Die Schweiz verschulde sich in der Coronakrise mit sechs Millionen Franken pro Stunde, rechnete Bundesrat und Buchhalter Ueli Maurer kürzlich der Presse vor. Das ist zwar kein Problem für den Staatshaushalt des reichen Landes, aber es wird über die nächsten Jahre die Politik prägen. Die Schweiz steuert auf harte Auseinandersetzungen darüber zu, wer die Kosten der Krise zu tragen hat.
Derzeit entsteht an der Universität Luzern das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Wissenschaftlicher Leiter des Instituts wird Christoph Schaltegger. Der einflussreiche Professor für Politische Ökonomie hat sich mit Publikationen gegen den Sozialstaat einen Namen gemacht.
Auf Anfrage von das Lamm erklärt er: Das neue Institut wolle „sämtlichen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern parteiübergreifend und in klar verständlicher Sprache dabei behilflich sein, Fakten und wirtschaftliche Zusammenhänge zur Meinungsbildung zu ergründen“. Auch in den Zielen der Trägerstiftung des IWP heisst es, man wolle „zur gesellschaftlichen Meinungsbildung beitragen“ und eine „Brückenfunktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ wahrnehmen.
Die Stiftung hat bereits für Aufsehen gesorgt, indem sie René Scheu zum Geschäftsführer des Instituts ernannte. Man legt in Luzern offenbar Wert auf Aufmerksamkeit. Scheu, der marktfromme Feuilleton-Chef der NZZ, ist gut vernetzt und versteht es, mediale Akzente zu setzen.
Das hat er bislang vor allem mit seinem Feldzug gegen angeblichen „Opferautoritarismus“, „Political Correctness“ und „Cancel Culture“ unter Beweis gestellt. In diesem publizistischen Meinungskampf wurden Verletzungen und Gräben aufgerissen, um die Geltung von ohnehin wohlsituierten Gruppen auf Kosten von Minderheiten zu festigen. Scheus Geschäft in Luzern wird nun die Wirtschaftspolitik, in der es um Existenzen von Armutsbetroffenen geht.
Warum wirtschaftspolitische Gewalt unsichtbar bleibt
Die existenziellen Konsequenzen wirtschaftspolitischer Entscheide verschwinden in Debatten oft hinter Modellen, Statistiken und harmlos anmutenden Fachbegriffen. Beim Luzerner Wirtschaftsprofessor Schaltegger heissen letztere „bilanzorientierte Haushaltssteuerung“, „Abbaupfad für den Corona-Ausgabenüberhang“ oder „Sanierung über die Ausgabenseite“.
Was diese Mechanismen bedeuten, hat der Ökonom während der Pandemie im Wirtschaftsmagazin Die Volkswirtschaft erläutert. In einem Artikel zur Schuldenbremse in Krisenzeiten lobte Schaltegger Neuseeland: Das Land habe seit 30 Jahren die Buchhaltung an die Haushaltssteuerung gekoppelt und den „Fokus auf die langfristige Stärkung der Bilanz“ gelegt.
Während Margaret Thatcher und Ronald Reagan bis heute mit der Zerschlagung der Arbeiterbewegung und sozialen Verwüstungen identifiziert werden, ist das Schicksal Neuseelands unter dem sozialdemokratischen Premierminister David Lange weniger bekannt.
Das Land wurde in den 1980ern unter Langes Führung einem brutalen wirtschaftspolitischen Programm unterzogen: Halbierung des Höchststeuersatzes, Einführung der Mehrwertsteuer, Abschaffung der Lohn- und Preiskontrollen, Deregulierung der Finanzwelt. In jener Zeit stieg die Armut auf dem Inselstaat um über 30 Prozent, Lebensmittelbanken schossen aus dem Boden, die Selbstmordrate unter Jugendlichen kletterte in ungekannte Höhen.
„Menschen haben sich umgebracht oder verliessen das Land“, bilanzierte Lange 2004 in einem Interview in Brandeins: „Viele haben uns gehasst.“ Der Labour-Politiker und sein Finanzminister Roger Douglas stehen für die Abkehr vom sozialdemokratischen Verwaltungsmodell, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hatte. Diese Politik hat längst ein Etikett, das sich kaum noch jemand selbst geben mag: neoliberal.
Auch Schaltegger, der beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse arbeitete, bevor er seine Professur antrat, wird sich nicht als neoliberalen Werbetreibenden preisen. Stattdessen reist er in angeblich streng wissenschaftlicher Mission durch die Schweiz und erklärt wahlweise, warum das AHV-Alter erhöht gehört, warum die Sozialversicherungen zu hoch sind oder warum die Reichen zu viele Steuern bezahlen.
In einem Werbevideo für ein Wirtschaftsstudium an seiner Fakultät sagt er über dessen Lehrinhalte: „Man wird sicher auf Emotionen stossen, wenn man das öffentlich sagt.“ Linke Reaktionen auf Austerität, auf Verarmungspolitik wie in Neuseeland gelten ihm als „dogmatische Gereiztheit“.
Ein Professor, ein Wirtschaftsanwalt und ein Milliardär
Auf Anfrage, welche Inhalte am neuen Institut gelehrt und verbreitet werden sollen, antwortet Schaltegger vage: Es befasse sich mit volkswirtschaftlichen Fragen, die den Stimmbürger:innen der Schweiz vermittelt werden sollen. Über Werte, Zielsetzung und Organisation werde im Herbst an einer Pressekonferenz orientiert. Auch über die Mittel und Wege zur Einflussnahme ist noch nichts zu erfahren.
Neben der publizistischen Tätigkeit des wissenschaftlichen Leiters zeigt aber auch die Zusammensetzung der Trägerstiftung, was da wohl künftig der Schweizer Bevölkerung beigebracht werden soll.
Neben Christoph Schaltegger und René Scheu, Zögling des St. Galler Privatbankiers Konrad Hummler, nimmt Wirtschaftsanwalt Thomas Sprecher im Stiftungsrat Einsitz. Der Spezialist für Stiftungsrecht kennt Scheu noch aus dem SMH-Verlag, der den Schweizer Monat herausgibt. Sprecher ist Partner der grossen Wirtschaftskanzlei Niederer Kraft Frey, die ihren Sitz an der Zürcher Bahnhofstrasse hat.
Präsident der Trägerstiftung ist der Industrielle Alfred N. Schindler, dessen Familienvermögen in der Pandemie um zwei Milliarden auf rund 15 Milliarden Franken angewachsen ist, wie die Bilanz letzten Herbst berechnete. Die Kassen des IWP sind gefüllt, die finanzstarken Interessen augenscheinlich. Die Sorge dürfte dem Erhalt von Profit und Zins gelten und nicht etwa Lohn und Sozialleistungen, wie bei den allermeisten Menschen, denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Instituts vermittelt werden sollen.
In Krisen werden ökonomische Gewissheiten in Frage gestellt
„Wissenschaftliche Erkenntnis“ ist in wirtschaftspolitischen Fragen ein sonderbar konturloser Begriff. Ökonom:innen streiten bereits über die Grundannahmen, auf denen ihr theoretisches System aufbaut.
Der Überbau der „klassischen“ Wirtschaftstheorie sei mit grosser Sorgfalt auf logische Konsistenz hin entwickelt worden, bloss seien ihre Voraussetzungen weder klar noch allgemeingültig, schrieb etwa John Maynard Keynes. Die Theorie des berühmten britischen Ökonomen rechtfertigte die staatlichen Eingriffe im sozialdemokratischen Modell nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Wirtschaftskrise ab Mitte der 1970er-Jahre geriet sie gegenüber neoliberalen Vorstellungen ins Hintertreffen.
Derzeit steht die Welt vor einer Krise, die die damalige weit in den Schatten stellen dürfte. In solchen Einbrüchen stehen ökonomische Gewissheiten auf dem Prüfstand, in den wirtschaftspolitischen Stellungskriegen verschieben sich die Frontverläufe. In der Vogelperspektive finden sich auf der einen Seite die Befürworter:innen staatlicher Eingriffe, auf der anderen Seite die Marktradikalen. Ihre jeweiligen Theorien dienen vor allem dazu, die politischen Verschiebungen zu begründen.
Es scheint, als habe die liberale Vorstellung, der Markt regle fast alles, derzeit einen schlechten Stand. Staatliche Interventionen wurden durch die Pandemie zur Ultima Ratio: Tote durch staatliches Nichthandeln haben Gewicht – selbst in der Schweiz. In welche Richtung es aber längerfristig geht, wird in politischen Konflikten entschieden werden. An der Universität Luzern will man in diesem Disput offenbar mitreden.
Sparen auf Kosten der Armen: ein „No-Brainer“
Wie das klingen könnte, zeigte Ökonom Schaltegger im Frühling 2016. Damals trat er am UBS Center, einem assoziierten Institut an der Universität Zürich, auf und warb für ein höheres Rentenalter, das der Bundesrat seiner Meinung nach tabuisiere.
Finanzierung über Mehrwertsteuer, tiefere Renten: So lauteten einige seiner Rezepte. Nicht weniger als ein halbes Dutzend Mal sagte er in den Saal hinein: „Das ist ein No-Brainer.“ Auch für die Betroffenen der Sparmassnahmen hatte er einige Ratschläge dabei, die er als „positive Story“ verkaufte. In seinem neoliberalen Märchen könnten die Leute länger arbeiten: „Seht das als Chance, ihr werdet gebraucht.“
Die Rede vom „No-Brainer“, dass man über Dinge gar nicht nachdenken müsse, ist kein Zufall. Ideologie ist am wirkungsmächtigsten, wenn sie nicht als Ideologie erscheint. Wenn es scheint, als könne es nicht anders sein, als wäre etwa das Interesse auf Kosten der Armen zu sparen eine unhintergehbare „wissenschaftliche Erkenntnis“.
Lange bevor das neue Institut in Luzern den Milliardär Schindler gewonnen hatte, schrieb Karl Marx: „Es ist (…) absolutes Interesse der herrschenden Klasse, die gedankenlose Konfusion zu verewigen. Und wozu anders werden die sykophantischen Schwätzer bezahlt, die keinen andren wissenschaftlichen Trumpf auszuspielen wissen, als dass man in der politischen Ökonomie überhaupt nicht denken darf?“
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