Dieser Text ist ursprünglich im Magazin +972 erschienen. Selina Schönholzer hat ihn für das Lamm aus dem Englischen übersetzt.
An einem Sonntag Ende Februar erschien die 18-jährige politische Kriegsdienstverweigerin Sofia Orr im Rekrutierungszentrum der Armee in der Nähe von Tel Aviv. Hier erklärte sie, dass sie sich aus Protest gegen den Krieg Israels gegen Gaza weigert, sich zum obligatorischen Wehrdienst zu melden.
Nachdem der ebenfalls knapp volljährige Tal Mitnick letzten Dezember dasselbe tat, verweigert mit Orr nun der zweite Teenager seit dem 7. Oktober öffentlich und aus politischen Gründen den Dienst. Sie wurde zu einer ersten 20-tägigen Haftstrafe im Militärgefängnis Neve Tzedek verurteilt, die voraussichtlich verlängert wird, sollte sie sich weiterhin weigern, zum Dienst anzutreten.
„Die aktuelle Stimmung begegnet meinen Überzeugungen mit deutlich mehr Gewalt, weshalb ich selbstverständlich auch mehr Angst habe. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass es gerade jetzt wichtiger denn je ist, Stimmen des Widerstands zu erheben“, erzählt Orr im Interview. „Ich verweigere mich dem Militärdienst, weil es im Krieg keine Gewinner*innen gibt. Das sehen wir heute deutlicher als je zuvor. Alle Menschen, vom Jordan bis zum [Mittel-]Meer, leiden unter diesem Krieg. Nur Frieden, eine politische Lösung und der Vorschlag einer tatsächlichen Alternative können für Sicherheit sorgen.“
Orr erklärt weiter, dass für sie schon lange vor Kriegsbeginn feststand, dass sie ihre Wehrpflicht verweigern würde; wegen „der Besatzung und Unterdrückung, die die [israelische] Armee gegen die Palästinenser*innen in der West Bank durchsetzt“. Die von der Hamas angeführten Anschläge vom 7. Oktober, so Orr, „haben uns wieder einmal gezeigt, dass Gewalt nur zu mehr Gewalt führt und dass wir das Problem friedlich lösen müssen, nicht durch noch mehr Gewalt.“
Ungefähr dreissig junge linke Aktivist*innen begleiteten Orr bis vors Rekrutierungszentrum. Hier zeigen sie mit einer Kundgebung ihre Unterstützung für Orrs Entscheidung, den Wehrdienst zu verweigern. Damit weckten sie auch das Interesse einiger ultraorthodoxer Jeschiwa-Schüler*innen, die gleichzeitig angereist waren, um sich vom Wehrdienst befreien zu lassen.
Tausende israelischer Jugendlicher werden jedes Jahr vom Wehrdienst befreit – primär aus religiösen Gründen. Doch nur eine Handvoll bekennt sich öffentlich zur politischen Ablehnung des Militärdienstes. Eine politisch motivierte Verweigerung kann neben einer Gefängnisstrafe auch die Berufsaussichten schmälern und zu sozialer Stigmatisierung führen.
Trotz alledem war Orr eine von insgesamt 230 israelischen Jugendlichen, die Anfang September – also vor dem Angriff der Hamas – einen offenen Brief unterzeichneten, in dem sie kollektiv ankündigten, ihren Einberufungsbefehl zu verweigern. Sie verstanden dies als Teil eines breiteren Protests gegen die Vorstösse der rechtsextremen israelischen Regierung, die Macht der Justiz zu beschneiden.
Die Schüler*innen, die sich unter dem Banner „Youth Against Dictatorship“ organisierten, stellten die antidemokratischen Justizreformpläne der Regierung klar mit Israels langjähriger Militärherrschaft über Palästina in Verbindung. Sie erklärten, dass sie nicht in die Armee eintreten würden, „bis die Demokratie für alle, die im Herrschaftsbereich der israelischen Regierung leben, gesichert ist.“
Seit dem 7. Oktober unterstützt die überwältigende Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit die militärischen Angriffe auf Gaza. Linke Aktivist*innen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sind mit heftiger Polizeirepression konfrontiert und regelmässig von „Doxxing“ betroffen; sie werden mit Bild und persönlichen Daten im Internet an den Pranger gestellt. Damit wurde das Risiko für politische Militärdienstverweiger*innen noch höher.
Im folgenden Interview, das der Länge und Klarheit halber gekürzt wurde, erklärt Orr, wieso ihre Entscheidung, den Militärdienst zu verweigern, trotzdem nie ins Wanken geraten ist.
Oren Ziv: Wie kommt es, dass du dich entschieden hast, den Militärdienst zu verweigern?
Sofia Orr: Schon immer habe ich mich mehr den Menschen als Staaten verbunden gefühlt. Richtig klar wurde mir meine Ablehnung der Wehrpflicht aber mit etwa 15. Dann drängten sich mir Fragen auf: Wem würde ich durch meinen Militärdienst wirklich dienen? Wen würde ich damit wobei unterstützen?
Ich begann zu verstehen, dass ich mich mit dem Militärdienst an einem jahrzehntelangen Kreislauf der Gewalt beteiligen und ihn weiter normalisieren würde. Ich realisierte nicht nur, dass ich dies unter keinen Umständen tun kann – sondern auch, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun muss, um dem Kreislauf ein Ende zu setzen und Widerstand zu leisten.
Indem ich offen darüber rede, was der Wehrdienst für mich bedeutet, hoffe ich, auch andere Menschen dazu zu bewegen, über ihren Wehrdienst nachzudenken und zu hinterfragen, ob sie damit etwas Gutes bewirken. Ich tue dies aus Empathie, Solidarität und Liebe für alle Israelis und Palästinenser*innen, die in Israel, Gaza oder in der Westbank leben, unabhängig von ihrer Nationalität oder Religion – aus der einfachen Überzeugung, dass jeder Mensch ein Leben in Sicherheit und Würde verdient.
Du hast deine Meinungen in den Jahren gebildet, in denen viele liberale Israelis gegen die Regierung demonstrierten – auf den „Balfour“-Protesten in Jerusalem um 2020 und den „Kaplan“-Protesten in Tel Aviv im Jahr 2023. Warst Du in diesen Bewegungen aktiv?
Diese Proteste waren wichtig, aber sie fokussierten nie auf das, was meiner Meinung nach die Wurzel des Problems ist. Deswegen war es mir sehr wichtig, an den Protesten teilzunehmen und die Diskussion zu erweitern. Die israelische Gesellschaft versucht mit aller Kraft, die Besatzung und die Palästinenser*innen zu ignorieren, in der Hoffnung, das Problem würde sich einfach auflösen. Aber das tut es nicht, wie wir jetzt sehr deutlich sehen. Das Problem verschwindet nicht einfach, nur weil man wegschaut. Es bleibt, wächst weiter – bis es schliesslich explodiert.
Wie hat dein Umfeld auf deine Entscheidung reagiert?
Die meisten Leute finden mich seltsam und wollen nicht verstehen, wovon ich rede. Sie nennen mich naiv und egoistisch, manchmal auch antisemitisch und eine Verräterin, und wünschen mir alle möglichen gewaltvollen Dinge. Zum Glück begegne ich diesen Reaktionen nicht in meinem nächsten Umfeld, doch ich habe sowohl von Freund*innen als auch Verwandten schwierige Rückmeldungen erhalten.
Nach dem 7. Oktober mit der Welle der „Desillusionierten“ wurde es viel schlimmer. So nennen sich Leute, die vor dem 7. Oktober an die Möglichkeit einer [friedlichen politischen] Lösung geglaubt hatten und diese Hoffnung danach verloren. Dabei hat der 7. Oktober genau bewiesen, dass eine politische Lösung notwendig ist. Sonst wird die Gewalt weitergehen.
In der israelischen Gesellschaft herrscht ein noch nie da gewesenes Verlangen nach Rache. Siehst du deine Verweigerung als Versuch, die Öffentlichkeit zu überzeugen oder als deklarative Aktion angesichts dieser Welle?
Auch wenn ich damit niemanden überzeuge, stehe ich hinter meiner Entscheidung zu verweigern. Es ist das einzig Richtige. Aber ich weiss nicht, ob ich es öffentlich tun würde, hegte ich nicht die Hoffnung, dass Leute mich hören werden; dass es immer noch einen gewissen Raum für Gespräche gibt.
Es ist mir wichtig, die israelische Gesellschaft zu erreichen, vor allem junge Leute, die am gleichen Punkt stehen wie ich, und ihnen aufzuzeigen, warum ich mich so entschied.
Hast du Freund*innen oder Verwandte, die gerade in Gaza dienen?
Innerhalb von Gaza – nein. Aber ich habe sehr viele Freund*innen, die in der Armee dienen oder gedient haben. Ich will auch für sie nur das Beste. Ich will, dass der Staat aufhört, Soldat*innen in den Tod zu schicken. Ich will, dass sie ein normales Leben führen können – doch sie sehen das anders.
Haben dir Begegnungen mit Palästinenser*innen geholfen, dich für die Verweigerung zu entscheiden?
Meine Überzeugungen waren auch schon bevor ich Palästinenser*innen kennenlernte ziemlich gefestigt. Doch die Begegnungen machten alles konkreter: Menschen kennenzulernen, von denen uns immer erzählt wurde, sie seien unsere Feinde, und zu sehen, dass sie ganz normale Menschen wie du und ich sind, Menschen, die genau wie ich einfach ihr Leben leben wollen.
Die Entmenschlichung ist ein gewaltiges Problem, deshalb sind diese Begegnungen sehr wichtig. Denn in dem Moment, in dem man aufhört zu glauben, dass Palästinenserinnen Menschen sind, wird es möglich, ihrem Leben den Wert abzusprechen; wird es möglich, sie umzubringen, ohne nachzudenken.
Machst du dir Sorgen, im gegenwärtigen politischen Klima ins Gefängnis zu gehen?
Ja, natürlich. Die momentane Stimmung begegnet meinen Überzeugungen und meiner Entscheidung mit enormer Gewalt. Es versteht sich also von selbst, dass ich sowohl vor der Gefängnisstrafe als auch von den Reaktionen draussen Angst habe. Aber genau das macht die Entscheidung für mich umso wichtiger. In diesen Zeiten ist es wichtiger denn je, eine Stimme des Widerstands und der Solidarität zu erheben und nicht tatenlos zuzusehen.
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