Auf der Suche nach Schutz sind 90 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren hier gelandet: in einem Haus auf einem Hügel in Affoltern am Albis. Rundherum liegen Felder, Zürich ist eine Dreiviertelstunde per Bus und Zug entfernt. Hier steht das Zentrum Lilienberg, eine Kollektivunterkunft für unbegleitete minderjährige Asylsuchende. In Behördensprache werden sie MNA genannt, kurz für „mineurs non accompagnés“. Die meisten Bewohner*innen des Hauses sind aus Afghanistan in die Schweiz gekommen und haben gefährliche Fluchtrouten hinter sich.
Doch Recherchen von das Lamm zeigen: Manche Jugendliche fühlten sich nirgends zuvor so unsicher wie hier oben. Denn die Stimmung im Zentrum ist seit Monaten angespannt.
Das Lamm hatte Einblick in interne Sitzungsprotokolle und Mailwechsel sowie Unterlagen des Sozialamts Kanton Zürich. Wir haben zudem mit mehr als einem halben Dutzend Personen gesprochen, die früher im Lilienberg gewohnt oder gearbeitet haben und mit weiteren Kontaktpersonen, die im Lilienberg tätig sind.
Sie alle bestätigen: In der Unterkunft, die besonders verletzlichen Jugendlichen Schutz bieten sollte, herrschen Chaos und Gewalt.
Die Recherche wurde von einer Gruppe ehemaliger Mitarbeiter*innen angestossen. Sie stellten ihre Vorwürfe zusammen und wandten sich damit an die Medien. Neben das Lamm standen sie auch mit Radio SRF und dem Tagesanzeiger in Verbindung, die ebenfalls heute, Freitag, über die Vorwürfe berichten. Die Gruppe stand ausserdem in Kontakt mit den Gemeinderäten Walter Angst und Luca Maggi, mit denen auch das Lamm Gespräche geführt hat.
Die ehemaligen Mitarbeitenden suchen die Öffentlichkeit aus Sorge um die teils schwer traumatisierten Jugendlichen. Diese würden im Zentrum weitgehend sich selbst überlassen. Für Betreuung bleibe keine Zeit. Ihre psychische und physische Gesundheit könne angesichts der herrschenden prekären Umstände nicht gewährleistet werden.
Volle Zimmer, blanke Nerven
Die Situation im Zentrum verschärft sich laut den ehemaligen Mitarbeiter*innen vergangenen Sommer. Die Anzahl der in der Schweiz gestellten Asylgesuche nimmt zu dieser Zeit deutlich zu. Ebenso die Anzahl unbegleiteter Minderjähriger im Verantwortungsbereich des Kantons Zürich.
Vor einem Jahr, im März 2021, sind noch ungefähr 35 Jugendliche im Zentrum Lilienberg untergebracht. Seit dem Frühling 2022 ist es gemäss den ehemaligen Mitarbeitenden voll belegt. Offiziell kann der Lilienberg 90 Personen unterbringen. Dafür biete er aber zu wenig Platz. Gemäss der Grundrisse, die das Lamm vorliegen, gibt es 35 Schlafzimmer. Die meisten sind zwischen 12 und 15 Quadratmeter gross. Durchschnittlich werden sie von zwei oder drei Jugendlichen bewohnt. In manchen, etwas grösseren Zimmern schlafen sogar vier Personen. Ein ehemaliger Bewohner sagt: „Wenn du dir zu zweit oder zu dritt ein so kleines Zimmer teilst, macht dich das krank.“
Merken würde das aber wohl niemand, sagen die ehemaligen Mitarbeiter*innen. Denn für die 90 Jugendlichen seien im Lilienberg aktuell nicht einmal zehn ausgebildete Sozialpädagog*innen angestellt, von denen niemand Vollzeit arbeite. Hinzu kämen etwa gleich viele Betreuungspersonen ohne fachrelevante Ausbildung. Das sei zu wenig: Im Alltag bleibe kaum Zeit, um auf die Jugendlichen einzugehen, für die Ausgestaltung von Freizeitangeboten – oder einen angemessenen Umgang mit Konflikten und Krisen.
Eine ehemalige Mitarbeiterin erzählt von ihren morgendlichen Runden durch das Zentrum. In der Frühschicht habe sie alle Jugendlichen für die Schule geweckt. „Manche schafften es nicht aufzustehen, weil sie Albträume und Schlafstörungen hatten“, sagt sie. Eigentlich müsste man sich dann überlegen, wie sie beim Aufstehen begleitet und unterstützt werden könnten. „Aber es blieb nie Zeit, um mit ihnen zusammenzusitzen und ihnen zuzuhören – es mussten ja noch so viele andere Jugendliche geweckt werden“, erzählt sie. „Viele blieben dann einfach liegen.“
Eigentlich wäre vorgesehen, dass alle Jugendlichen eine Bezugsperson unter den Betreuer*innen hätten. Seit die Belegung des Zentrums so hoch sei, habe es nach Eintritt bisweilen aber bis zu zwei Wochen gedauert, bis ihnen eine solche Bezugsperson habe zugeteilt werden können, sagt eine andere ehemalige Mitarbeiterin. Eine Sozialpädagogin sei teils für mehr als zehn Bezugsjugendliche gleichzeitig verantwortlich gewesen.
Ein ehemaliger Bewohner beschreibt den Umgang mit den Betreuer*innen so: „Wenn du nicht putzt, dann kürzen sie dein Taschengeld; wenn du nicht zur Schule gehst, kürzen sie dir das Taschengeld; wenn du nicht tust, was sie von dir wollen, kürzen sie dir das Taschengeld.“ Obwohl der Alkohol- und Drogenkonsum eigentlich verboten sei, hätten viele Bewohner*innen regelmässig drinnen geraucht und getrunken. Das Personal habe nichts dagegen unternehmen können. Gelegentlich sei dann einfach die Küche abgeschlossen worden.
Vor allem aber hat er sich nicht sicher gefühlt: Unter den 90 Jugendlichen habe es viele Konflikte gegeben, rivalisierende Gruppen, Schlägereien und Mobbing. Immer wieder sei die Situation eskaliert. Hilfe vonseiten der Betreuungspersonen sei ihm aber kaum je zuteilgeworden. „Wenn jemand richtig Ärger gemacht hat, dann haben sie einfach die Polizei gerufen“, sagt er. Gemäss zwei ehemaligen Mitarbeiter*innen sei die Polizei durchschnittlich einmal pro Monat im Lilienberg im Einsatz gewesen.
Der ehemalige Bewohner sagt: „Ich habe mich während all der Jahre auf dem Weg in die Schweiz nie so unsicher gefühlt wie im Lilienberg.“ Mit Erreichen der Volljährigkeit hat er die Unterkunft verlassen – eine grosse Erleichterung: „Wenn es einmal einen ernsten Kampf geben sollte, dann könnte dort jemand sterben.“
Früher sei es im Lilienberg besser gewesen, sagt er: Mit weniger Bewohner*innen und freundlicheren Mitarbeitenden, die sich bemüht hätten. Die seien aber alle gegangen. Gemäss den Angaben der ehemaligen Mitarbeiter*innen haben im vergangenen Jahr 13 Mitarbeitende den Lilienberg verlassen, was für die Jugendlichen zahlreiche Beziehungsabbrüche bedeutete. „Ich konnte die Arbeit nicht mehr bewältigen“, sagt eine von ihnen. „Viele von uns haben Überstunden geleistet, weil wir merkten, dass die Jugendlichen zu kurz kommen.“ Wenn sie rechtzeitig Feierabend gemacht habe, dann immer im Wissen darum, dass sie einen Jugendlichen mit Gesprächsbedarf sich selbst überlasse.
Dabei wären viele der im Lilienberg untergebrachten Jugendlichen auf besonders intensive und vor allem professionelle Betreuung angewiesen. Das sagt die Psychotherapeutin Sandra Rumpel vom Verein Family Help, der einzelne Bewohner*innen des Zentrums therapeutisch behandelt. „Man geht davon aus, dass bis zu 75 Prozent der Jugendlichen, die allein geflüchtet sind, unter einer Traumafolgestörung leiden“, so Rumpel. Hinzu kämen andere psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Schlafstörungen.
Vor diesem Hintergrund wäre es umso wichtiger, in der Pubertät vertrauensvolle Beziehungen aufbauen zu können. „Die Jugendlichen brauchen Privatsphäre, stabile Beziehungen und einen sicheren Raum“, sagt die Psychologin. Ansonsten steige die Gefahr, dass sich die Traumata chronifizieren – und die jetzigen Bewohner*innen für immer begleiten. „Die erfahrene Gewalt verheilt dann vielleicht nie mehr und kann sich immer wieder gegen die Betroffenen selbst oder auch andere richten.“
Statt auf die besonderen Bedürfnisse der unbegleiteten Minderjährigen im Asylbereich einzugehen, gelten für MNA-Zentren tiefere Standards als für andere Kinder- und Jugendheime. Laut Pflegekinderverordnung muss ein Doppelzimmer mindestens 13,5 Quadratmeter gross sein. Und in Zürcher Jugendheimen muss mindestens eine Betreuungsperson für vier Bewohner*innen anwesend sein. Im Lilienberg müssten also mehr als 22 Betreuungspersonen die rund 90 Jugendlichen begleiten, und drei Viertel davon sollten über einen psychologischen oder sozialpädagogischen Abschluss verfügen. Doch für den Asylbereich gelten diese Regeln nicht.
Missverständnisse verhindern
Ganz auf sich allein gestellt sind die Jugendlichen aber auch im Lilienberg nicht. Sie werden von Beiständ*innen vertreten, die sich für ihre Rechte einsetzen. Im Kanton Zürich übernimmt diese Aufgabe die sogenannte Zentralstelle MNA, die nicht der Sicherheits‑, sondern der Bildungsdirektion untersteht. Alle Personen, mit denen das Lamm gesprochen hat, haben die Zentralstelle MNA als ehrlich bemüht beschrieben.
Im Juli 2021 beklagt die Leitung des Lilienbergs „Probleme auf kommunikativer Ebene“ zwischen Mitarbeitenden des Lilienbergs und der Zentralstelle. Konkret: Sozialpädagog*innen hätten in Berichten zuhanden der Beiständ*innen „schlechte“ Umstände im Lilienberg bemängelt. Als Massnahme kommuniziert die Zentrumsleitung gemäss einem Protokoll, welches das Lamm vorliegt, dass sie fortan in alle Kommunikation zwischen Betreuungspersonen und der Zentralstelle miteinbezogen werden will.
Die ehemaligen Mitarbeiter*innen sagen: „Begriffe wie ‚Mobbing‘, ‚dissoziativ‘ oder ‚Verwahrlosung‘, die verwendet wurden, um den Zustand von Jugendlichen zu beschreiben und entsprechende notwendige Massnahmen aufzuzeigen, durften in der Folge nicht mehr gebraucht werden.“ Die Leitung spricht laut Protokoll dagegen von „lösungsorientierter“ Arbeit.
In einer E‑Mail vom November 2021, die das Lamm einsehen konnte, informiert ein Mitglied der Zentrumsleitung die Angestellten über einen kurz bevorstehenden Besuch der Zentralstelle MNA. In der Nachricht wird darauf hingewiesen, dass zwei Küchen nicht sauber genug seien und noch gereinigt werden sollten, bevor der Besuch eintrifft. So sollen „Probleme“ verhindert werden.
Die AOZ schreibt in ihrer Stellungnahme, dass die Kontrolle wichtiger Dokumente, etwa der Berichte zuhanden der Beistandspersonen, Teil des Qualitätssicherungsprozesses sei: „Der Begriff ‚Verwahrlosung‘ wird im professionellen Kontext seit längerer Zeit nicht mehr verwendet und deshalb im Rahmen der Qualitätssicherung durch ein Synonym ersetzt“, schreibt die Medienstelle. „Dasselbe gilt für den Begriff ‚Mobbing‘, der trotz seiner Popularität nicht für jeden Konflikt unter Jugendlichen zutrifft und gegebenenfalls durch den für die jeweilige Situation zutreffenden Begriff ersetzt wird.“
Schnittblumen und eine Tiefenreinigung
Laut den ehemaligen Mitarbeiter*innen, mit denen das Lamm gesprochen hat, war die Zentrumsleitung nicht nur gegenüber der Zentralstelle MNA darum bemüht, Probleme zu vermeiden. Sie sprechen sogar davon, dass sie die Umstände im Lilienberg zu kaschieren versucht habe.
Im August 2021 führte die Firma Schiess im Auftrag des kantonalen Sozialamts ein sogenanntes Audit im Lilienberg durch. Der Besuch der Prüfer*innen wurde im Voraus angekündigt. „Sobald klar war, dass sie kommen würden, wurden Vorbereitungen in Gang gesetzt“, erzählt eine ehemalige Mitarbeiterin. Gemäss internen Protokollen, die dem Lamm vorliegen, wurden die Vorbereitungen des Audits im Lilienberg schon im Mai, drei Monate vor dem Besuch, in Sitzungen besprochen.
Im Vorfeld des Audits sei das ganze Zentrum mehrere Tage lang intensiv gereinigt worden. Ehemalige Mitarbeiter*innen sagen ausserdem, dass für den Tag des Audits Frischblumen im Eingangsbereich platziert worden seien. Ausserdem seien auf einem Whiteboard ein „Jugendlichenrat“ und ein Veloausflug am kommenden Wochenende sowie ein Gesprächsangebot angesichts der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan beworben worden.
Sie sagen auch: Frischblumen gab es im Lilienberg davor noch nie. Ebenso wenig den am Tag des Audits in Szene gesetzten Jugendlichenrat oder das Gesprächsangebot. Auch der angekündigte Veloausflug habe nicht stattgefunden. Velos seien den wenigsten Bewohnern überhaupt zugänglich: Voraussetzung dafür wäre der Besuch eines Einführungskurses. Aber die Betreuungspersonen, die diesen Kurs anbieten müssten, hätten dafür schon lange keine Zeit mehr.
Eine sachgerechte und geplante Vorbereitung auf ein Audit werde von der AOZ nicht als Kritik angesehen, schreibt die Medienstelle dazu. Sie sei, im Gegenteil, ein Beleg für professionelles Verhalten. „In allen Aufgabenbereichen der AOZ werden Audits vorbereitet. Würden wir uns in unseren Institutionen nicht auf Audits vorbereiten, wäre dies mit einem Schüler zu vergleichen, der sich absichtlich nicht auf eine Prüfung vorbereitet.“
Eine Rechnung, die nicht aufgeht
Die politische Verantwortung für die Betreuung und Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen im Asylbereich trägt die Zürcher Sicherheitsdirektion unter Regierungsrat Mario Fehr (Parteilos). Das Sozialamt, das zur Sicherheitsdirektion gehört, hat den Auftrag für den Betrieb der MNA-Strukturen, darunter das Zentrum Lilienberg, 2018 öffentlich ausgeschrieben.
Das ist üblich. Die Unterbringung von Asylsuchenden ist ein Markt, auf dem verschiedene Dienstleistungsanbieter*innen um Aufträge des Kantons konkurrenzieren. Entsprechend überzeugend müssen ihre Bewerbungen sein. Wichtigste Playerin im Asylmarkt neben der öffentlich-rechtlichen AOZ im Besitz der Stadt Zürich ist die private, gewinnorientierte Firma ORS. Doch um den Auftrag zum Betrieb der Unterbringung von minderjährigen Asylsuchenden bewarb sich die AOZ allein.
Die Rahmenbedingungen für den Betrieb gibt der Kanton vor: Etwa, dass im Lilienberg 90 Jugendliche Platz haben sollen. Er vergütet die AOZ mit einer Pauschale für den Betrieb des Zentrums sowie einem Betrag pro Bewohner*in und Nacht. Gemäss dem öffentlichen Auszug aus einem Protokoll des Stadtrats liegt dieser Betrag bei 119.90 Franken. Für die Betreuung von „als Flüchtling anerkannten MNA“ kommt ein Zuschlag von 11.70 Franken pro Person und Nacht hinzu.
In den Ausschreibungsunterlagen von 2018 wird ausserdem festgehalten, dass der AOZ „eine Minimalabgeltung von 50 % der Kapazität“ garantiert wird. Das heisst: Auch wenn im Lilienberg nur 35 Jugendliche wohnen, zahlt der Kanton trotzdem so viel, wie wenn 45 Jugendliche dort untergebracht würden. Darüber hinaus macht die AOZ wegen der Pauschale von rund 75’000 Franken pro Monat ein schlechteres Geschäft, je mehr Jugendliche dem Lilienberg zugewiesen werden.
Gegenüber Anfang 2021, als noch deutlich weniger Jugendliche im Lilienberg untergebracht waren, hat sich die Situation für die AOZ also auch aus ökonomischen Gründen verschärft: Unter dem Strich überweist das Sozialamt der AOZ deutlich weniger Geld pro Bewohner*in. Gemäss Berechnungen von das Lamm werden der AOZ pro Nacht und Person mit „Flüchtlingsstatus“ rund 225 Franken vergütet, wenn der Lilienberg von nur 35 Jugendlichen bewohnt wird. Bei einer vollen Belegung liegt dieser Betrag gemäss Stadtratsprotokoll aber nur bei 159.90 Franken – also rund 30 Prozent tiefer.
Die mutmasslich prekäre Betreuungssituation im Lilienberg deutet darauf hin, dass diese derzeit geleistete Vergütung bei voller Auslastung des Lilienbergs zu tief angesetzt ist, dass die AOZ der Sicherheitsdirektion bei ihrer Bewerbung einen zu tiefen Preis angeboten hat.
Sofortmassnahmen gefordert
Der Vertrag für den Betrieb der kantonalen Zürcher MNA-Strukturen läuft Ende Februar 2024 aus. Bis dahin wird sich die Situation voraussichtlich nicht entspannen. Im Gegenteil: Prognosen deuten auf eine weitere Zunahme von Asylgesuchen unbegleiteter Minderjähriger hin. Die AOZ wird weiterhin mit den knappen finanziellen Ressourcen wirtschaften müssen.
Die Gemeinderäte Walter Angst (AL) und Luca Maggi (Grüne) fordern deshalb Sofortmassnahmen, um die Lebensumstände der Jugendlichen zu verbessern. Stand jetzt könne die AOZ die vereinbarten sozialpädagogischen Standards nicht einhalten, schreiben sie in einem Statement: „Weil die mit dem Kanton vertraglich vereinbarte Entschädigung für die Unterbringung und Betreuung von MNA viel zu tief ist.“
Sie fordern unter anderem, dass die AOZ zusätzliche Sozialpädagog*innen engagiert. Falls der Kanton nicht für deren Bezahlung aufkommen wolle, soll ihr Lohn aus den Reserven der AOZ oder mit Unterstützung der Stadt finanziert werden. Von der Sicherheitsdirektion fordern sie die Halbierung der vorgesehenen Kapazität des Lilienbergs von heute 90 auf 45 Personen. Stattdessen sollen neue Unterkünfte geschaffen werden.
Erst am 11. Mai hat der Stadtrat einen Kredit für den Betrieb einer neuen MNA-Unterkunft an der Affolternstrasse beantragt. Hinzu kommen 325’000 zusätzliche Franken, die die Verpflichtung neuer Sozialpädagog*innen in dieser Unterkunft ermöglichen sollen. In seiner öffentlichen „Eigentümerstrategie“ hat er ausserdem festgehalten, dass die AOZ bis Ende 2023 keine neuen Leistungsaufträge von Dritten übernehmen soll.
Das sei alles begrüssenswert, sagt Walter Angst. Die zusätzlichen Mittel seien aber letztlich bloss „ein Tropfen auf den heissen Stein“. Und wenn sich die den aktuellen Missständen im Lilienberg zugrundeliegenden Rahmenbedingungen nicht ändern würden, solle die AOZ den Vertrag mit dem Kanton für den Betrieb des Zentrums Lilienberg vorzeitig aufkündigen. So oder so solle der Kanton in Zukunft auf Ausschreibungen im MNA-Bereich verzichten.
„Wir pflegen die Haltung, dass wir im Dialog mit den Auftraggebenden unsere Sichtweise einbringen und Verbesserungen vorschlagen“, schreibt die AOZ zu den Vorwürfen der ehemaligen Mitarbeitenden. So könne sie dazu beizutragen, „dass die Geflüchteten während ihres Aufenthaltes in der Schweiz auf dem Wege ihrer Integration bestmöglich unterstützt werden.“ Den Mitarbeitenden käme dabei eine zentrale Rolle zu. Die Medienstelle räumt ein, dass es der AOZ nicht immer gelinge, das Optimum für ihre Mitarbeitenden herauszuholen – und es nachvollziehbar sei, dass das zu Frustrationen bei ehemaligen Mitarbeitenden führen könne.
Die AOZ verweist ausserdem darauf, dass das Sozialamt eine ausserordentliche Aufsichtsprüfung des Lilienbergs veranlasst hat. Diese Prüfung des Betriebs durch unabhängige Expert*innen sei derzeit noch in Gange. Die Medienstelle der Sicherheitsdirektion erklärt dazu, dass der Grund für die Prüfung „verschiedene Beobachtungen und Meldungen“ seien. Über allfällige Folgemassnahmen werde entschieden, sobald die Resultate vorliegen, schreibt die Medienstelle weiter. Und: „Die AOZ ist in der Pflicht, die Leistungen fachgerecht zu erbringen.“
„Wir pflegen die Haltung, dass wir im Dialog mit den Auftraggebenden unsere Sichtweise einbringen und Verbesserungen vorschlagen – und so dazu beitragen können, dass die Geflüchteten während ihres Aufenthaltes in der Schweiz, auf dem Wege ihrer Integration bestmöglich unterstützt werden. Die Mitarbeitenden der AOZ spielen dabei die zentrale Rolle, weil sie die Geflüchteten vor Ort unterstützen und begleiten, Ihnen gilt unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie im Spannungsfeld zwischen vorgegebenen Rahmenbedingungen, fachlichen Ansprüchen und den Bedürfnissen der Geflüchteten arbeiten. Dies ist ein schwieriges und herausforderndes Spannungsfeld, bei dem es auch der AOZ nicht immer gelingt, das Optimum für unsere Mitarbeitenden und die Geflüchteten herauszuholen. Dass dies bei ehemaligen Mitarbeitenden zu Frustrationen führen kann, ist nachvollziehbar.
Nun zu Ihrem Fragenkatalog. Leider können wir teilweise mangels Zuständigkeit, aber auch aus personalrechtlichen oder Datenschutzgründen nicht auf alle Ihre Fragen eintreten. Im Umfeld der von Ihnen angesprochen Themen läuft derzeit auch eine ausserordentliche Aufsichtsprüfung durch unsere Auftraggeberin, das Kantonale Sozialamt, deren Resultat wir mit Auskünften an die Medien nicht vorgreifen können. Danke für Ihr Verständnis.
Gerne machen wir Ihnen aber folgende Angaben, wo es uns möglich ist und wir auch vermeiden können, dass Sie beim Verfassen Ihres Beitrags von falschen Annahmen ausgehen:
[...] *
· Bezüglich des psychosozialen Dienstes (PSD): dieser bietet direkt keine Therapien für unsere Jugendlichen an, das ist auch nicht seine Aufgabe. Dafür arbeiten wir mit externen Stellen zusammen. Die Kapazitäten in der Jugendpsychiatrie sind – wie Sie sicher auch schon gelesen haben – ausgesprochen knapp und lange Wartezeiten sind nicht nur für MNA, sondern für alle Jugendlichen bedauerlicherweise die Norm. Bei psychiatrischen Notfallsituation werden Überweisungen in die dafür zuständigen Strukturen veranlasst (psychiatrische Kliniken, Kriseninterventionseinrichtungen, Notfallpsychiater).
· Bezüglich des ‚Herausstreichens‘ von Worten aus Berichten: Die Kontrolle von wichtigen Dokumenten durch die Zentrums- oder Teamleitung gehört zur Qualitätssicherung in der AOZ. Der Begriff ‚Verwahrlosung‘ wird seit längerer Zeit im professionellen Kontext nicht mehr verwendet und deshalb im Rahmen der Qualitätssicherung durch ein Synonym ersetzt. Dasselbe gilt für den Begriff ‚Mobbing, der trotz seiner Popularität nicht für jeden Konflikt unter Jugendlichen zutrifft, und gegebenenfalls durch den für die jeweilige Situation zutreffenden Begriff ersetzt wird.
· Eine sachgerechte und geplante Vorbereitung auf ein Audit sehen wir nicht als Kritik, ist sie doch im Gegenteil ein Beleg für professionelles Verhalten. In allen Aufgabenbereichen der AOZ werden Audits vorbereitet. Würden wir uns in unseren Institutionen nicht auf Audits vorbereiten, wäre dies mit einem Schüler zu vergleichen, der sich absichtlich nicht auf eine Prüfung vorbereitet.“
*Drei Antworten wurden aus der Stellungnahme entfernt, weil die darin angesprochenen Themen nicht im Artikel erwähnt werden.
„Die betriebliche Verantwortung für das MNA-Zentrum Lilienberg liegt bei der AOZ. Dem Kantonalen Sozialamt sind die Kritikpunkte betreffend Betreuungssituation im Lilienberg bekannt. Die beteiligten Stellen sind im Austausch. Aufgrund von verschiedenen Beobachtungen und Meldungen hat das KSA eine ausserordentliche Betriebsprüfung durch unabhängige Fachexperten angeordnet. Über allfällige Massnahmen wird entschieden, wenn die Resultate vorliegen. Die AOZ ist in der Pflicht, die Leistungen fachgerecht zu erbringen. Aufsichtsbesuche finden regelmässig statt.
Wir haben den Auftrag ordentlich im Jahr 2018 ausgeschrieben. Die AOZ als erfahrene Fachorganisation erhielt gestützt auf das im Submissionsverfahren eingereichte Betreuungskonzept, das auch die Infrastruktur umfasst, und die offerierten Tarife den Zuschlag. In den letzten Monaten sind vermehrt MNA in die Schweiz gekommen. Vor einem Jahr war der Lilienberg zur Hälfte belegt, inzwischen sind rund 90 Jugendliche im Lilienberg untergebracht. Schwankungen sind normal im Asylbereich.“
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