„Ohne Kommerz werden die Spie­le­rinnen ihren Arbeits­kampf verlieren”

Schon nach einer Woche bricht die Frauen-EM im Fuss­ball Zuschau­er­re­korde. Für viele ist sie nicht nur sport­lich, sondern auch poli­tisch ein Erfolg. Laura Rivas Kauf­mann, Expertin für Fankultur im Frau­en­fuss­ball, erklärt, wie eine Subkultur zum Main­stream wurde. 
Statt kollektiv einer subversiven Fankultur nachzutrauern, schlägt Laura Rivas Kaufmann vor, den Arbeitskampf der Spielerinnen zu supporten. (Bild: Ursina Storrer)

Es ist Halb­zeit im Eröff­nungs­spiel der Schweiz gegen Norwegen. Wir sitzen beim Public Viewing in der Zentral­wä­scherei in Zürich. Die Schweiz liegt verdient gegen die Grup­pen­fa­vo­ri­tinnen in Führung, die Stim­mung ist fried­lich ausge­lassen. Wer keinen Platz mehr gefunden hat, sitzt auf einem Bauge­rüst, als wäre es eine Tribüne. 

Eigent­lich will ich mit Laura Rivas Kauf­mann darüber reden, wie sie für Frau Müller in so kurzer Zeit ein Public Viewing auf die Beine gestellt hat und wie es um die Fankultur im Frau­en­fuss­ball steht. Doch ihr Blick wandert immer wieder Rich­tung Screen.

Laura Rivas Kauf­mann ist Mitgrün­derin des schweiz­weit ersten Frau­en­fuss­ball­ma­ga­zins Frau Müller. Nach erfolg­rei­chem Crowd­fun­ding erschien die erste Ausgabe zum Start der EM. Sie ist ausserdem frei­schaf­fende Foto­grafin, war zwischen 2017 und 2022 verant­wort­lich für Medien und Kommu­ni­ka­tion des FCZ Frau­en­teams und hat für ihre Master­ar­beit im Bereich Trends und Iden­tity (ZHdK) die Fankultur im Frau­en­fuss­ball erforscht

Das Lamm: Laura Rivas Kauf­mann, kann es sein, dass du lieber über die erste Halb­zeit reden möchtest?

Laura Rivas Kauf­mann: Ich kenne die Torschützin und viele weitere Spie­le­rinnen noch aus meiner Zeit als Team­fo­to­grafin des FCZ Frau­en­teams. Dass sie heute vor über 34’000 Zuschauer*innen in einem Schweizer Stadion stehen und ihnen die halbe Schweiz zuhause oder in Public Viewings die Daumen drückt, über­wäl­tigt mich gerade komplett. Vor wenigen Jahren orga­ni­sierten wir uns noch zusammen in Fahr­ge­mein­schaften, um ans schlecht besuchte Auswärts­spiel zu fahren.

Der Frau­en­fuss­ball erlebt derzeit grosses Inter­esse – von der breiten Öffent­lich­keit bis zu Konzernen, die Fuss­bal­le­rinnen als Werbe­trä­ge­rinnen entdeckt haben.

Ja, die beiden Phäno­mene bedingen sich gegenseitig.

In deiner Master­ar­beit zu visu­ellen Iden­ti­täten im Frau­en­fuss­ball hast du fest­ge­stellt: Während Fanclubs im Männer­fuss­ball einen verein­heit­lichten Merch- und Marken­fokus haben, schreiben Frau­en­fuss­ball­fans Diver­sität und indi­vi­du­elle Ausdrucks­weisen gross. Lauert hinter jedem Spon­so­ring­ver­trag die Entpo­li­ti­sie­rung einer Subkultur?

Nein, ich erlebe die Entwick­lungen im Frau­en­fuss­ball der letzten Jahre bisher als sehr positiv. Das Poli­ti­sche am Frau­en­fuss­ball waren und sind die Spie­le­rinnen, die sich täglich dafür einsetzen, vom Fuss­ball leben zu können und wenig­stens einen Bruch­teil dessen zu verdienen, was im Männer­fuss­ball bezahlt wird. Ohne eine gewisse Kommer­zia­li­sie­rung werden sie diesen Kampf schlicht verlieren. 

Ist linke Kritik an der Kommer­zia­li­sie­rung des Fuss­balls aus deiner Sicht also falsch?

Nein. Die Kritik an mäch­tigen Verbänden und an Sports­washing ist wichtig. Nur weil für die EM gerade ein sehr fort­schritt­li­ches Image präsen­tiert wird, ist die Gleich­be­rech­ti­gung noch lange nicht erreicht. Auf diese sollte man genau so pochen, wie man sich gegen Korrup­tion und Menschen­rechts­ver­let­zungen stellt. 

Gleich­zeitig halte ich die ewigen linken Boykott-Debatten für müssig – im Männer­fuss­ball, aber ganz beson­ders im Frau­en­fuss­ball. Statt kollektiv einer subver­siven Fankultur nach­zu­trauern, die man womög­lich gar nicht kennt, schlage ich vor, den Arbeits­kampf der Spie­le­rinnen zu supporten. Dieser ist nämlich eminent poli­tisch und wird von einem Boykott verhindert. 

Letztes Jahr, während der EM der Männer, habe ich für das Lamm über die Fankultur im Männer­fuss­ball nach­ge­dacht und darüber, wie diese mein Sicher­heits­ge­fühl im öffent­li­chen Raum einschränkt. Was hältst du eigent­lich davon, dass Frau­en­fuss­ball häufig in Abgren­zung zum Männer­fuss­ball defi­niert wird?

Ich finde diese Reduk­tion aufs Binäre oft nicht hilf­reich. Klar, es gibt die von dir benannten Probleme. Doch wie du selbst letztes Jahr in deinem Kommentar zur EM geschluss­fol­gert hast, liegt der Hund weniger auf dem Fuss­ball­platz, als im struk­tu­rellen Macht­ge­fälle begraben. Kultu­relle Phäno­mene finden immer in einem gesell­schaft­li­chen Kontext statt. 

Wie meinst du das?

Fankultur ist spezi­fisch. Zum Beispiel gibt es Unter­schiede zwischen Frauen- und Männer­fuss­ball: Im Frau­en­fuss­ball besteht eine weniger aggres­sive Riva­lität, nach dem Spiel werden Gemein­sam­keiten mehr betont als Unter­schiede. Entschei­dend geprägt werden Fankul­turen aber von gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Struk­turen. Zum Beispiel von hete­ro­nor­ma­tiven Geschlech­ter­ste­reo­typen, die im Männer­fuss­ball eine Homo­phobie zutage fördern, die es so im Frau­en­fuss­ball nicht gibt. Es muss ein Ziel der Frau­en­fuss­ball­be­we­gung sein, dezi­diert queer­freund­lich zu bleiben.

Hat die Akzep­tanz queerer Spie­le­rinnen im „Main­stream” nicht auch damit zu tun, dass queere Frauen im Gegen­satz zu schwulen Männern nicht als Gefahr für Männer und tradi­tio­nelle Männ­lich­keit wahr­ge­nommen werden?

Das mag sein. In diese Kate­gorie fällt wohl auch, dass der Besuch eines Frau­en­spiels medial und auch von Fans für meinen Geschmack etwas zu häufig als „Fami­li­en­event” geframed wird. Genauso, wie Männer­fuss­ball nicht nur gefähr­lich ist, ist Frau­en­fuss­ball nicht nur kinder­freund­liche Nach­mit­tags­un­ter­hal­tung. Darum betone ich auch gerne das histo­ri­sche Moment, in dem wir uns befinden: Eine Fankultur, die gerade erst entsteht, bietet die Chance, ihre Geschichte gemeinsam zu schreiben.

Leider schreibt man Geschichte selten auf ein leeres Blatt: Die im Profi­fuss­ball von Männern ausge­übte sexua­li­sierte Gewalt ist eklatant. 

Die herr­schenden gesell­schaft­li­chen Struk­turen begün­stigen Männer. Jenni Hermoso, die nach dem WM-Endspiel 2023 vom dama­ligen Verbands­prä­si­denten Luis Rubiales ohne Einwil­li­gung auf den Mund geküsst wurde, hat eine Protest­kam­pagne ins Leben gerufen. Rubiales wurde Anfang Jahr wegen sexu­eller Aggres­sion verur­teilt, Hermoso wurde nicht für den spani­schen EM-Kader aufge­boten. Das ist kein Zufall. 

Du warst Foto­grafin für das FCZ Frauen-Team. Aktuell sind alle Trainer des Teams Männer. Ist das ein Zufall? 

Nein. Der Weg zur Trai­ne­rin­nen­li­zenz ist steil und wird gerade erst geebnet. Wer ihn auf sich nimmt, kann in der Regel von einer Anstel­lung bei einem Schweizer Club nicht gut leben. Ich gönne es jeder Spie­lerin und jeder Trai­nerin, die in eine auslän­di­sche Liga wech­selt, weil sie da mehr verdient und bessere Karrie­re­mög­lich­keiten hat. 

Hier ist YB ein Vorbild: Mit Sandra Betschart und Fränzi Schild sind sowohl die bishe­rige als auch die neue Geschäfts­füh­rerin der Frau­en­fuss­ball-Abtei­lung ehema­lige Spie­le­rinnen der Schweizer Nati. 

Absolut! Du wirst langsam zum Frau­en­fuss­bal­l­ultra (lacht). 

Viel­leicht. Gibt es eigent­lich eine Ultraszene im Frauenfussball?

Kaum. Ich fände das aber grund­sätz­lich wünschens­wert. Dass mitt­ler­weile Ultras, also gut orga­ni­sierte Fuss­ball­fans aus der Südkurve, an wich­tigen Spielen der FCZ Frauen auftau­chen, ist cool. Fange­sänge und Choreos dienen nicht einfach einem Selbst­zweck, sie sind für Spie­le­rinnen auf dem Feld ein abso­luter Motivationsboost. 

Muss ich mich als Frau eigent­lich für Frau­en­fuss­ball interessieren?

Nein, auf keinen Fall. Ich kenne zum Beispiel eine 19-jährige, die mit ihren Eltern bereits als Kind regel­mässig dem Frauen- und Männer­team des FCZ zuge­ju­belt hat. Heute setzt sie sich in der Südkurve für mehr Platz und Sicht­bar­keit von Frauen ein. Es wäre schade, wenn sie sich aufgrund ihres Geschlechts gezwungen gefühlt hätte, sich statt­dessen für die Fankurve im Frau­en­team einzusetzen. 

Wahr­schein­lich verän­dert sich auch hier gerade die Ausgangs­lage: Wer bereits als Kind einen Gross­an­lass wie die Heim-EM erlebt oder die Spiele der grossen Schwe­ster im FC besucht, wird viel eher Fan vom Frauenteam.

Ja, klar. Dank dem riesigen Einsatz, den zum Beispiel die heutigen Nati-Spie­le­rinnen in ihren jewei­ligen Vereinen gelei­stet haben, sind sie viel­leicht die Letzten, die als Jugend­liche noch ständig gegen Wind­mühlen ankämpfen und vor leeren Rängen spielen mussten. Für die Entste­hung einer Frau­en­fuss­ball-Fankultur ist die biogra­fi­sche Verflech­tung mit einem Verein sicher am vielversprechendsten. 

Ich oute mich als Zyni­kerin: Das Verspre­chen des Fuss­balls, ein Sport für alle zu sein, ist mir zu gross – es ist heute ledig­lich ein roman­ti­sches Märchen. Aber nichts­de­sto­trotz: Was muss sich ändern? 

Das Momentum der EM ist eine Steil­vor­lage, die genutzt werden muss. Wer sich jetzt mit dem Fuss­ball­fieber ansteckt, muss abge­holt werden, im Grossen wie im Kleinen. Ganz konkret heisst das zum Beispiel: Kinder, die Lust auf Fuss­ball haben, sollen in Vereinen spielen können, unab­hängig vom Geschlecht. Wenn das heute nicht möglich ist, kommen sie morgen auf eine ganz andere Idee. Daran kann man sich ein Vorbild nehmen – wenn wir etwas wollen, wollen wir es JETZT.


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