Seit die Schweiz über die 13. AHV-Rente diskutiert, stehen auch die Ergänzungsleistungen (EL) im Fokus. Die Gegner*innen der Initiative argumentieren, dass eine 13. AHV-Rente nicht nötig sei, weil die EL bereits die Existenzsicherung aller Rentner*innen garantiere. Altersarmut lasse sich mit dieser gezielten Massnahme effizienter bekämpfen, anstatt dass alle eine höhere Rente erhalten.
Die Befürworter*innen sehen in den EL hingegen keine Lösung für das Rentenproblem: Wer sein Leben lang gearbeitet habe, verdiene eine anständige Rente und solle nicht um EL betteln müssen. Und sie verweisen auf die Studie der ZHAW, die zeigt: Wegen Unwissen oder aus Scham beziehen über 15 Prozent der Rentner*innen keine EL, obwohl sie Anspruch darauf hätten.
Was sowohl Befürworter*innen und Gegner*innen der Initiative ausklammern: Wer heute EL bezieht, weil die AHV-Rente nicht zum Leben reicht, wird auch mit den zusätzlichen 100 bis 200 Franken pro Monat einer 13. AHV-Rente nicht über die Runden kommen. Mit anderen Worten: Auch ein positives Abstimmungsresultat wird die meisten Armutsbetroffenen nicht vor der EL bewahren.
Was müsste aber getan werden, solange keine existenzsichernden Renten in Sicht sind? Wir haben mit Marie Baumann gesprochen, die seit Jahren zu den Themen Behinderung und Invalidenversicherung bloggt.
Laut Bundesverfassung muss die staatliche Altersvorsorge existenzsichernd sein. Wer also im Alter nicht zusätzlich Geld aus der beruflichen oder privaten Vorsorge erhält, muss mit der Rente aus der 1. Säule leben können. Weil das aber schon in den 1960er-Jahren nicht der Fall war, hat das Parlament 1966 die EL eingeführt – eigentlich als Übergangslösung, bis die AHV existenzsichernd ist. Knapp 60 Jahre später beziehen 12 Prozent aller Rentner*innen EL, weil sie ihre minimalen Lebenskosten nicht decken können. Auch die Invalidenversicherung (IV) ist Teil der 1. Säule und müsste existenzsichernd sein. Heute bezieht jede*r zweite IV-Bezüger*in EL.
Die EL bezahlen die Differenz zwischen dem Einkommen (AHV- und Pensionskassenrente, Teile des Vermögens) und den anerkannten Ausgaben. Diese unterscheiden sich, je nachdem, ob man zu Hause oder in einem Heim, alleinstehend oder in einer Ehe lebt. Für daheim wohnende, unverheiratete EL-Bezüger*innen gelten:
- Lebensbedarf: 1’675 Franken
- Miete: maximal 783 bis 1’465 Franken – je nach Wohnort und Wohnsituation
- Krankenkasse: maximal 410 bis 670 Franken – je nach Wohnort höchstens die kantonale Durchschnittsprämie
Die EL geht für diese Personen von einem maximalen Lebensbedarf zwischen 2’868 und 3’810 Franken pro Monat aus. Durchschnittlich bezieht ein*e daheim lebende*r EL-Bezüger*in 1ʼ150 Franken EL pro Monat.
Die seit 2021 gültige EL-Reform hat nach einer dreijährigen Übergangsfrist auf Anfang Januar 2024 auch bei bisherigen EL-Beziehenden zu Kürzungen geführt. Für WGs und Konkubinate wurden die Mietzinsmaxima gesenkt: Es wird nur noch die effektive Krankenkassenprämie anstatt einer Pauschale vergütet und bei Ehepaaren wird das Einkommen der Ehepartner*innen neu zu einem grösseren Prozentsatz angerechnet.
Auch wird neu das Vermögen stärker als bisher berücksichtigt: Der festgelegte Freibetrag, den man abziehen kann, bevor das übrige Vermögen zu einem bestimmten Prozentsatz als Einkommen angerechnet wird, wurde gesenkt. Die Reform hat auch eine explizite Vermögensgrenze nach oben eingeführt.
Zudem wird mit der Einführung der Lebensführungskontrolle überprüft, wie viel Vermögen eine Person in den letzten 10 Jahren vor AHV-Bezug beziehungsweise während des EL-Bezugs verbraucht hat. Erlaubt ist, zehn Prozent des Vermögens pro Jahr zu verbrauchen. Jeder Franken, der über dieser Grenze liegt, wird als Vermögen angerechnet und die EL entsprechend gekürzt.
Neu gilt auch eine Rückzahlungspflicht nach dem Tod: Erb*innen müssen aus dem Nachlass EL zurückzahlen, die die Verstorbenen zu Lebzeiten bezogen haben. Dies gilt für Erbschaften, die 40’000 Franken übersteigen. Die Reform wurde vom National- und Ständerat überparteilich abgesegnet und es wurde kein Referendum ergriffen.
Das Lamm: Die aktuellen Umfragen zeigen, dass sich die Bevölkerung eigentlich existenzsichernde Renten wünscht. Eine 13. AHV-Rente löst dieses Versprechen aber längst nicht ein. Welche konkreten Verbesserungen würden EL-Beziehenden unabhängig von der 13. AHV-Rente helfen?
Marie Baumann: Das kann man nicht pauschal sagen. EL sind als Bedarfsleistungen konzipiert. Das heisst, es wird ganz genau geschaut, ob und in welchem Umfang eine Person tatsächlich bedürftig ist. Die Berechnung der EL stützt sich dabei auf ausführliche und komplizierte gesetzliche Grundlagen. Daher gibt es kaum eine einzige Massnahme, die allen EL-Beziehenden gleichermassen nützen würde. Es hängt stark von der individuellen Situation ab, welche gesetzlichen Änderungen sich für eine Einzelperson konkret als Vorteil erweisen.
Was allen EL-Beziehenden zugutekäme, aber nicht direkt mit den EL selbst zu tun hat, wäre eine Steuerbefreiung – nicht nur der EL, wie es heute schon der Fall ist, sondern auch der AHV- beziehungsweise IV-Renten von EL-Beziehenden. Natürlich müssten dann aus Gründen der Fairness auch alle anderen tieferen Einkommen, zum Beispiel von working poor, steuerfrei sein. Ob dies realistisch wäre, ist fraglich.
Welche Konsequenzen hatte denn die letzte EL-Reform für EL-Beziehende?
Auch hier spielt die persönliche Situation der Betroffenen eine entscheidende Rolle. So wurden beispielsweise bei der letzten EL-Reform die Mietzinsmaxima für einige Gruppen wie Ehepaare, Familien und Alleinwohnende teils stark erhöht, für Konkubinatspaare und Menschen, die in WGs wohnen, wurden hingegen die Ansätze deutlich gekürzt.
Die Reform bedeutete also für die einen eine Aufstockung des Betrages, für die anderen finanzielle Einbussen?
Ja, die Änderungen haben je nach persönlicher Situation unterschiedliche Auswirkungen. Vom tieferen Freibetrag beziehungsweise der eingeführten Vermögensgrenze sind zum Beispiel nur jene EL-Beziehenden betroffen, die über ein Vermögen von mehr als 30’000 Franken – der neu festgelegte Freibetrag – beziehungsweise von mehr als 100’000 Franken – die Vermögensgrenze – verfügen.
Diese Regelungen werfen grundlegende Fragen auf: Wie viel Vermögen sollen EL-Beziehende besitzen dürfen? Welche Beträge sollen ihnen für Wohnkosten und Lebensunterhalt zugestanden werden? Über diese Fragen muss im gesellschaftlichen und politischen Diskurs ein Konsens gefunden werden.
Die fand ja mit der EL-Reform zumindest auf politischer Ebene statt, oder?
Die Debatte im Parlament war stark von Missbrauchsbefürchtungen geprägt und entsprechend fiel die Gesetzgebung dann auch aus. Eine breite öffentliche Diskussion über die EL fand nicht statt. Interessanterweise stiess nach dem Inkrafttreten der Reform jene Änderung auf besonders grosse Empörung, die EL-Beziehende gar nicht selbst, sondern „nur“ ihre Erb*innen betrifft: die Rückerstattungspflicht. Diese sieht vor, dass Erb*innen von Erbschaften, die 40‘000 Franken übersteigen, die bezogenen EL der Erblasser*innen zurückbezahlen müssen. Im Parlament ist bereits ein Vorstoss hängig, der diese Regelung rückgängig machen will. Dieser grundlegende Systemwechsel vom Versicherungssystem zu rückzahlungspflichtigen Fürsorgeleistungen wird offenbar in der Bevölkerung nicht goutiert.
Marie Baumann bloggt auf ivinfo.wordpress.com seit Jahren zu Behinderung und Invalidenversicherung und ist zu diesen Themen auch auf Twitter aktiv. Sie hat den Leitfaden „Arbeiten mit psychischer Erkrankung“ geschrieben, der speziell auf die Bedürfnisse von Betroffenen ausgerichtet ist.
Abgesehen von der Rückerstattungspflicht stiess die Reform aber nicht auf grossen Widerstand. Das Misstrauen gegenüber EL-Beziehenden ist gross und die Eingriffe in die Selbstbestimmung und persönliche Gestaltungsfreiheit werden nicht als problematisch gesehen.
Genau, ein Beispiel dafür ist eine Änderung bei den Krankenkassenprämien. Da EL-Beziehende vor der Reform für die Krankenkassenbeiträge die kantonale Durchschnittsprämie als Pauschalbetrag erhielten, konnten sie mit der Wahl eines günstigeren Versicherungsmodells etwas Geld einsparen und für etwas anderes verwenden. Dies wurde im Vorfeld der EL-Reform in der NZZ mit völlig aus der Luft gegriffenen Zahlen zum Skandal hochstilisiert: „Einzelne kassieren über 5’000 Franken extra“, hiess es in dem Artikel vor einem Korrigendum. Daraufhin hat das Parlament beschlossen, dass EL-Beziehende keinen Pauschalbetrag, sondern nur noch die effektive Krankenkassenprämie – höchstens die kantonale Durchschnittsprämie – erhalten sollen. Das Argument war natürlich, bei den Kosten der EL sparen zu können.
Und spart der Bund mit dieser Massnahme tatsächlich?
Das ist fraglich. Im erwähnten NZZ-Artikel wurde unterschlagen, dass sich die wirklich hohen Einsparbeträge bei den Krankenkassenprämien vor allem mit einer hohen Franchise erzielen lassen. Wer ein solches Modell wählt, muss dann aber im Krankheitsfall die Kosten in der Höhe der Franchise aus eigener Tasche bezahlen – mit eben jenem Geld, das die Person mit der Wahl einer hohen Franchise eingespart hat. Wenn die EL nur die effektive Prämie erstattet, gibt es keinen Anreiz, ein solches Modell zu wählen.
Ganz generell gibt es für EL-Beziehende keinen Anreiz mehr, ein möglichst günstiges Prämienmodell – zum Beispiel ein Hausarztmodell – zu wählen, da sie nicht finanziell davon profitieren. Profitieren dürfte dann nicht der Bund, sondern die Krankenversicherer, weil EL-Beziehende nicht mehr tendenziell die günstigsten Prämienmodelle wählen.
Gibt es noch weitere Beispiele für eine solch kurzsichtige Politik?
Da die Mietzinsmaxima für Alleinwohnende deutlich erhöht und für WGs deutlich gesenkt wurden, können sich nun viele WG-Bewohner*innen ihr WG-Zimmer nicht mehr leisten und müssen ausziehen. Unter dem Strich kommt das teurer, weil die Ansätze für Alleinwohnende bis zu 600 Franken höher sind als die WG-Ansätze.
Was wären wichtige Ansätze, um das EL-System zu verbessern?
Der oft geforderte Abbau der Bürokratie klingt zwar verlockend, ist aber leider schlicht nicht möglich, da die EL explizit als „Bedarfsleistungen“ konzipiert sind und der „Bedarf“ halt genau überprüft werden muss.
Auf Systemebene wäre aber zu überlegen, ob man die Heim- und Pflegeleistungen nicht aus dem EL-System herausnehmen und in eine obligatorische Pflegeversicherung überführen sollte – damit die EL wirklich noch für den Lebensbedarf zuständig wären.
Was würde dies bewirken?
Eine Pflegeversicherung würde die EL finanziell stark entlasten, denn die Heimkosten machen aktuell 40 Prozent der EL-Ausgaben aus. Ein Heimaufenthalt ist sehr teuer und auch von Personen aus dem Mittelstand kaum länger aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Es besteht also kaum ein Anreiz, fürs Alter Geld zu sparen, wenn die Pflege – die doch ein beträchtlicher Anteil der alten Menschen irgendwann benötigt – dann sowieso alles in Kürze auffrisst.
Inwiefern ist das Abstimmungsresultat über die 13. AHV-Rente für EL-Beziehende relevant?
Wird die Initiative angenommen, erhalten auch EL-Beziehende eine 13. AHV-Rente. Das klingt erst einmal gut. Doch weil die Initiant*innen festgelegt haben, dass die 13. AHV-Rente bei der Berechnung der EL nicht berücksichtigt werden darf, ergäbe sich die unschöne Situation, dass EL-Beziehende unterschiedlich hohe Beträge für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung haben würden.
Können Sie dies genauer erläutern?
Aktuell erhält eine EL-beziehende Person – egal wie hoch ihre AHV oder IV-Rente ist – 1’675 Franken pro Monat für den Lebensbedarf in Form von EL. Bei Annahme der Initiative hätte eine AHV-beziehende Person zwischen 100 und 200 Franken mehr zu Verfügung: eine Person mit der Höchstrente 1’879 Franken pro Monat, eine Person mit der Mindestrente 1’777 Franken pro Monat. IV-Bezüger*innen hätten hingegen wie bisher 1’675 Franken für den Lebensbedarf zur Verfügung. Dies widerspricht der Definition der EL als Bedarfsleistung, bei der eigentlich allen EL-Beziehenden gleich viel für den Lebensbedarf angerechnet werden sollte.
Zudem: Es könnte politisch schwieriger werden, eine Erhöhung des Lebensbedarfs zu fordern, weil die Gegner*innen argumentieren könnten, das sei nicht nötig, da es schliesslich eine 13. AHV-Rente gebe. Diese führt aber eben nicht zu einer gleichmässigen Erhöhung für alle EL-Beziehenden.
EL braucht es nur, weil die AHV und IV ihren verfassungsmässigen Auftrag zur Existenzsicherung nicht erfüllen. Ist eine 13. AHV-Rente nicht trotz dieser Ungleichbehandlung von Rentner*innen ein Schritt in die richtige Richtung?
Das kann man mit sehr viel Wohlwollen so interpretieren. Allerdings muss man sagen: Der Fokus der Initiative lag nie darauf, die Situation für EL-Beziehende gezielt zu verbessern. Da der aktuelle durchschnittliche EL-Bedarf bei daheim lebenden EL-Beziehenden bei 1’150 Franken liegt, könnten die wenigsten EL-Beziehenden dank der 13. AHV-Rente auf EL verzichten. Sie müssen in einem System mit sehr vielen Restriktionen und Kontrollmechanismen verbleiben.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 26 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1612 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 910 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 442 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?