Nazis in der Schweiz: Bitte Moos drüber wachsen lassen!

Jahr­zehn­te­lang steht ein Nazi­denkmal unent­deckt mitten in Chur. Das ist keine Sonder­bar­keit, sondern typisch Schweiz. Ein Kommentar. 
Unter dem Moos kommen Dinge zum Vorschein, die man lieber nicht sehen möchte. (Illustration: SRF/Luca Mondgenast)

Die Geschichte wäre kaum zu glauben, wenn man nicht wüsste, dass sie so gut zur Schweiz passt wie die Brat­wurst zur Rösti. Das SRF entdeckte vergan­gene Woche eine Nazi-Gedenk­stätte, die 79 Jahre lang unbe­merkt und unhin­ter­fragt auf einem Friedhof mitten in Chur stand. Das Relikt erin­nert an gefal­lene deut­sche Soldaten und wurde während der Zeit des natio­nal­so­zia­li­sti­schen Regimes vom deut­schen „Volks­bund“ erbaut.

Der Churer Stadt­prä­si­dent ist ab dem Fund irri­tiert, wie er gegen­über SRF versi­chert. „Dieser Stein gehört nicht hier hin“, sagt er. Aber warum eigent­lich nicht? Weil die Schweiz mit diesem Teil der Geschichte nichts zu tun hat? Wohl kaum. Die Recherche von SRF verdeut­licht ja: Die Nazis waren in der Schweiz aktiver und akzep­tierter, als man sich einge­stehen will. Der Friedhof in Chur ist also genau der Ort, wo dieser Stein hinge­hört. Doch die Reak­tion des Stadt­prä­si­denten weist auf etwas anderes hin: Auf den schwei­ze­ri­schen Umgang mit der eigenen dunklen Geschichte, der vom Wegschauen und Wegschieben geprägt ist.

Zum ersten Mal setzte sich die offi­zi­elle Schweiz 1957 mit ihrer Rolle im zweiten Welt­krieg ausein­ander. Damals erschien der „Ludwig-Bericht“ zuhanden des Bundes­rats, der insbe­son­dere die Schweizer Migra­ti­ons­po­litik zur Zeit des Holo­caust aufar­beiten sollte. Diese war äusserst restriktiv, insbe­son­dere gegen­über Juden*Jüdinnen, wie etwa ein Kreis­schreiben von 1942 an alle poli­zei­li­chen Behörden im Land belegt. Der Befehl: „Nicht zurück­zu­weisen sind […] poli­ti­sche Flücht­linge, d.h. Ausländer, die sich bei der ersten Befra­gung von sich aus als solche ausgeben und es glaub­haft machen können. Flücht­linge nur aus Rassen­gründen, z.B. Juden, gelten nicht als poli­ti­sche Flüchtlinge.“

Erstaun­li­cher­weise reagierten 1957 mehrere Natio­nal­räte in einer Parla­ments­de­batte zum Ludwig-Bericht demütig. So sagte etwa ein EVP-Natio­nalrat über die an der Grenze abge­wie­senen Geflüch­teten, die später in den Konzen­tra­ti­ons­la­gern ermordet wurden: „Wir tragen als ganzes Volk dafür ein Stück Schuld.“ Andere Parla­men­ta­rier wider­spra­chen und betonten, man sei eben besorgt gewesen um die natio­nale Sicher­heit. Die Befürch­tung sei berech­tigt gewesen, die Schweiz könne von Deutsch­land über­fallen werden, wenn sie die geflüch­teten Menschen aufnimmt.

Eine absurde Behaup­tung, denn der Umgang mit poli­ti­schen Dissident*innen war ja, wie das Zitat oben zeigt, um einiges wohl­wol­lender als mit verfolgten Jüdinnen*Juden. Andere Stimmen in der Debatte verwiesen darauf, dass die Schweiz aus ihren Fehlern gelernt habe und daher jetzt, in den 1950ern, die Geflüch­teten aus dem sozia­li­sti­schen Ungarn aufge­nommen habe (das fiel der Schweiz damals leicht, weil der Anti­kom­mu­nismus Staats­räson war). Und nun, 15 Jahre nach dem Ende des Kriegs, solle, so fanden damals viele Poli­tiker, doch auch mal Schluss sein mit dem elen­digen Herum­ge­sto­chere in der Geschichte.

Und so war es denn auch einige Dekaden lang weit­ge­hend still um das Thema. 1989 konnte sich die Öffent­lich­keit endlich wieder auf das Erbau­liche konzen­trieren: Anläss­lich des 50. Jahres­tags der Mobil­ma­chung von 1939 insze­nierte sich das Schweizer Militär am 1. September 1989 mit der Übung „Diamant“ selbst. Man gedachte also nicht – wie in anderen euro­päi­schen Ländern üblich – des Kriegs­endes, sondern dessen Beginn. Zweck der Übung war es, den Wehr­willen des Schweizer Volks erneut zu entfachen.

Erst weitere zehn Jahre später hatte die selige Igno­ranz ein erneutes jähes Ende, denn es folgten Anklagen des jüdi­schen Welt­kon­gresses, der darauf hinwies, dass auf Schweizer Bank­konten noch immer die Vermögen von ermor­deten Jüdinnen*Juden lagen, die es zurück­zu­geben gelte. 

In der Folge wurde die unab­hän­gige Exper­ten­kom­mis­sion rund um Jean-Fran­cois Bergier einge­richtet. Sie arbei­tete fünf Jahre lang an einem mehr­tei­ligen histo­ri­schen Bericht, der die Rolle der Schweiz im zweiten Welt­krieg en détail aufar­bei­tete. Dazu gehörten neben der Schweizer Grenz­po­litik auch die nach­rich­ten­losen Vermögen und die wirt­schaft­liche Verflech­tung der Schweiz mit dem Naziregime. 

Bereits vor der Veröf­fent­li­chung des Berichts unter­stellten rechte Politiker*innen der Kommis­sion tenden­ziöses Vorgehen. Die SVP wies ihn schliess­lich ganz zurück mit der Begrün­dung, dass er der „Wahr­neh­mung der schwei­ze­ri­schen Inter­essen schade“. Sie kämpfte im Nach­gang dagegen, dass die Erkennt­nisse der Kommis­sion Eingang in den Schul­stoff erhielten. Ganz nach dem Motto: Hier gibt es nichts zu sehen, bitte zur Schlacht von Marignano weiterblättern!

Der „Arbeits­kreis Gelebte Geschichte“ veröf­fent­lichte gar eine Gegen­dar­stel­lung in Form des Buchs „Erpresste Schweiz – Eindrücke und Wertungen von Zeit­zeugen“. Die Zeit­zeugen waren ehema­lige Mili­tärs und Diplo­maten, die qua Geburts­jahr für sich bean­spruchten, besser infor­miert zu sein über die Ereig­nisse während des zweiten Welt­kriegs als eine inter­na­tio­nale Gruppe von Historiker*innen. Sie erklären darin etwa, die mora­li­sche Betrof­fen­heit, die dem Bericht zugrunde liege, sei ein „Mode­trend des Zeit­geists“. Und über­haupt: „Welche Moral soll in dieser Zeit des mora­li­schen Zerfalls des Westens als Mass­stab dienen? […] Etwa die Moral Israels mit seiner Sied­lungs­po­litik in Palä­stina?“ Ange­treten, um die Erkennt­nisse der UEK zu entkräften, bestä­tigte das Buch zumin­dest einen ihrer zentralen Vorwürfe: In der Schweiz herrscht ein latenter Anti­se­mi­tismus vor.

Heute, 90 Jahre nach der Macht­über­nahme der Nazis in Deutsch­land, disku­tiert die offi­zi­elle Schweiz erst­mals über ein Denkmal für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus. Verant­wort­lich für das weitere Vorgehen ist ausge­rechnet das Eidge­nös­si­schen Amt für auswär­tige Ange­le­gen­heiten EDA. Denn die beson­dere Ironie der Geschichte: Die Idee zur Gedenk­stätte kam nicht etwa aus der Schweizer Politik, sondern von der Orga­ni­sa­tion für Auslands­schweizer und Auslands­schwei­ze­rinnen. 77 Jahre nach Kriegs­ende bleibt also alles beim Alten. In der Schweiz gilt nach wie vor: Der ganze Dreck der Vergan­gen­heit, er „gehört hier nicht hin“. 


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