Der feministische Streik 2019 ist vorbei, die platzierten Anliegen aktueller denn je. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre jetzt mit der Revision des Sexualstrafrechts machbar, welche zurzeit im Gange ist.
Doch schon jetzt lässt sich sagen: Bahnbrechendes wird daraus wohl nicht hervorgehen. Dabei ist gerade das Sexualstrafrecht ein geschlechtsspezifisches Wirkungsfeld, in dem in Richtung Gleichberechtigung und Frauenschutz viel möglich wäre – etwa indem juristisch der Tatsache Rechnung getragen würde, dass nur Zustimmung auch wirklich Zustimmung bedeutet.
Die Dunkelziffer liegt noch höher
Es ist eine Zahl, die aufhorchen lässt: 430’000 Frauen in der Schweiz wurden bisher mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von sexualisierter Gewalt – das entspricht mindestens jeder sechsten. Von allen Befragten haben zwölf Prozent Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen erlebt. Beide Zahlen gehen aus einer repräsentativen Studie mit rund 4’000 befragten Frauen und Mädchen hervor, die von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in Auftrag gegeben und Ende Mai diesen Jahres veröffentlicht wurde.
Diese Zahlen schockieren, zumal die Dunkelziffer, wie Amnesty ebenfalls schreibt, um ein Vielfaches höher liegen dürfte. Denn viele trauen sich nicht, von ihrer Erfahrung zu erzählen: Von den befragten Frauen, die Übergriffe oder Gewalt erlebt haben, erstatteten nur rund 10 Prozent Anzeige gegen die Täterschaft. Weitaus überraschender ist die Tatsache, dass nur rund die Hälfte der Betroffenen mit der engsten Familie oder Freund*innen über das Erlebte spricht. Der Rest leidet im Stillen.
Aufgerüttelt von diesen Ergebnissen verlangt Amnesty International ein Umdenken im Sexualstrafrecht und die Einführung des Konsensprinzips als juristischen Standard bei der Verhandlung von Sexualstraftaten – und stösst damit auf Unverständnis.
„Nicht jeder Sex ohne Einwilligung ist eine Vergewaltigung“, sagte der Appenzeller FDP-Ständerat Andrea Caroni in der Radiosendung Echo der Zeit vom 21.05.2019, in welcher der Vorschlag von Amnesty thematisiert wurde. Und weiter: „Diesen Begriff sollte man für die schweren Fälle reservieren.“
Bei der Vergewaltigung muss gemäss Gesetz noch etwas dazukommen, etwa Gewalt. So verlangt es auch die geltende Strafnorm. Caroni sitzt in der Rechtskommission des Bundes, welche für die Überarbeitung des Schweizer Sexualstrafrechts verantwortlich ist. Das Konsensprinzip lehnt er ab, weil es „zu der absurden Situation führen könnte, dass die Sexualpartner [sic!] während des ganzen Aktes immer wieder Ja sagen müssen.“
Caroni steht mit dieser Position nicht alleine da. Das Konsensprinzip ist nicht Teil der Revision, und es wurde in deren Rahmen auch nicht berücksichtigt, heisst es von Seite des Bundes. Die fehlende Berücksichtigung ist bedauerlich, denn das Konsensprinzip, wie es bereits etwa in Deutschland, Grossbritannien und Schweden im Gesetz verankert ist, ist im Grunde ein sehr simpler juristischer Ansatz, der nicht viel mehr macht, als das Opfer vom Generalverdacht der Lüge zu entlasten.
Ein juristischer Paradigmenwechsel und kein Freipass für Prüderie
In Schweden, wo das Gesetz erst seit kurzem gilt, kann bereits jetzt ein positives Fazit hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirkung dieser Normänderung gezogen werden. Die Einführung des Konsensprinzips erfolgte aufgrund eines wachsenden gesellschaftlichen Bewusstseins.
So sagt etwa der Skandinavien-Korrespondent des Schweizer Radio und Fernsehens Bruno Kaufmann gegenüber SRF News: „Das gesellschaftliche Klima ist heute so, dass ein Machtgefälle früherer Zeiten, auch im sexuellen Umgang miteinander, nicht mehr hingenommen wird. Es wird nach mehr Rücksicht, Verantwortung und Respekt verlangt.“
Bei der Einführung des Konsensprinzips würden keine verklausulierten „Sexverträge“ zwischen ein- oder mehrmaligen Sexualpartner*innen anfallen, und niemand müsste „den ganzen Akt hindurch immer wieder Ja sagen“, wie der Ständerat Caroni im erwähnten Radiointerview besorgt äusserte.
Der juristische Mechanismus ist simpel: Wird jemand Opfer sexualisierter Gewalt und kommt es zu einem Prozess, dann wird nicht mehr gefragt, ob das Opfer auch schön deutlich Nein gesagt hat. Stattdessen werden potenzielle, nicht vorverurteilte Täter*innen gefragt, wie sie zum Konsens gekommen seien. Dieser Konsenserwerb heisst nicht zwingend „Ja, ich will mit dir schlafen“, wie Amnesty betont. Konsens muss nicht in jedem Fall wörtlich oder gar, wie von den Gegner*innen herablassend kommentiert, schriftlich erfolgen.
Klar ist jedoch, dass eine schlafende, eine stark alkoholisierte oder eine ohnmächtige oder massiv verängstigte Person kein Einverständnis zum Sexualakt geben kann. Diese Person kann aber gegebenenfalls auch nicht Nein sagen. „Nein heisst Nein“ als geltende Doktrin der Sexualnorm klingt zwar eingängig, doch zwischen keinem Nein und einem Ja liegt ein Graubereich aus Schock und Angst, aus Machtmissbrauch, Rausch, Betäubungsmittel, körperlicher Dysfunktionalität und Apathie. Ein Graubereich, der von Sexualstraftätern bewusst genutzt wird.
Indem ignoriert wird, dass das Konsensprinzip in erster Linie ein juristisches Prinzip ist, und so getan wird, als ob dadurch Tür und Tor für falsche Anschuldigungen und Machtmissbrauch von Seiten der Frauen (Schreckgespenst „Diffamierung durch Vergewaltigungsvorwurf“) offen wären, werden das Wirken und die systemischen Gegebenheiten unseres Rechtssystems ignoriert. Niemand wird direkt in den Knast wandern, nur weil jemand nicht sofort beweisen kann, inwiefern Ja gesagt wurde. Wie bei jedem anderen Prozess würde es auch hier bei Aussage gegen Aussage zu einem erweiterten Prozess kommen. Das ist fair für beide Seiten.
Dennoch schützt das Konsensprinzip potenzielle Opfer. Es ist eine kleine juristische Raffinesse, die im Idealfall dazu führen würde, dass eine sexuell missbrauchte oder vergewaltigte Person nicht mehr danach befragt wird, was er oder sie anhatte, wo man sich bewegte, um welche Zeit man draussen war oder ob man betrunken auf der Couch oder der Clubtoilette einschlief. Das potenzielle Opfer wird nicht mehr unter den Generalverdacht gestellt, zu lügen oder sich nicht genug gewehrt zu haben.
Lückenhaftes Gesetz
Trotzdem betitelt auch Daniel Jositsch, SP-Ständerat und Strafrechtsprofessor, ebenfalls an der Revision des Sexualstrafrechts beteiligt, das Konsensprinzip als strafrechtlich unnütz und überflüssig: „Vergewaltiger [sic], die halten sich da doch nicht daran“, sagt Jositsch gegenüber Echo der Zeit.
Natürlich ist Prävention ein anderes Problem, und eine Gesetzesänderung wird nicht zwingend dazu führen, dass ein*e Vergewaltiger*in nicht vergewaltigt. Aber das Problem liegt nicht nur in der Anzahl Straftaten, sondern auch in der Anzahl Strafanzeigen. Und wenn den Opfern ein wirkungsvolles Werkzeug in die Hand gegeben wird und niemand befürchten muss, sich auch vor Gericht für den Missbrauch zu rechtfertigen, könnte eine erhöhte Anzeigebereitschaft durchaus einen Effekt auf die Anzahl der verübten Vergewaltigungen haben.
Gemäss der Umfrage von Amnesty International geht nur jede zehnte Frau zur Polizei. Ein juristischer Ansatz, der die Schuldfrage vom Opfer auf den Täter verlagert und das Opfer somit entstigmatisiert („Warum hast du nicht Nein gesagt?“), baut Hemmschwellen ab. Auch hier kann das Beispiel Schweden beigezogen werden, wo die meisten Vergewaltigungen in ganz Europa angezeigt werden: Die Toleranz scheint durch die Gesetzesrevision gesunken zu sein, die Aufmerksamkeit und Anzeigebereitschaft sind dagegen gestiegen.
Eine solche Entwicklung ist auch hierzulande dringend nötig, wie die Kriminalstatistik des Bundesamts für Statistik von 2018 zeigt. Ihr ist zu entnehmen, dass im Jahr 2018 527 Personen wegen insgesamt 604 Vergewaltigungen angezeigt wurden. 522 Personen wurden wegen sexueller Belästigung beziehungsweise Nötigung juristisch erfasst.
Unter den 527 Vergewaltigungsopfern, die geklagt haben, sind 526 Frauen. Das kann nicht die Realität widerspiegeln. Es ist bekannt, dass die Dunkelziffer bei männlichen Opfern noch höher ist, die Meldebereitschaft noch geringer. Das Konsensprinzip als feministischen und männerverachtenden „Cockblock“ auszulegen, wie es nicht nur Männer rechts der Mitte, sondern auch bis tief ins linke Lager immer wieder versuchen, legt eine veraltete Sexualmoral offen.
Eine Frage von Autonomie und Macht
Sexualisierte Gewalt hat immer auch mit Macht zu tun. Die Ausübung von Macht erfolgt nicht zwingend durch körperlichen Zwang. Macht ist oft subtil und psychisch, beruht auf Einschüchterung und Angst oder auch ganz direkt auf Machtmissbrauch, etwa bei hierarchischen oder abhängigen Beziehungen, wie innerhalb von Beziehungen, der Familie oder der Arbeit. Ein Nein hat in diesem Machtgefüge oftmals keinen Platz, kann nicht artikuliert werden. Auch körperliche Gegenwehr tritt nicht zwingend auf.
Zustimmung hingegen ist mehr als die Abwesenheit eines Nein und somit sensibler. Zustimmung schützt die Opfer – und genau darum soll es im Gesetz gehen: um Opferschutz. Nicht um den Schutz fragiler Egos oder um den Aufrechterhalt des Reizes einer vermeintlichen Grauzone, welche dann wiederum nur für die Täterschaft grau erscheint. Für die Opfer ist alles, was nicht auf Konsens beruht, ein Machtmissbrauch.
Wir kennen das Konsensprinzip aus vielen anderen Lebensbereichen, etwa bei einer Vertragsübereinkunft. Niemand würde behaupten, dass ein Kaufvertrag dann in Ordnung ist, wenn nicht aktiv Nein zum neuen Wagen, zur neuen Wohnung gesagt wurde. Wir können uns wohl ebenfalls darauf einigen, dass es juristisch nicht haltbar wäre, in einem Laden etwas mitzunehmen, wenn auf die Frage „Darf ich es gratis haben?“ kein Nein erwidert wird.
Es wäre erst recht nicht haltbar, dann vor Gericht zu behaupten, der oder die Ladenbesitzerin hätte halt nicht Nein gesagt und wäre deswegen selbst schuld. Geht es um Besitz, wird das Konsensprinzip plötzlich zur Norm. Mindestens dieselbe Anerkennung sollte auch der körperlichen und sexuellen Autonomie eines Menschen zugesprochen werden.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 21 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1352 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 735 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 357 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?