Ni Una Menos Zürich: „Wir orga­ni­sieren unsere Wut!“

Seit fünf Jahren prote­stieren sie gegen Femi­ni­zide. Doch seither hat sich die Zahl der Frau­en­morde kaum verän­dert. Woran das liegt, erzählen die Akti­vi­stinnen im Interview. 
Im Winter 2021 fand in Zürich eine grosse Demonstration gegen Feminizide statt. (Foto: Kira Kynd)

Ni Una Menos. Nicht eine weniger. Mit diesem Aufruf ziehen Aktivist*innen welt­weit durch die Strassen. Sie kämpfen dagegen, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden. Ange­fangen haben die Proteste 2015 in Argen­ti­nien, nachdem die 14-jährige Chiara Paez von ihrem Freund getötet wurde, weil sie nicht abtreiben wollte.

Seit August 2019 existiert auch ein Zürcher Kollektiv. Wir haben zwei Akti­vi­stinnen getroffen und mit ihnen darüber geredet, was sich in den letzten fünf Jahren verän­dert hat und was es braucht, damit Femi­ni­zide endlich aufhören. Sie haben sich entschieden, in diesem Inter­view nur mit Vornamen und ohne Bild zu erscheinen, um nicht als Einzel­per­sonen, sondern als Kollektiv aufzutreten. 

Das Lamm: Stine und Nekane, ihr kämpft seit fünf Jahren gegen Femi­ni­zide. Doch sowohl die Zahlen des Bundes als auch jene von Stop Femi­nizid zeigen: Tötungen an Frauen nehmen nicht ab. Was löst das bei euch aus?

Stine: Wut. Aber es moti­viert mich vor allem, weiterzukämpfen.

Nekane: Bei mir ist es ähnlich. Nach jedem weiteren Femi­nizid denke ich: jetzt umso mehr und umso lauter.

„Die Pandemie hat uns sepa­riert und alltäg­liche Orga­ni­sa­ti­ons­struk­turen durchbrochen.“

Nekane, Akti­vi­stin bei Ni Una Menos Zürich

Trotzdem scheint die Aufbruch­stim­mung seit 2019 etwas abge­flacht. Woran liegt das?

Nekane: 2019 war wie eine Vision. Welt­weit gab es eine femi­ni­sti­sche Welle und in der Schweiz fand der grosse femi­ni­sti­sche Streik statt. Man hat sich vernetzt und es entstanden viele neue Grup­pie­rungen. Dann kam die Pandemie. Sie hat uns sepa­riert und alltäg­liche Orga­ni­sa­ti­ons­struk­turen durch­bro­chen. Seither versu­chen wir, diese Kraft wieder zu aktivieren.

Im selben Jahr wie der grosse femi­ni­sti­sche Streik 2019 wurde auch das Schweizer Kollektiv von Ni Una Menos gegründet. Wie kam es dazu?

Nekane: Viele von uns kannten die Bewe­gung bereits aus Latein­ame­rika. Im Vorfeld zum Streik haben wir in Zürich die Statuen mit Ni-Una-Menos-Bannern verschö­nert, um auch hier auf die Proble­matik aufmerksam zu machen. Dabei wurden wir von der Polizei kontrol­liert, teils sexi­stisch belei­digt und eine von uns kam sogar vor Gericht. Das wollten wir nicht tole­rieren. Deshalb sind wir am Prozesstag auf den Helve­ti­a­platz gezogen und haben ihn zum Ni-Una-Menos-Platz umbenannt.

Mit welcher Botschaft?

Nekane: Wir wollten zeigen: Wir sind hier und wir lassen uns nicht einschüch­tern. Femi­ni­zide gehen uns alle an. Wir verschliessen die Augen nicht, sondern orga­ni­sieren unsere Wut.

Die Aktivist*innen benennen den Helve­ti­a­platz neu (Bild: zVg)

Statt „Femizid“ verwendet ihr den spani­schen Begriff „Femi­nizid“. Was ist der Unterschied?

Nekane: Femizid ist dasselbe wie Homizid. Sprich, ein Mann tötet eine Frau, weil sie eine Frau ist. Der Fokus bleibt dabei sehr stark auf Täter und Opfer. Dadurch werden die Tötungen zu Einzel­fällen oder als Privat­sache darge­stellt. Der Begriff Femi­nizid hingegen geht weiter, er zieht die Rolle des Staats, der Gesell­schaft und aller Insti­tu­tionen mit ein.

„Der Staat, wie er heute funk­tio­niert, schützt uns nicht.“

Nekane, Akti­vi­stin bei Ni Una Menos Zürich

Inwie­fern?

Nekane: Femi­ni­zide passieren, weil wir in einer patri­ar­chalen, frauen- und queer­feind­li­chen Gesell­schaft leben. Deshalb wäre es eigent­lich die Verant­wor­tung des Staats, diese Morde zu verhin­dern. Somit trägt er bei jedem Femi­nizid eine Mitschuld.

Ist es nicht ein Wider­spruch zu glauben, dass der Staat uns schützt, wenn auch von diesem Gewalt ausgeht? 

Nekane: Nein. Nur der Staat, wie er heute funk­tio­niert, schützt uns nicht. Statt­dessen übt er selbst Gewalt aus. So werden zum Beispiel Opfer sexua­li­sierter Gewalt von der patri­ar­chalen Justiz infrage gestellt, anstatt dass ihnen geglaubt wird.

Viele Frauen werden zudem wegen ihres migran­ti­schen und ökono­mi­schen Status gezwungen, bei ihren gewalt­tä­tigen Ehemän­nern zu bleiben. Von einem solch patri­ar­chalen, rassi­sti­schen und neoli­be­ralen Staat können wir keinen Schutz erwarten. Deswegen orga­ni­sieren wir uns und kämpfen gegen dieses System.

Stine, du kamst etwas später zu Ni Una Menos. Wie bist du dazugestossen?

Stine: Im Lock­down habe ich mit einer Freundin für eine Aktion von Ni Una Menos Flyer mit Anlauf­stellen zu häus­li­cher Gewalt an Haus­türen gehängt. Dabei wurden wir verhaftet. Ich habe das als einen sehr sexi­sti­schen und gewalt­vollen Moment erlebt. Danach gingen wir zu einem Treffen von Ni Una Menos und haben über den Vorfall gespro­chen. Durch das Kollektiv habe ich grosse Soli­da­rität gespürt und reali­siert, welche Rolle der Staat in der Thematik spielt.

Was war der Grund für die Verhaftung?

Stine: Es gab keinen. Die Polizei liess danach alle Vorwürfe fallen.

Eure Anfänge sind nun fünf Jahre her. Was hat sich seither getan?

Stine: Ich denke, das gesell­schaft­liche Bewusst­sein ist sicher gestiegen und auch die Medien nutzen den Begriff „Femi­nizid“ öfters.

Woran macht ihr das fest?

Nekane: Es ist schwierig für die gesamte Gesell­schaft zu spre­chen. Aber wenn wir irgendwo präsent waren, sind auch schon Leute auf uns zuge­kommen und haben sich für unsere Arbeit bedankt. Oder es haben uns Menschen auf Social Media kontak­tiert, die Unter­stüt­zung brauchten. Viele haben sich zudem dieses Jahr am femi­ni­sti­schen Streik an unserem Schrei gegen Femi­ni­zide beteiligt.

„Die Schweizer Medien blenden aus, dass wir in Struk­turen leben, die patri­ar­chal und frau­en­ver­ach­tend sind.“

Stine, Akti­vi­stin bei Ni Una Menos Zürich

Skep­ti­scher bin ich bei den Medien: Femi­ni­zide werden verharm­lost und nicht struk­tu­rell einge­ordnet. Es gibt Momente, wo wir denken, unsere Botschaft ist ange­kommen, weil bewusster berichtet wird. Doch dann in der näch­sten Woche werden wieder Begriffe wie Fami­li­en­drama, erwei­terter Suizid, Ehren­mord oder Mord verwendet.

Stine: Das stimmt, wie zum Beispiel im Fall von Basel. Die Medien haben über alle mögli­chen Verant­wort­lich­keiten geredet, ohne jemals den Begriff Femi­nizid in Betracht zu ziehen.

Als ein verur­teilter Mörder während eines unbe­glei­teten Haft­ur­laubs im Basler Breite-Quar­tier eine Frau tötete?

Stine: Die Medien haben darüber geschrieben, als wäre es ein Einzel­fall. Es wird ausge­blendet, dass wir in Struk­turen leben, die so patri­ar­chal und frau­en­ver­ach­tend sind, dass diese auch bei einem psychisch Kranken durchschlagen.

Nekane: Zusätz­lich zur Tatsache, dass die Medien in der Schweiz die Femi­ni­zide nicht benennen, sehe ich ein weiteres Problem: Die ermor­deten Frauen haben keine Namen.

Zum Schutz der betrof­fenen Familien.

Nekane: In der Schweiz wird Privat­sphäre sehr hoch­ge­halten. So verschiebt man aber das Problem in den fami­liären, privaten Raum. In anderen Ländern haben die ermor­deten Frauen einen Namen und eine Geschichte. Dadurch können Aktivist*innen mit Fami­li­en­an­ge­hö­rigen in Kontakt treten und ein kollek­tives Bewusst­sein herstellen.

Welt­weit sieht die Lage jedoch leider nicht besser aus. Laut dem letzten UNO-Bericht wurden 2022 insge­samt 89’000 Frauen und Mädchen absicht­lich getötet. So viele wie seit 20 Jahren nicht mehr.

Nekane: Die Zahlen bestä­tigen nur, was wir schon wissen: In poli­ti­schen Konflikten oder Kriegs­si­tua­tionen, wie sie derzeit vieler­orts herr­schen, gibt es immer auch sexua­li­sierte Gewalt als Waffe. Es gibt zudem in vielen Ländern einen Rechts­rutsch und das akzen­tu­iert die Gewalt gegen FLINTAs (Frauen, Lesben, inter, trans und agender Personen). Das liegt auch daran, dass wir uns wehren und für unsere Rechte kämpfen. Dadurch fühlen sich viele bedroht.

Trotzdem macht ihr weniger Kund­ge­bungen als früher. Woran liegt das?

Stine: Früher sind wir nach jedem Femi­nizid auf die Strasse gegangen. Da es allein in der Schweiz bis zu 26 Morde pro Jahr gab, sind wir jedoch an unsere Grenzen gestossen. Wir haben zudem bemerkt, dass die Kund­ge­bungen den Leuten oft zu spontan waren. Deshalb machen wir jetzt nur noch eine pro Monat, immer am letzten Samstag.

„Es reicht nicht, wenn wir einmal im Jahr an den femi­ni­sti­schen Streik gehen.“

Nekane, Akti­vi­stin bei Ni Una Menos Zürich

Wie könnte Wider­stand noch aussehen?

Nekane: Für mich heisst Wider­stand, da zu kämpfen, wo man ist, mit den Mitteln, die einem zur Verfü­gung stehen. Damit meine ich: Es reicht nicht, wenn wir einmal im Jahr an den femi­ni­sti­schen Streik gehen. Wir müssen auch im Alltag unbe­quem sein und dürfen nicht schweigen, wenn wir etwas sehen oder erleben, das nicht in Ordnung ist.

An den Kund­ge­bungen gedenken die Aktivist*innen den ermor­deten Frauen (Bild: zVg)

Ein stetiger Kampf kostet viel Kraft.

Nekane: Das ist so und man macht sich damit auch nicht beliebt. Ich erwarte jedoch nicht von jedem*jeder, dass er*sie dieselbe Haltung einnimmt wie ich. Wichtig ist nur, dass man versucht, in dem Rahmen Wider­stand zu leisten, wo es möglich ist.

Stine: Es hilft, sich zu verbünden. Wir haben uns in den letzten Jahren mit vielen anderen Gruppen vernetzt. Es kann aber auch im Kleinen sein, indem man sich zum Beispiel im Arbeits­um­feld jemanden sucht, mit dem man sich austau­schen kann.

Was muss passieren, damit wir nicht in fünf Jahren wieder hier stehen und über dieselben Zahlen sprechen?

Nekane: Das liegt aktuell leider nicht in unserer Hand. Der Staat hätte die Mittel, das zu ändern, aber die meisten Politiker*innen halten das patri­ar­chale System aufrecht.

Steht ihr mit Politiker*innen in Kontakt?

Nekane: Nein. Für uns sind sie Teil des Problems, weil sie in diesem System agieren. Unser Fokus liegt auf der Strasse. Nur wenn wir genü­gend Kräfte mobi­li­sieren, bringen wir sie dazu, ihre Entscheide und Struk­turen zu ändern. Es braucht eine femi­ni­sti­sche Revolution.

Glaubt ihr, dass es irgend­wann keine Femi­ni­zide mehr gibt?

Stine: Ja, wenn das Patri­ar­chat abge­schafft wird.

Nekane: Sonst würden wir nicht kämpfen. Und wir hören nicht auf, bis es so weit ist.


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