„10‘000 Unterschriften sind zu wenig“, sagt Miriam Helfenstein vom Komitee für das Frontex-Referendum. Das Komitee hat am Freitag zur Pressekonferenz geladen, um beim Endspurt der Unterschriftensammlung noch mal richtig zu mobilisieren. Denn die Zeit wird knapp. Bis zum 18. Januar 2022 müssen die nötigen 50‘000 Unterschriften vorliegen. Weil sie noch von den Heimatgemeinden beglaubigt werden müssen, läuft die Sammelfrist aber schon Ende Jahr aus.
Das heisst: In den kommenden zwei Wochen müssen noch 40‘000 Unterschriften zusammenkommen. Um das zu schaffen, sollte, wie Miriam Helfenstein sagt, „ein solidarischer Ruck“ durch die Gesellschaft gehen.
Ziel des Referendums ist es, die Methoden, mit denen Frontex geflüchtete Menschen an den europäischen Aussengrenzen behandelt, anzuprangern und die Schweizer Unterstützung für die EU-Agentur zu stoppen. Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz seit 2009 finanziell und personell an der Grenzschutzagentur beteiligt. Erst im vergangenen September hat der Nationalrat einem verstärkten Engagement zu gestimmt und den Etat von 14 auf 61 Millionen CHF aufgestockt.
„Nicht in unserem Namen! Sagt die Initiative NoFrontex und fordert, die finanzielle Unterstützung komplett zu streichen. Frontex soll als „Symbol der abschottenden gewaltvollen europäischen Migrationspolitik“ abgeschafft werden. Für Saeed Farkhondeh vom Migrant Solidarity Network ist durch eine mittlerweile grosse Anzahl von Augenzeug:innenberichten klar, „was Migrant:innen und Aktivist:innen seit Jahren sagen: Frontex ist mitschuldig an schweren Menschenrechtsverletzungen an den EU-Aussengrenzen.“
EU-Parlament weiss Bescheid
Fakten, die auch vom EU-Parlament bestätigt werden. Eine eigens in Auftrag gegebene monatelange Untersuchung hat im Juli 2021 ergeben, dass Frontex Grundrechtsverletzungen von Geflüchteten mindestens billigt. Besonders in Ungarn und in Griechenland schaue die Agentur bei gewaltsamen Pushbacks und Übergriffen auf Geflüchtete aktiv weg und sei mitverantwortlich für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen. Der etwa zeitgleich erschienene Amnesty International Bericht „Greece: Violence, lies and pushbacks“ listet auf 46 Seiten Beweise auf, dass illegale Pushbacks unter Aufsicht von Frontex heute Normalität geworden sind.
In seinem Kurzreferat zur Situation des Referendums fordert Farkhondeh darum die Entkriminalisierung von Migration nach Europa und vor allem ein Ende der Militarisierung an den Grenzen.
Dass diese Militarisierung und die einhergehende Gewalt gegen Geflüchtete federführend von Frontex betrieben wird, ist eine durchgehende Kritik aller unterstützenden Organisationen, die bei der Pressekonferenz sprechen. Ein krasses Beispiel für die teils militanten Methoden liefert die Zusammenarbeit zwischen Frontex und libyschen Behörden auf dem Mittelmeer, wie Malek Ossi von Alarm Phone, einem Notruftelefon für Flüchtende in Seenot, erklärt.
Drohnen und Flugzeuge statt Rettungsboote
Mit einigen anderen NGOs hat Alarm Phone den Bericht „Remote Crontrol“ verfasst, der das Vorgehen minutiös beschreibt: Bei der Themis genannten Frontex-Mission werden Boote von Migrant:innen im zentralen Mittelmeer mit Drohnen und Flugzeugen aufgespürt und ihre Positionen anschliessend an die libysche Küstenwache durchgegeben. Libyen kassiert die Menschen ein und schafft sie zurück ins eigene Land, wo sie meist in einem intransparenten System von Camps verschwinden. Dass viele der Flüchtlingsboote tatsächlich in Seenot sind und Frontex verpflichtet wäre, Hilfe zu leisten, mindestens aber Rettungsschiffe von europäischer Seite zu alarmieren, wird ignoriert und der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen.
Drohnen und Flugzeuge statt Rettungsboote stehen für die Militarisierung auf dem Meer; Misshandlungen und Pushbacks für den gleichen Vorgang an Land.
Von der Situation an der albanisch-griechischen Grenze etwa berichten Anja und Philippe, zwei Aktivist:innen für People on the Move. Sie sind regelmässig in Nordgriechenland vor Ort und sammeln in Interviews Erfahrungsberichte flüchtender Menschen. In deren Erzählung tritt Frontex oft als eine Art militarisierter Polizeieinheit ohne kontrollierende Instanz auf. Die gängige Bezeichnung unter Geflüchteten ist NATO-Police.
Dementsprechend sind die Berichte voll brutaler polizeilicher Übergriffe. Menschen, die das Recht auf eine faire Prüfung ihres Asylgesuchs in Anspruch nehmen wollen, werden wie Verbrecher:innen zusammengetrieben und eingesperrt, nicht selten geschlagen: „Some of the men were chosen and had to step forward. Then police beat these men in front of all of us. They also chose me and kicked me into my head when I was already lying on the ground“, heisst es in einem der Interviews. Eine typische und häufig berichtete Pushback-Szene.
Vor diesem Hintergrund erscheint, wie jemand aus dem Publikum anmerkt, auch die verbreitete Kritik an Polens Militarisierungskurs ein wenig heuchlerisch. Der EU-Mitgliedsstaat setzt nationales Militär gegen Migrant:innen ein und hat Frontex gar nicht erst angefragt. Hier wäre die Wahl, folgt man den Referierenden, ohnehin eine zwischen Pest und Cholera. Militante Flüchtlingsabwehr betreiben mittlerweile alle Seiten – darunter eben auch die Schweiz, die Frontex umfänglich unterstützt.
Die Zeit läuft ab
Wer sich dem entgegenstellen will, sollte nicht nur rasch die eigene Unterschrift leisten, sondern angesichts der geringen Beteiligung auch aktiv weitere Unterstützer:innen anwerben. Denn trotz der erdrückenden Fakten über Frontex, ist das Referendum noch nicht richtig in die Gänge gekommen. Was Miriam Helfenstein auch mit dem nasskalten Winter und Corona erklärt: „Ist es bei diesem Wetter ohnehin schon schwer, Menschen auf der Strasse anzuhalten und im Gespräch zu überzeugen, wird es mit Maske und Sicherheitsabstand fast unmöglich.“
Trotzdem gebe es eine einfache Lösung: Jede Person, die bis jetzt schon unterschrieben hat, müsste nur fünf weitere anwerben und das nötige Quorum wäre erreicht. Das sollte auch im tiefsten Coronawinter möglich sein.
Unabhängig vom Ausgang der Sammelaktion, betont Saeed Farkhondeh vom Migrant Solidarity Network am Ende der Pressekonferenz, sei es wichtig, eine anhaltende gesellschaftliche Diskussion über Frontex zu führen. Die Vorgänge an den europäischen Grenzen müssen im öffentlichen Bewusstsein präsent bleiben: „Wir müssen dafür sorgen, dass der Diskurs über Frontex intensiviert wird und weitergeht, zu Hause in der Familie, bei der Arbeit und besonders auch in den Medien.“
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 280 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 136 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?