Das Selbstverständnis der NZZ als eine Publikation, die laut ihrem Leitbild der “individuellen Freiheit” und einer “offenen demokratischen Gesellschaft” verpflichtet sei, liest sich schon seit längerem als ein schlechter Scherz. Und spätestens seit Eric Gujer 2015 die Chefredaktion übernahm und den braunen Sumpf, der sich in Deutschland um die AfD zu formieren begann, als lukrativen Expansionsmarkt identifizierte, mutet es nur noch zynisch an.
Seither ist gefühlt kein Tag vergangen, am dem die NZZ nicht in irgendeiner Form hysterisch die “linke Meinungsdiktatur” heraufbeschwört und rechten Hetzer*innen das Wort redet. Gerade mit ihrer neuen Deutschlandstrategie hat sich die NZZ auf die Migrationsthematik eingeschossen und malt auch mal völkische Untergangszenarien an die Wand, gemäss denen “Bio-Deutsche“ – das soll Deutsche ohne Migrationshintergrund heissen – bald in der Minderheit seien.
In den letzten Wochen hat sich das Blatt unter anderem dadurch hervorgetan, den rechtsextremen Präsidenten Argentiniens, Javier Milei, als “libertären Weltstar” zu loben – für seine Wirtschaftspolitik, die dazu geführt hat, dass über die Hälfte der argentinischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Oder dadurch, dass Eric Gujer sowie Auslandredaktor Marcus Bernath lauthals überlegen, dass der “Brandmauer-Fimmel”, also die strikte Abgrenzung bürgerlicher Parteien gegenüber rechtsextremen, vielleicht doch der falsche Weg sei, die AfD zu bekämpfen. Die CDU/CSU solle nach den Wahlen besser mit der AfD Koalitionsgespräche aufnehmen. Man könne die Rechtsradikalen schliesslich besser kontrollieren, wenn man mit ihnen zusammenarbeite, als wenn man sie ausgrenze.
Noch nie wurden auch nur annähernd so viele „Grenzschutzanlagen“ gebaut, wie in den letzten 20 Jahren.
Diese Beispiele rechter Meinungsmache zeugen von einem bemerkenswerten Ausmass an Geschichtsvergessenheit. Es wäre besser, sich daran zu erinnern, wie gut beziehungsweise schlecht die sogenannte Einrahmungsstrategie in Deutschland 1933 funktioniert hat.
Neue militarisierte Grenzanlagen
Nicht geschichtsvergessen gibt sich hingegen der NZZ-Gastkommentator Martin Wagener in der Ausgabe vom 28. Januar 2025. Unter dem Titel “Wer Sicherheit will, muss über Grenzanlagen reden” fordert er eine Mauer um Deutschland. Dabei beschreibt er mit befremdlicher Genüsslichkeit, wie er sich eine militärisch befestigte deutsche Grenze vorstellt:
“Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass eine solche Vorrichtung nur dann hinreichend Wirkung entfaltet, wenn sie auf den angestrebten Zweck ausgerichtet wird. […] Ziel wäre, Personen zurückzuweisen beziehungsweise zu ergreifen, die illegal oder als Kriminelle einreisen wollen. Im Idealfall wird dazu ein gestaffeltes Sperrsystem geschaffen, das aus mehreren Annäherungshindernissen besteht. Dazu gehören Mauern und Zäune von mindestens vier Metern Höhe, bewehrt mit Nato-Stacheldraht. Auch der Einsatz von Stolperdrähten und Gräben kann Sinn haben. Die Anlage müsste von Grenztruppen mittels Überwachungstechnologie, Flutlichtmasten, Wachtürmen und Patrouillen gesichert werden. Der benötigte Umfang der Grenzschützer hängt von der Staffelung der Sicherheitsvorrichtungen ab.”
Da fehlt eigentlich nur noch die Selbstschussanlage. Als Leser*in mag man sich wundern, wohin genau der deutsche Politikwissenschaftler Martin Wagener seinen Blick in die Geschichte richtet. Man könnte meinen, die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang seien das Vorbild für die Grenzpolitik der sogenannt “freien Welt”. Tatsächlich muss man aber nicht bis in den Kalten Krieg zurückschauen, um Wageners Vorbilder zu finden. Im Gegenteil: Noch nie wurden auch nur annähernd so viele „Grenzschutzanlagen“ gebaut, wie in den letzten 20 Jahren.
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Israels Mauer als Vorbild
Als Vorbilder nennt der Autor denn auch die militarisierten Grenzanlagen von Polen und Ungarn. An diesen Grenzen finden routinemässig brutale Menschenrechtsverletzungen und illegale Pushbacks statt. Zehntausende von Menschen sind in den letzten Jahrzehnten an den europäischen Aussengrenzen dadurch ums Leben gekommen. Für Martin Wagener nicht erwähnenswert.
Ein weiteres vielsagendes Vorbild, auf das Wagener verweist, sind die israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Westjordanland, die der internationale Gerichtshof in Den Haag als völkerrechtswidrig erachtet. Genau die rassistische Apartheidideologie, die die israelische Besatzungspolitik in Palästina bestimmt, motiviert auch Wagener:
“Eine postmoderne Grenzanlage würde dagegen wie ein Filter wirken: Auf der einen Seite könnten sich Grenzpendler, Studenten, Touristen sowie Unternehmer wie bisher frei bewegen, müssten aber ausnahmslos Kontrollen hinnehmen. Auf der anderen Seite wäre das Ende der irregulären Migration absehbar. Organisierte Kriminelle, Schlepperbanden, Terroristen, Drogen- und Waffenschmuggler könnten eingedämmt werden. Ausgeschafften Migranten und Kriminellen würde die Wiedereinreise nicht gelingen.”
Genauso wie Israel die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung mit dem Pauschalvorwurf des Terrorismus legitimiert, rechtfertigt Wagener hier die strukturelle Entrechtung von aussereuropäischen Migrant*innen, indem er sie allesamt als „Terroristen, Drogenhändler und Kriminelle“ darstellt.
Die militarisierten Grenzen sortieren brutal aus, und liefern auch diejenigen, die es über diese Grenzen schaffen, als Entrechtete und Menschen zweiter Klasse der Marginalisierung und Ausbeutung aus.
Die meisten Migrant*innen flüchten vor Kriegen, die auch von europäischen Waffenexporten befeuert werden, vor der ökologischen Krise und dem Klimawandel, die die europäischen Industrieländer mehrheitlich verantworten, oder vor wirtschaftlicher Not und Perspektivlosigkeit, die aus der Ausbeutung des globalen Südens durch die kapitalistischen Zentren resultiert.
Sie haben ein Recht auf Schutz und auf gleichwertigen Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen. Stattdessen sortieren die militarisierten Grenzen brutal aus, und liefern auch diejenigen, die es über diese Grenzen schaffen, als Entrechtete und Menschen zweiter Klasse der Marginalisierung und Ausbeutung aus. Jene, die es nicht schaffen, sterben an den Aussengrenzen Europas. Das hat System, und ist abseits der Blicke des grössten Teils der EU-Öffentlichkeit in den letzten Jahren nichts Neues.
Dass man inzwischen aber im bürgerlichen Diskurs eine deutsche Mauer fordert, ohne auch nur ein Lippenbekenntnis an die Menschenrechte zu machen, zeigt, wie weit radikalisiert das Bürgertum mittlerweile ist.
Die Brandmauer ist gefallen
Martin Wagener rechnet vor, dass die Mauer, die er sich wünscht, 19 Milliarden Euro kosten würde. Darauf kommen jährlich 9,3 Milliarden Euro für den “Unterhalt inklusive Materialkosten”. Zum Vergleich: Die Sozialtransferleistungen im Asylbereich in Deutschland kosteten im Durchschnitt der letzten 9 Jahre 5,9 Milliarden – immerhin 3 Milliarden weniger als die Mauer jährlich kosten würde. Für die Sicherheits‑, Überwachungs- und Rüstungsindustrie wäre die deutsche Mauer ein profitables Business. Sie würde aber das Leben von keinem*keiner einzigen Lohnabhängigen auf irgendeine Weise verbessern, sondern im Gegenteil massenhaftes Leid verursachen.
Das Leid von Migrant*innen interessiert Martin Wagener nicht: Er ist ein Rechtsextremer. Seit 2012 war er Professor für Politikwissenschaft an einer Hochschule des Bundes, die unter anderem Geheimdienstmitarbeiter*innen ausbildet. Diese Tätigkeit musste er 2021 aufgeben, weil ihm der Verfassungsschutz die Sicherheitsfreigabe für das Betreten des Zentrums für Nachrichtendienstliche Aus- und Fortbildung entzogen hat. Der Grund: In seinem Buch “Kulturkampf um das Volk: Der Verfassungsschutz um die nationale Identität der Deutschen” propagierte er rechtsextreme Konzepte wie “Ethnopluralismus”.
Die “Brandmauer”, die die bürgerliche von der rechtsextremen Politik trennen sollte, ist inhaltlich schon lange gefallen.
Dass die NZZ solchen Rechtsextremen eine Plattform bietet, ist an sich nichts Neues und auch nicht überraschend. Es ist aber symptomatisch dafür, wie bürgerliche Diskurse die rassistischen Positionen der radikalen Rechten gesellschaftsfähig machten und machen. Die ehemals liberalen und konservativen Parteien – sei es die FDP sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland oder die CDU/CSU – sind inhaltlich, zumindest was die Migrationspolitik angeht, inzwischen von den rechtsextremen der AfD oder der SVP kaum noch zu unterscheiden.
Und auch die deutsche Sozialdemokratie übernimmt die rechten Diskurse und schreit danach, in grossem Stil abzuschieben. Tatsächlich ist die “Brandmauer”, die die bürgerliche von der rechtsextremen Politik trennen sollte, inhaltlich schon lange gefallen. Die Positionen der extremen Rechten sind inzwischen so normalisiert, weil sie bürgerliche Parteien und Medien bereitwillig übernehmen.
Dass die CDU bereit war, das rassistische „Zustrombegrenzungsgesetz“ mit Hilfe der AfD durchs Parlament zu bringen, löste grosse mediale Empörung aus. Dabei ist der Fall der formellen Brandmauer im Parlament bloss die Konsequenz davon, dass der Rassismus der AfD längst in der „Mitte“ angekommen ist. Das zeigt sich auch daran, dass bei aller Empörung über den Fall der Brandmauer im Parlament kaum Empörung über den eigentlichen rassistischen Inhalt des Gesetzes laut wurde.
Die Interessen hinter dem Mauerbau
Dabei ist das Ziel nicht einmal, Migration tatsächlich zu stoppen. Abgesehen davon, dass dies gar nicht möglich ist, wird die europäische Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten auf grosse Migrationsbewegungen von Arbeitskräften nach Europa angewiesen sein. Die repressive Migrationspolitik dient dazu, Migrant*innen systematisch zu entrechten und damit ihre Arbeitskraft billig zu halten. Gleichzeitig disziplinieret sie diese Menschen durch massive Repression und die rechtliche Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus – und schwächt dadurch die Solidarität unter den Lohnabhängigen.
Darüber hinaus versuchen die Bürgerlichen, teilweise bis hin zur Sozialdemokratie, mit ihrem Fokus auf die Migrationspolitik die politische Legitimationskrise des neoliberalen Regimes zu überwinden. Dieses Regime ist unfähig, Antworten auf die sozialen und ökologischen Krisen unserer Zeit zu geben. In diesem Kontext legen die Bürgerlichen die Maske der Menschenrechte und der demokratischen Werte ab, mit denen sie ihre Herrschaft im letzten Jahrhundert rechtfertigten. Und schliessen sich stattdessen dem Angebot der extremen Rechten an: ein zunehmend autoritärer, offen rassistischer Kapitalismus, der verspricht, das “Volk” gegen die “Bedrohung” durch migrantische Menschen zu schützen.
Das wird die Lebensbedingungen von uns allen verschlechtern. Immerhin ist jetzt für alle ersichtlich, was die NZZ schon immer gemeint hat, wenn sie von der “individuellen Freiheit” und der “offenen demokratischen Gesellschaft” sprach: Die Freiheit der Unternehmer*innen und die gewaltvolle Verteidigung kapitalistischer Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse.
Dieser Artikel erschien zuvor bei sozialismus.ch.