Leuthards UVEK steht offi­ziell vor Gericht wegen viel schlechter Luft. Derweil russen Diesel­fahr­zeuge heim­lich weiter

Good News vs. Bad News 2:1: Im Juni zeich­nete sich ab, dass der VW-Skandal sich zum gene­rellen Abgas­skandal ausweitet. Lärm­ge­pei­nigte und Klima­be­sorgte vereinen ihre Kräfte gegen die Flug­in­du­strie. Und aufmüp­fige Senio­rinnen gehen im Unter­las­sungs­fall „Klima­wandel“ gegen Leuthards UVEK vor Gericht. 
Sind neue Autos nur auf dem Papier sauberer? Ein ehrlich russender Renault 4. (Foto: Ilya Boyandin)

Wie schlimm steht es wirk­lich um die Welt? Das weiss niemand ganz genau. Eine Nach­richt jagt die nächste – wie einen Über­blick gewinnen, das Chaos ordnen? Wir helfen, indem wir ausge­wählte News häpp­chen­weise servieren und einordnen. So liefern wir Ihnen einmal pro Monat Anhalts­punkte zur Lage der Welt aus Lamm-Sicht.

Heute: Der VW-Abgas­skandal war nur der Anfang.// KLUG gegen die Flugindustrie.// Leuthards UVEK im Unter­las­sungs­fall „Klima­wandel“ vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Bad News: Die Diesel­fahr­zeuge russen heim­lich weiter

Was ist passiert? Die Eidge­nös­si­sche Mate­ri­al­prüf­an­stalt EMPA hielt in ihrem Bericht vom Mai 2017 fest: Die Betrü­gerei mit Auto-Abgas­werten ist nicht der Einzel‑, sondern der Normal­fall. Doch der Reihe nach: Als am 18. September 2015 der VW-Abgas­skandal aufflog, gingen die Wogen hoch. Der deut­sche Fahr­zeug­her­steller hatte in insge­samt 11 Millionen Fahr­zeugen eine ille­gale Soft­ware instal­liert, die den Abgas­test­be­trieb erkennt – hohe Dreh­zahlen bei gleich­zei­tigem Still­stand des Fahr­zeugs – und während des Test­be­triebs die Abgas­rei­ni­gung opti­miert. Im Normal­be­trieb aber schal­tete die Abgas­rei­ni­gung auto­ma­tisch ab – zur Scho­nung des Motors und der Abgasreinigungssysteme.

Was zuerst nach einem reinen VW-Skandal aussah, weitete sich nach und nach auf weitere Auto­her­steller aus. Als die EMPA im Januar 2017 einen Renault Mégane, „Car of the Year 2016”, auf eine Spritz­tour mitnahm, um an seinem Auspuff zu schnüf­feln, mass sie erschreckend hohe 1300 mg Stick­oxide (NOx) pro Kilo­meter (erlaubt sind ab Oktober 2017 ledig­lich 170 mg/km). Damit stösst der Mégane gemäss EMPA-Bericht „etwa gleich viel aus wie ein 10 bis 15 Jahre alter Diesel”. Die EMPA stellte fest: „Bei der Mess­fahrt schal­tete sich offenbar die Abgas­rück­füh­rung ab, viel­leicht, weil die Aussen­tem­pe­ratur unter­halb der Mini­mal­tem­pe­ratur für den Labor­test lag.”

Die Schum­me­leien funk­tio­nieren alle nach folgendem Prinzip: Die Abgas­tests finden unter euro­pa­weit stan­dar­di­sierten Bedin­gungen (über 20°C, 20 Minuten Test­dauer auf einem Stan­dard­zy­klus) statt. Sind diese Bedin­gungen nicht gegeben, schaltet die Betriebs­soft­ware die Abgas­rei­ni­gung entweder herunter oder ganz ab. Konkret konnte man bisher folgende Trick­se­reien entlarven:

  • VW und nun jüngst Porsche erkennen den „künst­li­chen“ Test­modus (hohe Dreh­zahl bei gleich­zei­tigem Still­stand des Fahr­zeugs) und schalten die Abgas­rei­ni­gung aus.
  • Audi und Fiat schalten nach 22 Minuten ihre Abgas­rei­ni­gung ab, da der Test­zy­klus 20 Minuten dauert.
  • Daimler (Chrysler) schaltet die Abgas­rei­ni­gung unter 10°C ab, Renault irgendwo unter 20°C, Opel unter 17°C (Test­tem­pe­ratur minde­stens 20°C) sowie unter 0.915 bar Luft­druck (= ab 850 m.ü.M.), weil das höchste Prüf­labor Europas bei Madrid auf 700 m.ü.M liegt.

Viele neue Autos, so müssen wir befürchten, sind nur auf dem Papier und in den Test­an­lagen sauberer geworden. Auf den Strassen aber russen sie fröh­lich weiter.

Warum ist das wichtig? Weil Stick­oxid­emis­sionen über den Abgas­grenz­werten gemäss einer Studie von Envi­ron­mental Health Analy­tics LCC in der Euro­päi­schen Union zu 11‘400 vorzei­tigen Todes­fällen führen. Aber den schlecht gefil­terten Auspuffen entwei­chen nicht nur grosse Mengen an Stick­oxiden, die die Ozon­bil­dung kata­ly­sieren, sondern auch erhöhte Mengen der krebs­er­re­genden Substanzen Form­aldehyd, Benzen, Dini­tro­pyren und Benzo(a)pyren. Für diese gibt es bis jetzt aller­dings keine gesetz­li­chen Grenzwerte.

Aber? Mit diesen Betrü­ge­reien dürfte bald ein Ende sein. Ab 2019 sollen Real Emis­sion Tests durch­ge­führt werden, also Messungen im „Echt­be­trieb“ auf der Strasse. Aller­dings könnten bis 2019 weitere 250‘000 Drecks­diesler auf die Strasse gelangen, wie der VCS vorrechnet. Deshalb hat die VCS-Präsi­dentin Evi Alle­mann in der laufenden Session einen parla­men­ta­ri­schen Vorstoss lanciert, der eine sofor­tige Einfüh­rung von  Real Emis­sion Tests fordert. Die Tage der heim­li­chen Russer sind also gezählt.

Good News 1: KLUG gegen die entfes­selte Fliegerei

Was ist passiert? Schwei­ze­rInnen fliegen im Schnitt 9‘000 km pro Jahr. Also einmal jähr­lich Dubai retour. Tendenz: stei­gend. Damit ist die Flie­gerei allein für 16% der Treib­haus­gas­emis­sionen der Schweiz verant­wort­lich. Das ist drei Mal mehr als der welt­weite Schnitt von 5%, und bereits fast halb soviel wie alle schweiz­weiten Stras­sen­ver­kehrs­emis­sionen. Aber auch die Lärm­be­la­stung um die Flug­häfen Zürich, Genf und insbe­son­dere Basel ist in den letzten Jahren stark ange­stiegen — was bei einer  Zunahme des Luft­ver­kehrs um 43% zwischen 2010 und 2015 wenig über­rascht. Diverse Umwelt­ver­bände und Lärm­be­trof­fene haben sich nun am 17. Juni 2017 zur Koali­tion Luft­ver­kehr Umwelt und Gesund­heit (KLUG) zusam­men­ge­schlossen, um dem „unkon­trol­lierten Wachstum des Luft­ver­kehrs“ entgegenzuwirken.

Warum ist das wichtig? Mit der Grün­dung der Koali­tion werden erst­mals auf natio­naler Ebene die Kräfte gegen die Exzesse der Flug­in­du­strie gebün­delt — auch auf argu­men­ta­tiver Ebene. Denn mit ökolo­gi­schen Argu­menten für ein Eindämmen des Flug­ver­kehrs beisst man zur Zeit auf Granit: Man müsse inter­na­tio­nale Rege­lungen abwarten, anson­sten „drohten uner­wünschte wirt­schaft­liche und ökolo­gi­sche (!) Folgen“. So lautete die Antwort des Bundes­rats auf ein Postulat von KLUG-Co-Präsi­dentin und Natio­nal­rätin Priska Seiler-Graf (ZH), man möge die Einfüh­rung einer Flug­ticket­ab­gabe prüfen, um den „Klima­ef­fekt” des Flie­gens verur­sa­cher­ge­recht zu bekämpfen.

Hier könnten die Lärm­schutz­ver­bände um die Flug­häfen mit zusätz­li­chem Geschütz den Hand­lungs­druck erhöhen: Gemäss neusten wissen­schaft­li­chen Studien führt  der Flug­lärm zu mehr Herz­in­farkten, Herz­in­suf­fi­zi­enzen und von Durch­blu­tungs­stö­rungen verur­sachten Schlag­an­fällen. Inbe­son­dere in der Nacht sei die Lärm­be­la­stung kritisch, weiss Asso­ciate Professor Martin Röösli am Tropen- und Public-Health-Institut der Univer­sität Basel. Beson­ders verhee­rend wirkt sich der Lärm  rund um den Flug­hafen Basel aus, da er nachts für den Flug­ver­kehr schweiz­weit am läng­sten geöffnet ist.

Weshalb aber macht der Lärm krank? Bereits ab den leisen 40 Dezibel werde der Schlaf gestört, da der Körper Stress­hor­mone aussende und damit der Blut­druck ansteigt. In Allschwil bei Basel liegt dieser Pegel wegen des Flug­ver­kehrs zwischen 5 Uhr morgens und 24 Uhr nachts bei satten 57 Dezibel. Dazu kommt, dass ein plötz­lich vorbei­rau­schendes Flug­zeug, anders als ein konstant brum­mender Kühl­schrank, diesen Stress­ef­fekt verstärkt. Das schlägt sich in folgenden Zahlen nieder: Die tödli­chen Herz­in­farkte um die Flug­häfen Basel, Genf und Zürich sind gemäss einer Studie von Martin Röösli bis zu 48% häufiger als in der rest­li­chen Schweiz.

Aber? Die zustän­dige Behörde, das Bundesamt für zivile Luft­fahrt (BazL), sieht gegen­über der Basel­land­schaft­li­chen Zeitung noch keinen Hand­lungs­be­darf: „Gemäss unseren Experten liegen noch keine abschlies­senden Resul­tate der Studie vor. Stehen diese Resul­tate fest, sollen die bestehenden Lärm­grenz­werte über­prüft und wenn nötig ange­passt werden.“ Die poli­ti­sche Arbeit steht also trotz neuer Argu­mente und KLUG gebün­deter Kräfte noch ganz am Anfang.

Good News 2: Senio­rinnen klagen am Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt: Leuthards UVEK lässt uns schmoren!

Was ist geschehen? Am 26. Mai 2017 haben 722 Senio­rinnen — Klima­Se­nio­rinnen, wie sie sich tref­fend nennen — Beschwerde beim Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt in St. Gallen gegen die Nicht­ein­tre­tens­ver­fü­gung des UVEK auf ihr „Begehren um Einstel­lung von Unter­las­sungen im Klima­schutz“ einge­reicht. Streit­punkt: Der Bund tue zu wenig, um das Grund­recht auf Leben der vom Klima­wandel am stärk­sten Betrof­fenen Schwei­ze­rInnen zu schützen: den Älte­sten und Jüng­sten. Gerade in den sengenden Sommer­mo­naten ist die Sterb­lich­keit von Klein­kin­dern, Kranken und alten Menschen erheb­lich höher.

Warum ist das wichtig? Es erin­nert daran, dass in einem demo­kra­ti­schen Rechtsstaat die Verwal­tung über die Judi­ka­tive an ihre Verpflich­tungen erin­nert werden kann. So kann eben ein muslim ban aus dem präsi­dialen Dekret­schwall vor Gericht schei­tern, weil er mit funda­men­talen Gesetzen unver­einbar ist. Oder eine Verwal­tungs­praxis, die den Schutz der Bevöl­ke­rung vor den Folgen des Klima­wan­dels zu wenig ernst nimmt, dazu verpflichtet werden, das Grund­recht auf ein unver­sehrtes Leben zu gewähren.

Mit einem Räson­ne­ment dieser Art hat das Kläge­rIn­nen­kol­lektiv Urgenda im Bezirks­ge­richt Den Haag am 24. Juni 2015 erst­in­stanz­lich erwirkt, dass die hollän­di­sche Regie­rung schär­fere Mass­nahmen ergreifen muss, um die CO2-Emis­sionen des Landes bis 2020 auf ‑25% gegen­über 1990 zu senken. Die Begrün­dung des Gerichts: Da die hollän­di­sche Regie­rung mit dem aktu­ellen Kurs derzeit auf maximal  ‑17% komme, gemäss Welt­kli­marat (IPCC) aber (minde­stens) ‑25% erreicht werden müsse, seien die bishe­rigen Mass­nahmen der Regie­rung „unge­setz­lich”. Weiter sei die Regie­rung in der Pflicht, Mass­nahmen für die Errei­chung des ‑25%-Ziels zu erlassen. Damit ist erst­mals eine Regie­rung wegen Vernach­läs­si­gung ihrer Schutz­pflichten unter dem Klima­wandel verur­teilt worden.

Aber? Die hollän­di­sche Regie­rung hat Beru­fung einge­legt gegen das histo­ri­sche Urteil am Bezirks­ge­richt Den Haag. Und das UVEK verneint in seiner Nicht­ein­tre­tens­ver­fü­gung, dass der Rechtsweg als Korrek­tur­instanz für Unter­las­sungs­hand­lungen der Behörden im Falle des Klima­wan­dels rech­tens ist: Denn die Gesuch­stel­lenden bezweckten „eine Vermin­de­rung der CO2-Konzen­tra­tion … welt­weit“. Und das sei mit einer Allge­mein­ver­fü­gung der Verwal­tung nicht zu errei­chen. Ob der von den Klima­Se­nio­rinnen einge­schla­gene Rechtsweg rech­tens ist, wird das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt zu prüfen haben. Das UVEK vertrö­stet die Klima­Se­nio­rinnnen derweil auf ihre Möglich­keit, als Stimm­bür­ge­rinnen „auf die Rechts­set­zung insbe­son­dere durch die Ausübung ihrer poli­ti­schen Rechte … Einfluss zu nehmen“. Was, wenn die Verwal­tung schon durch bestehende Gesetze gezwungen wäre, substan­zi­elle Mass­nahmen gegen den Klima­wandel zu ergreifen?


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