
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