Am 9. Juni entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung über die Volksinitiative „Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit“. Was nach einem feministischen Anliegen klingt, ist tatsächlich eine impfkritische Initiative. Sie stammt aus dem rechten Pandemie-Skeptiker*innen-Umfeld. Der Slogan: „Stopp Impfpflicht“.
Urheber dieser Initiative ist die „freiheitliche Bewegung Schweiz“ mit Richard Koller als Präsident. Teil des Initiativkomitees sind neben Koller auch SVP-Nationalrätin Yvette Estermann und Komiker Marco Rima.
Massvoll, der violette Pandemie-Skeptiker*innen-Verein, hat als Werbestrategie für die Stopp-Impfpflicht-Initiative nun eine Abstimmungskampagne unter der Parole „My Body my Choice“ ins Leben gerufen. Die rechtsgewandte Medienplattform Hoch2TV begleitet die Kampagne. Kampagnenstart war am 19. April bei Telegram – wo sonst?
Warum haben die Impfgegner*innen ausgerechnet den Slogan „My Body my Choice“ gewählt, der eigentlich aus der feministischen Pro-Abtreibungsbewegung stammt?
Vereinnahmung linker Rhetorik
Massvoll steht im politischen Spektrum rechts aussen. Die Gruppe hat in der Vergangenheit oft rechtsextreme Talkingpoints aufgegriffen und verbreitet. Auf ihrem Telegramkanal teilt sie Interviews mit Martin Sellner, dem Anführer der Identitären Bewegung Österreichs und in ihrem Onlineshop verkauft sie Textilien mit dem rechtsextremen Schlagwort „Remigration“. Dies nicht zuletzt, weil vor allem ihr Präsident Nicolas Rimoldi keinen Hehl daraus macht, dass er mit rechtsextremen Strukturen wie der „Jungen Tat“ anbandelt. Mit ihr betreibt er einen Kulturkampf von rechts. Etwa indem sie linke politische Standpunkte erobern und mit rechten Inhalten füllen.
Dass ihre Werbekampagne nun ausgerechnet „My Body my Choice“ heisst, ist politisches Kalkül. Die konkrete Idee dafür hat sich Massvoll vermutlich bei der jungen AfD abgeguckt, die den feministischen Slogan bereits 2022 für ihre Zwecke missbraucht hat. Man wolle der Parole eine „neue Bedeutung“ geben, erklärt eine AfDlerin im Video und meint damit ihre Ablehnung gegenüber Impfungen.
Massvoll hingegen zweckentfremdet direkt eine Videosequenz von SP-Politikerin Tamara Funiciello aus einer feministischen Rede am Streiktag 2023. Darin kritisiert die Politikerin zwei SVP-Initiativen, die das Recht auf Abtreibung beschneiden wollen. Der politische Inhalt dieser Rede wird bei Massvoll seinem Kontext gänzlich entrissen und für ihre rechte Agenda missbraucht.
Das Ziel dieser unverschämten Aneignung: Empörung! Denn so wird mehr über die Abstimmungskampagne gesprochen als über die feministische Parole, die 1969 zur globalen feministischen Kampfansage wurde.
Das Schlüsselwort heisst „Rage-Bait“. Das ist ein Werkzeug aus der Trickkiste der neuen Rechten. Inhalte werden nur zu dem Zweck erstellt, dass sie möglichst extreme Emotionen auslösen. Sie hantieren etwa mit provokativen und absichtlich verzerrten Informationen.
Wenn sich Personen über die Kampagne von Massvoll aufregen und deshalb auf sozialen Medien und im Gespräch empört auf ihre Inhalte reagieren, erhöhen sie den „Rage-Bait“.
Was Rechte wollen, ist unsere Wut.
Diese Empörung wird unmittelbar belohnt: mit Reichweite, Aufmerksamkeit und Kapital. Denn polarisierende Inhalte gehen schneller viral, erhalten mehr Aufmerksamkeit und erhöhen so die Zeit, die Nutzer*innen auf digitalen Plattformen verbringen. Dies führt am Ende zu höheren Einnahmen für deren Betreiber*innen.
Langfristig führt das dazu, dass die Algorithmen der Plattformen „Rage-Bait“-Inhalte bevorzugen. Je empörender die Videos, desto öfter klingelt die Kasse bei Meta & Co.
Auch im Fall der „My Body My Choice“-Kampagne ist diese Empörungsstrategie geglückt: Unlängst berichtete 20min über Massvolls Instrumentalisierung von Funiciellos Videosequenz und zeigte in dem Artikel prompt das Video der Pandemie-Skeptiker*innen. Funiciello selbst erstattete Anzeige gegen den Verein. Für Massvoll ein Glücksfall, denn so bleibt der absichtlich herbeigeführte Skandal in aller Munde.
Diese Informationstaktik ist Teil der sogenannten Memetic Warfare. Sie beschreibt eine moderne Form der Informations- und psychologischen Kriegsführung, die die Verbreitung von Memes beinhaltet. Im Fall der Massvoll-Kampagne werden die Falschinformation in Form eines Videos verbreitet, wobei linke Rhetorik mit rechten Inhalten gefüllt werden
Denn Bilder und Videos, mögen sie noch so falsch sein, lassen sich sehr einfach in den sozialen Netzwerken verbreiten und bleiben im Gedächtnis. Diese Herangehensweise ist fester Bestandteil des identitären Kulturkampfs, bei dem Massvoll im Schweizer Kontext als Katalysator fungiert.
Bei diesem Kulturkampf der Neuen Rechten geht es weniger um politische Inhalte als vielmehr darum, den Diskurs zu verschieben. Diese sogenannte Metapolitik zielt darauf ab, durch kulturellen Einfluss langfristige politische Veränderungen herbeizuführen, ohne direkt politische Macht zu ergreifen. Durch die Beeinflussung des öffentlichen Diskurses und der Medienlandschaft verbreiten sie ihre Ideen, gestalten bewusst Sprache und Narrative, um ihre Ziele sowohl zu legitimieren als auch zu normalisieren.
Diese Strategie steckt bei Massvoll in der DNA. Von Anfang an hat der rechtspolitische Verein Violett als Vereinsfarbe vereinnahmt. Dass dies die Farbe ist, die bislang vom feministischen Kampf besetzt wurde, dürfte ebenfalls kein Zufall sein.
Analyse und Kritik ohne Reproduktion
Wie können wir also über rechte Strategien Bescheid wissen, ohne sie zu unterstützen? Die Auseinandersetzung mit dem rechten Kulturkampf bleibt unabdingbar. Dabei dürfen wir jedoch nicht in ihre Falle tappen und ihre Inhalte reproduzieren. Linke Wut ist also berechtigt, die Kritik darf Rechten aber nicht zu mehr Reichweite verhelfen.
20min etwa macht gratis Werbung für den rechten Verein, wenn es das Video in voller Länge in den Artikel einbettet. Im besten Fall handelt es sich dabei um schlechten Journalismus, im schlimmsten um Kalkül, denn von empörenden Inhalten profitieren auch Medien finanziell.
Auch auf den sozialen Medien gilt: Wer Links zu Videos oder Posts teilt, verhilft den Urheber*innen zu mehr Reichweite. Auch wenn sie kritisch kommentiert werden. Also lieber Screenshots machen ohne Verlinkung. Sonst nützt linke Kritik den rechten Strategien – anstatt sie zu entlarven.
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