Die Geschichte wäre kaum zu glauben, wenn man nicht wüsste, dass sie so gut zur Schweiz passt wie die Bratwurst zur Rösti. Das SRF entdeckte vergangene Woche eine Nazi-Gedenkstätte, die 79 Jahre lang unbemerkt und unhinterfragt auf einem Friedhof mitten in Chur stand. Das Relikt erinnert an gefallene deutsche Soldaten und wurde während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes vom deutschen „Volksbund“ erbaut.
Der Churer Stadtpräsident ist ab dem Fund irritiert, wie er gegenüber SRF versichert. „Dieser Stein gehört nicht hier hin“, sagt er. Aber warum eigentlich nicht? Weil die Schweiz mit diesem Teil der Geschichte nichts zu tun hat? Wohl kaum. Die Recherche von SRF verdeutlicht ja: Die Nazis waren in der Schweiz aktiver und akzeptierter, als man sich eingestehen will. Der Friedhof in Chur ist also genau der Ort, wo dieser Stein hingehört. Doch die Reaktion des Stadtpräsidenten weist auf etwas anderes hin: Auf den schweizerischen Umgang mit der eigenen dunklen Geschichte, der vom Wegschauen und Wegschieben geprägt ist.
Zum ersten Mal setzte sich die offizielle Schweiz 1957 mit ihrer Rolle im zweiten Weltkrieg auseinander. Damals erschien der „Ludwig-Bericht“ zuhanden des Bundesrats, der insbesondere die Schweizer Migrationspolitik zur Zeit des Holocaust aufarbeiten sollte. Diese war äusserst restriktiv, insbesondere gegenüber Juden*Jüdinnen, wie etwa ein Kreisschreiben von 1942 an alle polizeilichen Behörden im Land belegt. Der Befehl: „Nicht zurückzuweisen sind […] politische Flüchtlinge, d.h. Ausländer, die sich bei der ersten Befragung von sich aus als solche ausgeben und es glaubhaft machen können. Flüchtlinge nur aus Rassengründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.“
Erstaunlicherweise reagierten 1957 mehrere Nationalräte in einer Parlamentsdebatte zum Ludwig-Bericht demütig. So sagte etwa ein EVP-Nationalrat über die an der Grenze abgewiesenen Geflüchteten, die später in den Konzentrationslagern ermordet wurden: „Wir tragen als ganzes Volk dafür ein Stück Schuld.“ Andere Parlamentarier widersprachen und betonten, man sei eben besorgt gewesen um die nationale Sicherheit. Die Befürchtung sei berechtigt gewesen, die Schweiz könne von Deutschland überfallen werden, wenn sie die geflüchteten Menschen aufnimmt.
Eine absurde Behauptung, denn der Umgang mit politischen Dissident*innen war ja, wie das Zitat oben zeigt, um einiges wohlwollender als mit verfolgten Jüdinnen*Juden. Andere Stimmen in der Debatte verwiesen darauf, dass die Schweiz aus ihren Fehlern gelernt habe und daher jetzt, in den 1950ern, die Geflüchteten aus dem sozialistischen Ungarn aufgenommen habe (das fiel der Schweiz damals leicht, weil der Antikommunismus Staatsräson war). Und nun, 15 Jahre nach dem Ende des Kriegs, solle, so fanden damals viele Politiker, doch auch mal Schluss sein mit dem elendigen Herumgestochere in der Geschichte.
Und so war es denn auch einige Dekaden lang weitgehend still um das Thema. 1989 konnte sich die Öffentlichkeit endlich wieder auf das Erbauliche konzentrieren: Anlässlich des 50. Jahrestags der Mobilmachung von 1939 inszenierte sich das Schweizer Militär am 1. September 1989 mit der Übung „Diamant“ selbst. Man gedachte also nicht – wie in anderen europäischen Ländern üblich – des Kriegsendes, sondern dessen Beginn. Zweck der Übung war es, den Wehrwillen des Schweizer Volks erneut zu entfachen.
Erst weitere zehn Jahre später hatte die selige Ignoranz ein erneutes jähes Ende, denn es folgten Anklagen des jüdischen Weltkongresses, der darauf hinwies, dass auf Schweizer Bankkonten noch immer die Vermögen von ermordeten Jüdinnen*Juden lagen, die es zurückzugeben gelte.
In der Folge wurde die unabhängige Expertenkommission rund um Jean-Francois Bergier eingerichtet. Sie arbeitete fünf Jahre lang an einem mehrteiligen historischen Bericht, der die Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg en détail aufarbeitete. Dazu gehörten neben der Schweizer Grenzpolitik auch die nachrichtenlosen Vermögen und die wirtschaftliche Verflechtung der Schweiz mit dem Naziregime.
Bereits vor der Veröffentlichung des Berichts unterstellten rechte Politiker*innen der Kommission tendenziöses Vorgehen. Die SVP wies ihn schliesslich ganz zurück mit der Begründung, dass er der „Wahrnehmung der schweizerischen Interessen schade“. Sie kämpfte im Nachgang dagegen, dass die Erkenntnisse der Kommission Eingang in den Schulstoff erhielten. Ganz nach dem Motto: Hier gibt es nichts zu sehen, bitte zur Schlacht von Marignano weiterblättern!
Der „Arbeitskreis Gelebte Geschichte“ veröffentlichte gar eine Gegendarstellung in Form des Buchs „Erpresste Schweiz – Eindrücke und Wertungen von Zeitzeugen“. Die Zeitzeugen waren ehemalige Militärs und Diplomaten, die qua Geburtsjahr für sich beanspruchten, besser informiert zu sein über die Ereignisse während des zweiten Weltkriegs als eine internationale Gruppe von Historiker*innen. Sie erklären darin etwa, die moralische Betroffenheit, die dem Bericht zugrunde liege, sei ein „Modetrend des Zeitgeists“. Und überhaupt: „Welche Moral soll in dieser Zeit des moralischen Zerfalls des Westens als Massstab dienen? […] Etwa die Moral Israels mit seiner Siedlungspolitik in Palästina?“ Angetreten, um die Erkenntnisse der UEK zu entkräften, bestätigte das Buch zumindest einen ihrer zentralen Vorwürfe: In der Schweiz herrscht ein latenter Antisemitismus vor.
Heute, 90 Jahre nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland, diskutiert die offizielle Schweiz erstmals über ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Verantwortlich für das weitere Vorgehen ist ausgerechnet das Eidgenössischen Amt für auswärtige Angelegenheiten EDA. Denn die besondere Ironie der Geschichte: Die Idee zur Gedenkstätte kam nicht etwa aus der Schweizer Politik, sondern von der Organisation für Auslandsschweizer und Auslandsschweizerinnen. 77 Jahre nach Kriegsende bleibt also alles beim Alten. In der Schweiz gilt nach wie vor: Der ganze Dreck der Vergangenheit, er „gehört hier nicht hin“.
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