Wie schlimm steht es wirklich um die Welt? Das weiss niemand ganz genau. Eine Nachricht jagt die nächste – wie einen Überblick gewinnen, das Chaos ordnen? Wir helfen, indem wir ausgewählte News häppchenweise servieren und einordnen. So liefern wir Ihnen einmal pro Monat Anhaltspunkte zur Lage der Welt aus Lamm-Sicht.
Heute: Der VW-Abgasskandal war nur der Anfang.// KLUG gegen die Flugindustrie.// Leuthards UVEK im Unterlassungsfall „Klimawandel“ vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Bad News: Die Dieselfahrzeuge russen heimlich weiter
Was ist passiert? Die Eidgenössische Materialprüfanstalt EMPA hielt in ihrem Bericht vom Mai 2017 fest: Die Betrügerei mit Auto-Abgaswerten ist nicht der Einzel‑, sondern der Normalfall. Doch der Reihe nach: Als am 18. September 2015 der VW-Abgasskandal aufflog, gingen die Wogen hoch. Der deutsche Fahrzeughersteller hatte in insgesamt 11 Millionen Fahrzeugen eine illegale Software installiert, die den Abgastestbetrieb erkennt – hohe Drehzahlen bei gleichzeitigem Stillstand des Fahrzeugs – und während des Testbetriebs die Abgasreinigung optimiert. Im Normalbetrieb aber schaltete die Abgasreinigung automatisch ab – zur Schonung des Motors und der Abgasreinigungssysteme.
Was zuerst nach einem reinen VW-Skandal aussah, weitete sich nach und nach auf weitere Autohersteller aus. Als die EMPA im Januar 2017 einen Renault Mégane, „Car of the Year 2016”, auf eine Spritztour mitnahm, um an seinem Auspuff zu schnüffeln, mass sie erschreckend hohe 1300 mg Stickoxide (NOx) pro Kilometer (erlaubt sind ab Oktober 2017 lediglich 170 mg/km). Damit stösst der Mégane gemäss EMPA-Bericht „etwa gleich viel aus wie ein 10 bis 15 Jahre alter Diesel”. Die EMPA stellte fest: „Bei der Messfahrt schaltete sich offenbar die Abgasrückführung ab, vielleicht, weil die Aussentemperatur unterhalb der Minimaltemperatur für den Labortest lag.”
Die Schummeleien funktionieren alle nach folgendem Prinzip: Die Abgastests finden unter europaweit standardisierten Bedingungen (über 20°C, 20 Minuten Testdauer auf einem Standardzyklus) statt. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, schaltet die Betriebssoftware die Abgasreinigung entweder herunter oder ganz ab. Konkret konnte man bisher folgende Tricksereien entlarven:
- VW und nun jüngst Porsche erkennen den „künstlichen“ Testmodus (hohe Drehzahl bei gleichzeitigem Stillstand des Fahrzeugs) und schalten die Abgasreinigung aus.
- Audi und Fiat schalten nach 22 Minuten ihre Abgasreinigung ab, da der Testzyklus 20 Minuten dauert.
- Daimler (Chrysler) schaltet die Abgasreinigung unter 10°C ab, Renault irgendwo unter 20°C, Opel unter 17°C (Testtemperatur mindestens 20°C) sowie unter 0.915 bar Luftdruck (= ab 850 m.ü.M.), weil das höchste Prüflabor Europas bei Madrid auf 700 m.ü.M liegt.
Viele neue Autos, so müssen wir befürchten, sind nur auf dem Papier und in den Testanlagen sauberer geworden. Auf den Strassen aber russen sie fröhlich weiter.
Warum ist das wichtig? Weil Stickoxidemissionen über den Abgasgrenzwerten gemäss einer Studie von Environmental Health Analytics LCC in der Europäischen Union zu 11‘400 vorzeitigen Todesfällen führen. Aber den schlecht gefilterten Auspuffen entweichen nicht nur grosse Mengen an Stickoxiden, die die Ozonbildung katalysieren, sondern auch erhöhte Mengen der krebserregenden Substanzen Formaldehyd, Benzen, Dinitropyren und Benzo(a)pyren. Für diese gibt es bis jetzt allerdings keine gesetzlichen Grenzwerte.
Aber? Mit diesen Betrügereien dürfte bald ein Ende sein. Ab 2019 sollen Real Emission Tests durchgeführt werden, also Messungen im „Echtbetrieb“ auf der Strasse. Allerdings könnten bis 2019 weitere 250‘000 Drecksdiesler auf die Strasse gelangen, wie der VCS vorrechnet. Deshalb hat die VCS-Präsidentin Evi Allemann in der laufenden Session einen parlamentarischen Vorstoss lanciert, der eine sofortige Einführung von Real Emission Tests fordert. Die Tage der heimlichen Russer sind also gezählt.
Good News 1: KLUG gegen die entfesselte Fliegerei
Was ist passiert? SchweizerInnen fliegen im Schnitt 9‘000 km pro Jahr. Also einmal jährlich Dubai retour. Tendenz: steigend. Damit ist die Fliegerei allein für 16% der Treibhausgasemissionen der Schweiz verantwortlich. Das ist drei Mal mehr als der weltweite Schnitt von 5%, und bereits fast halb soviel wie alle schweizweiten Strassenverkehrsemissionen. Aber auch die Lärmbelastung um die Flughäfen Zürich, Genf und insbesondere Basel ist in den letzten Jahren stark angestiegen — was bei einer Zunahme des Luftverkehrs um 43% zwischen 2010 und 2015 wenig überrascht. Diverse Umweltverbände und Lärmbetroffene haben sich nun am 17. Juni 2017 zur Koalition Luftverkehr Umwelt und Gesundheit (KLUG) zusammengeschlossen, um dem „unkontrollierten Wachstum des Luftverkehrs“ entgegenzuwirken.
Warum ist das wichtig? Mit der Gründung der Koalition werden erstmals auf nationaler Ebene die Kräfte gegen die Exzesse der Flugindustrie gebündelt — auch auf argumentativer Ebene. Denn mit ökologischen Argumenten für ein Eindämmen des Flugverkehrs beisst man zur Zeit auf Granit: Man müsse internationale Regelungen abwarten, ansonsten „drohten unerwünschte wirtschaftliche und ökologische (!) Folgen“. So lautete die Antwort des Bundesrats auf ein Postulat von KLUG-Co-Präsidentin und Nationalrätin Priska Seiler-Graf (ZH), man möge die Einführung einer Flugticketabgabe prüfen, um den „Klimaeffekt” des Fliegens verursachergerecht zu bekämpfen.
Hier könnten die Lärmschutzverbände um die Flughäfen mit zusätzlichem Geschütz den Handlungsdruck erhöhen: Gemäss neusten wissenschaftlichen Studien führt der Fluglärm zu mehr Herzinfarkten, Herzinsuffizienzen und von Durchblutungsstörungen verursachten Schlaganfällen. Inbesondere in der Nacht sei die Lärmbelastung kritisch, weiss Associate Professor Martin Röösli am Tropen- und Public-Health-Institut der Universität Basel. Besonders verheerend wirkt sich der Lärm rund um den Flughafen Basel aus, da er nachts für den Flugverkehr schweizweit am längsten geöffnet ist.
Weshalb aber macht der Lärm krank? Bereits ab den leisen 40 Dezibel werde der Schlaf gestört, da der Körper Stresshormone aussende und damit der Blutdruck ansteigt. In Allschwil bei Basel liegt dieser Pegel wegen des Flugverkehrs zwischen 5 Uhr morgens und 24 Uhr nachts bei satten 57 Dezibel. Dazu kommt, dass ein plötzlich vorbeirauschendes Flugzeug, anders als ein konstant brummender Kühlschrank, diesen Stresseffekt verstärkt. Das schlägt sich in folgenden Zahlen nieder: Die tödlichen Herzinfarkte um die Flughäfen Basel, Genf und Zürich sind gemäss einer Studie von Martin Röösli bis zu 48% häufiger als in der restlichen Schweiz.
Aber? Die zuständige Behörde, das Bundesamt für zivile Luftfahrt (BazL), sieht gegenüber der Basellandschaftlichen Zeitung noch keinen Handlungsbedarf: „Gemäss unseren Experten liegen noch keine abschliessenden Resultate der Studie vor. Stehen diese Resultate fest, sollen die bestehenden Lärmgrenzwerte überprüft und wenn nötig angepasst werden.“ Die politische Arbeit steht also trotz neuer Argumente und KLUG gebündeter Kräfte noch ganz am Anfang.
Good News 2: Seniorinnen klagen am Bundesverwaltungsgericht: Leuthards UVEK lässt uns schmoren!
Was ist geschehen? Am 26. Mai 2017 haben 722 Seniorinnen — KlimaSeniorinnen, wie sie sich treffend nennen — Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen gegen die Nichteintretensverfügung des UVEK auf ihr „Begehren um Einstellung von Unterlassungen im Klimaschutz“ eingereicht. Streitpunkt: Der Bund tue zu wenig, um das Grundrecht auf Leben der vom Klimawandel am stärksten Betroffenen SchweizerInnen zu schützen: den Ältesten und Jüngsten. Gerade in den sengenden Sommermonaten ist die Sterblichkeit von Kleinkindern, Kranken und alten Menschen erheblich höher.
Warum ist das wichtig? Es erinnert daran, dass in einem demokratischen Rechtsstaat die Verwaltung über die Judikative an ihre Verpflichtungen erinnert werden kann. So kann eben ein muslim ban aus dem präsidialen Dekretschwall vor Gericht scheitern, weil er mit fundamentalen Gesetzen unvereinbar ist. Oder eine Verwaltungspraxis, die den Schutz der Bevölkerung vor den Folgen des Klimawandels zu wenig ernst nimmt, dazu verpflichtet werden, das Grundrecht auf ein unversehrtes Leben zu gewähren.
Mit einem Räsonnement dieser Art hat das KlägerInnenkollektiv Urgenda im Bezirksgericht Den Haag am 24. Juni 2015 erstinstanzlich erwirkt, dass die holländische Regierung schärfere Massnahmen ergreifen muss, um die CO2-Emissionen des Landes bis 2020 auf ‑25% gegenüber 1990 zu senken. Die Begründung des Gerichts: Da die holländische Regierung mit dem aktuellen Kurs derzeit auf maximal ‑17% komme, gemäss Weltklimarat (IPCC) aber (mindestens) ‑25% erreicht werden müsse, seien die bisherigen Massnahmen der Regierung „ungesetzlich”. Weiter sei die Regierung in der Pflicht, Massnahmen für die Erreichung des ‑25%-Ziels zu erlassen. Damit ist erstmals eine Regierung wegen Vernachlässigung ihrer Schutzpflichten unter dem Klimawandel verurteilt worden.
Aber? Die holländische Regierung hat Berufung eingelegt gegen das historische Urteil am Bezirksgericht Den Haag. Und das UVEK verneint in seiner Nichteintretensverfügung, dass der Rechtsweg als Korrekturinstanz für Unterlassungshandlungen der Behörden im Falle des Klimawandels rechtens ist: Denn die Gesuchstellenden bezweckten „eine Verminderung der CO2-Konzentration … weltweit“. Und das sei mit einer Allgemeinverfügung der Verwaltung nicht zu erreichen. Ob der von den KlimaSeniorinnen eingeschlagene Rechtsweg rechtens ist, wird das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen haben. Das UVEK vertröstet die KlimaSeniorinnnen derweil auf ihre Möglichkeit, als Stimmbürgerinnen „auf die Rechtssetzung insbesondere durch die Ausübung ihrer politischen Rechte … Einfluss zu nehmen“. Was, wenn die Verwaltung schon durch bestehende Gesetze gezwungen wäre, substanzielle Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen?
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