Im Sommer 2017 kam mir das erste Mal der Gedanke, dass die Escherstatue fehl am Platz sein könnte. Respektive, es war eher ein Bild, das sich mir einprägte.
Die gleissend-strahlende Sonne brannte aus dem blauen Himmel auf die Stadt. Ich fuhr mit dem Fahrrad von der Sihlpost zur Bahnhofstrasse. Vor mir prangte übergross und unbeweglich Alfred Escher auf seinem Sockel. Dahinter ein roter Kran für den allgegenwärtigen Umbau des Bahnhofs. Aus meiner Blickrichtung war der Kran drauf und dran, die Statue abzutransportieren. Ha, daran hatte ich bisher nie gedacht. Aber ja, why not?
Einige Wochen nachdem ich am Bahnhof die Eingebung der fliegenden Escherstatue gehabt hatte, markierte eine Reportage im das Magazin die reale geschichtspolitische Baustelle. Der Historiker Michael Zeuske hatte in den Archiven Havannas Beweise gefunden, wonach ein substanzieller Teil von Eschers Kapital aus den Erträgen der kubanischen Kaffeeplantage „Buen Retiro“ seines Vaters Heinrich stammte, die von „97 Feld- und 5 Haussklaven“ bewirtschaftet wurde.
Was viele geahnt hatten, war jetzt bewiesen. Aber trotz des medialen Aufsehens und erster politischer Vorstösse, die Verwicklungen der Escherfamilie in den Kolonialismus aufzuarbeiten, passierte vorerst relativ wenig. Der Courant normal zeigte sich darin, dass 2019 der 200. Geburtstag von Alfred Escher gefeiert, doch die Aufarbeitung der kolonialen Komplizenschaft vorerst grosszügig vernachlässigt wurde.
Koloniales Wirtschaftsmodell geleugnet
Die helvetische Debatte über Kolonialismus und Rassismus ist geprägt von Amnesie und Leugnung. Ein Merkmal davon ist, dass sie auf die moralische Schuld von Einzelnen oder Einzelfällen zielt: Wusste Escher überhaupt von der Herkunft des Geldes, das er vom Vater geerbt hatte? Ja, er wusste es und war sogar involviert, seinen Vater rechtlich davor zu schützen, als dieser als Sklavenhalter bezeichnet wurde. Oder: Wie kann der Mann aus heutiger Sicht schuldig sein, wenn es in jener Zeit üblich war, Sklav*innen zu halten?
Vernachlässigt wird dabei die strukturelle Ebene, die Tatsache also, dass Escher nur der Eisenbahn- und Bankenpionier werden konnte, weil es in der Schweiz im 18. und 19. Jahrhundert üblich war, Investitionskapital durch Sklaverei und kolonialen Handel zu erwirtschaften – und dies trotz verbreiteter Kritik und antikolonialer Rebellionen.
Neben Escher waren viele andere Schweizer Pioniere mehr oder weniger direkt in den Sklavenhandel verstrickt, wie etwa David de Pury, Jacob Sulzer, Salomon Volkart oder Christoph Burckhardt. Aber viel grundlegender: Die Schweizer Industrialisierung und damit auch der Aufstieg Eschers wären ohne Kolonialismus und Sklaverei unmöglich gewesen.
Das damals neue Wirtschaftsmodell basierte auf der Textilproduktion, auf der wiederum die Maschinenindustrie, die chemische Färbeindustrie, der Eisenbahnbau und das Bankenwesen aufbauten. Vom Anbau der Baumwolle für ihre Textilien über die Finanzierung ihrer Infrastruktur bis hin zum Absatz der Industriegüter war die aufstrebende Schweiz zutiefst verstrickt in eine koloniale Welt.
Aber sollte man nun an Alfred Escher ein Exempel statuieren und ihn von seinem steinernen Sockel stürzen? Ich greife vor…
Arbeitsmigration erinnern
Mein erstes, viel früheres Unbehagen gegenüber Eschers Rolle in der Schweizer Geschichte war jedoch kein postkoloniales, sondern ein postmigrantisches. Der Reichtum der Schweiz basierte nicht nur auf den globalen Verflechtungen der Schweizer Unternehmen, sondern auch auf dem Blut und Schweiss von Migrant*innen.
Das erste Freizügigkeitsabkommen, das die Rekrutierung italienischer Arbeitskräfte erlauben sollte, stammte aus dem Jahr 1868. Beim Eisenbahnbau und bei allen grossen alpinen Infrastrukturprojekten arbeiteten Italiener*innen mit und verloren dabei viel zu oft ihr Leben: am Simplon, am Lötschberg, am Mattmark-Staudamm – und natürlich am Gotthard, dem Kronjuwel von Eschers Imperium.
Aber nicht nur bei der gefährlichen Arbeit oder wegen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen starben Menschen. Auch weil sie dagegen protestierten, erschossen Schweizer Landjäger im legendären Fall von Göschenen im Jahr 1875 mehrere italienische Arbeiter.
Und die Schweiz benötigte noch mehr Arbeitskräfte. Um 1900 betrug der Anteil von Migrant*innen in gewissen Grenzstädten und Industriequartieren ein Drittel der Bevölkerung. Kurz: Das Modell der Arbeitsmigration prägte die Gründerschweiz Eschers, ihre Infrastruktur, ihre Industrie, ihre Wirtschaft. Und das hat sich bis heute nicht geändert – obwohl die Schweiz weder ihre Geschichte noch ihre Realität als Migrationsgesellschaft anerkennt.
In einer künstlerisch-politischen Performance am Zürcher Theaterspektakel erinnerte die Arbeitsgemeinschaft Schwarzenbach Komplex am 30. August 2021 an die Gewalt und den Rassismus im sogenannten Gastarbeitersystem – das keinesfalls gastfreundlich war. Darin hielt der Gewerkschafter und Aktivist Salvatore Di Concilio eine bemerkenswerte Rede. Ausgehend von der Erinnerung an seine Ankunft in der Schweiz im Jahr 1970, im Jahr der Schwarzenbach-Initiative, forderte er, die Geschichte, Arbeit und Wirklichkeit der Migrant*innen in der Schweiz anzuerkennen:
„Am Anfang der Bahnhofstasse steht das Monument für Alfred Escher, den Erbauer vom Gotthard-Tunnel. Meine Frage ist: Hat er den allein gebaut? Hunderte italienische Minenarbeiter waren auch dabei und haben Gesundheit und Leben riskiert. Sie waren auch stolz auf dieses Werk. Wenn ich unterwegs bin, denke ich oft: Hotel International, Hardau, ETH Hönggerberg, Unispital und so weiter. Ich habe Monate lang Fenster für dieses Werk gemacht. Wir verdienen ein Denkmal, nicht Escher. Oder halt: Das ist unsere Stadt. Sie ist unser Denkmal!“
Schwarzenbach-Komplex ist ein künstlerisch-politisches Langzeitprojekt, in dem Erinnerungen an Gewalt und Widerstand in der Schweizer Migrationsgeschichte gesammelt und verhandelt werden. www.schwarzenbach-komplex.ch
Wessen Erinnerung zählt?
Wer oder was wird mit dem Escher-Denkmal eigentlich geehrt? Georg Kreis, der im Auftrag der Kommission für Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Zürich eine Bestandesaufnahme der Zürcher Denkmäler publizierte, sieht darin ganz einfach die Ehrung der Leistung eines Individuums. Ist das wirklich alles? Sind die Denkmäler in Form und Inhalt nicht auch ein Dokument der herrschenden Machtverhältnisse und Werte der Zeit, in denen diese gebaut wurden? Zeigt sich in der Escherstatue nicht der Heldenkult bürgerlicher Männer, die die Gesellschaft vermutlich allein aus ihrem Genius heraus verändert haben? Zeigt sich im Falle der Escherstatue nicht auch der Kampf des Liberalismus in der Zeit seiner Krise?
Denn der Bau wurde 1889 politisch intensiv diskutiert und in der Arbeiter*innenbewegung kritisiert. So schrieb die Arbeiterstimme am 19. Juni 1889: „Es ist unsere feste Überzeugung, dass ein Tag kommen wird, wo das Denkmal, dessen Aufstellung am belebtesten Platz Zürichs nicht nur eine Taktlosigkeit, sondern dem Volke gegenüber eine Beleidigung ist, dass ein Tag kommen wird, wo durch Mehrheitsbeschluss der Bürger dasselbe entfernt und an einem anderen Ort aufgestellt wird, wo es nicht jeden Tag Hunderten von Bürgern den Beweis liefert, wie man diejenigen ehrt, die es verstehen, auf Kosten des Volkes und durch den indirekten und direkten Ruin ganzer Gegenden einen berühmten Namen und grosses Vermögen zu erwerben.“
Als die Alfred Escher-Stiftung bis vor kurzem noch existierte, schrieb sie auf ihrer Website: „Da Eschers Wirken den Aufbruch zur modernen Schweiz markiert, dokumentiert die Stiftung gleichzeitig auch Entstehung und Entwicklung des Bundesstaates. Erst die Auseinandersetzung mit dieser wichtigen Periode der Schweizer Geschichte macht nachvollziehbar, wie unsere Gesellschaft zu dem wurde, was sie heute ist.“
Das Anliegen, die Entstehung und Entwicklung des Bundesstaates und der modernen Schweiz zu dokumentieren, teilt die Stiftung auch mit vielen postkolonialen und postmigrantischen Forschenden und Aktivist*innen. Aber die Frage dabei ist, wer die Schweiz modernisierte. Und wessen Wirken geehrt werden soll.
Was immer bei den Narrativen der Moderne erstaunt, ist die Tatsache, dass ihre Opfer einfach in Kauf genommen werden – etwa die Toten am Gotthard, am Mattmarksee oder auf den Plantagen, auf denen Schweizer Reichtum erwirtschaftet wurde. Kennen wir deren Geschichte? Anerkennen wir ihr Leid? Werden sie geehrt?
Der haitianisch-amerikanische Anthropologe Michel Rolphe Trouillot schreibt im Klassiker Silencing the Past, dass Geschichtsschreibung stets auch auf verschiedenen Prozessen des Schweigens beruht. Um dieses Schweigen in den gewachsenen Erzählungen hörbar zu machen, müssen wir in politischen Kämpfen im Hier und Jetzt rekonstruieren, wie die Erzählung der einen die Erzählungen der anderen zum Schweigen gebracht hat.
Der deutsch-griechische Autor Mark Terkessidis macht dabei eine wichtige Verbindung zwischen Erinnerungspolitik und der demokratischen Fundierung einer Gesellschaft: „Das Auftauchen von Erinnerung hat immer auch etwas mit Zugehörigkeit zu tun. Die eigene Erinnerung artikulieren, ins Spiel bringen, zum Einsatz machen, zur Beschwerde nutzen, kann nur, wessen Zugehörigkeit zum Gemeinwesen nicht zur Disposition steht.“
Oder umgekehrt formuliert: Ein demokratisches Gemeinwesen muss die Erinnerung all derjenigen öffentlich verhandeln, die es als seinen Teil anerkennt. Wessen Erinnerung zählt also? Und: Wer ist die Schweiz?
Wie Denkmäler in Bewegung geraten
„... in Zürich hat es nach Black Lives Matter antirassistische Demonstrationen gegeben. Und ich denke, ich stehe für die rassistische Vergangenheit der Schweiz. Ich verkörpere geradezu, wie tief die Schweiz in den Kolonialismus verstrickt ist. Es gibt immer noch viel Rassismus in der Gegenwart. Und ich denke, ich sollte nicht hier oben sein, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin.“
(Alfred Escher, zitiert nach Sally Schonfeldt 2021, frei übersetzt aus dem Englischen)
Einen besonderen Zugang zur Escherstatue fand die Zürcher Künstlerin Sally Schonfeldt. In ihrer unveröffentlichten Video-Arbeit Conversations between two outdated white men macht sie sich Sorgen um das Wohlbefinden von Alfred Escher, der so unbeweglich auf seinem Sockel vor dem Bahnhof steht. Fühlt er sich wirklich wohl dort? Ist er noch zu Hause in dieser Welt, 150 Jahre nach der Gründerzeit, in Zeiten der feministischen Streiks, der Migrationsgesellschaft und dem allmählichen Ende der postkolonialen Amnesie?
In einem fiktiven und ironischen Briefwechsel tauscht sich Escher darüber mit Christoph Kolumbus aus, der seinerseits in Buenos Aires auf seinem Sockel steht. Beide fühlen sich nicht mehr gewürdigt in der heutigen Gesellschaft und planen daher abzutreten. Mit diesem Schritt eröffnen sie den Raum dafür, dass die Gesellschaft Verantwortung für ihr gewaltvolles koloniales Erbe übernehmen kann.
Immer wieder wird die Kritik an Denkmälern respektive werden Vorschläge zu deren Entfernung, Verschiebung oder Veränderung als Zensur dargestellt – Stichwort: Cancel Culture.
Aber das Gegenteil ist der Fall: Allein schon die Forderung einer Entfernung, Verschiebung oder Veränderung von Denkmälern öffnet Räume, um verdrängte und zensierte Wirklichkeiten und Geschichten zu erzählen.
Die Geschichte ist eine Baustelle. Denkmäler sind einfach Gegenstände und nur ihr ideologisches Gewicht lässt sie unumstösslich wirken. Sie binden unsere Imagination im dominanten Narrativ – im vorliegenden Fall in demjenigen der fleissigen und rechtschaffenen Schweiz – und verhindern andere Geschichten und damit eine andere Zukunft. Welche Räume entstehen, wenn die Denkmäler und unsere Imagination in Bewegung geraten?
Im Proyecto Monumental in Buenos Aires widmeten sich Laura Kalauz und Sofia Medici genau dieser Frage. Im Jahr 2015 wurde in Buenos Aires das 1921 von der italienischen Gemeinde gestiftete Denkmal für Christoph Kolumbus von der zentralen Casa Rosada zum periferen Aeroparque verschoben. Mit der Ankündigung, das Kolumbus-Denkmal zu versetzen, begann eine Bürger*innendebatte: Warum stand Kolumbus dort? Wie wird entschieden, welches Denkmal wann und wo aufgestellt wird? Und als Hommage oder Repräsentation wofür?
Als künstlerische Intervention im Rahmen der Neugestaltung des Platzes hinter der Casa Rosada lancierten Kalauz und Medici einen Ideenwettbewerb für ein neues Denkmal. Die von ihnen gegründete Kommission wählte aus allen Eingaben neun Projekte aus, die öffentlich debattiert wurden. Schliesslich gewann das Projekt von Lux Lindner, das Argentiniens Schmuggler*innenkultur würdigt, die den Nationalcharakter seit der Gründung des Landes widerspiegele.
Welche Debatten würde ein solcher Ideenwettbewerb in Zürich auslösen? Welche Räume würden entstehen, wenn Escher plötzlich von seinem Sockel schreiten oder einfach per Kran wegfliegen würde? Welche anderen Geschichten und Wirklichkeiten würden entstehen, wenn wir den Mut zur Imagination hätten?
Rohit Jain ist Sozialanthropologie sowie künstlerischer Forscher mit Fokus auf Migration, Rassismus und postkoloniale öffentliche Räume. Er ist Mitbegründer des Projektes Schwarzenbach-Komplex und arbeitet am Departement für Sozialanthropologie und kulturwissenschaftliche Studien in Bern.
Dieser Artikel ist zuerst bei Widerspruch erschienen – Heft 79 “Erinnern für Gegenwart und Zukunft”, 2. Halbjahr 2022.