Reichtum persön­lich nehmen

Wut auf den Umstand, dass es Reiche und Arme gibt, ist ange­bracht. Doch sie braucht eine mate­ri­elle Analyse der Entste­hung von Reichtum, um revo­lu­tionär zu sein. 
Der Reichtum der wenigen bedingt sich durch die Ausbeutung der vielen. (Bild: Kira Kynd / Midjourney)

In einem Inter­view über die ungleiche Vertei­lung von Vermögen mit der Ökonomin Irene Becker stol­pere ich über eine Aussage, deren Wahr­heit mir körper­liche Schmerzen bereitet – viel­leicht, weil sie glei­cher­massen schlicht und wahr ist.

ZEIT ONLINE: Wäre es denn wünschens­wert, mehr reiche Menschen in dieser Gesell­schaft zu haben?

Becker: Nein. Wenn es mehr reiche Menschen gäbe, ohne dass andere Gruppen darunter leiden, wäre das kein Problem. Aber das passiert nicht. Reichtum geht meistens zula­sten der Menschen, die in Armut oder im Preka­riat leben. Das macht ihn so problematisch.“

Der Reichtum des einen geht zula­sten des anderen. Boom, da steht es. Heute weiss ich, dass das stimmt. Doch das war nicht immer so. Die Armut, in der ich bis zu meinem dreis­sig­sten Lebens­jahr mehr­heit­lich gelebt habe, war die Bedin­gung für den Reichtum derer, die mich und meine Familie ausge­beutet haben. Das eine geht nicht ohne das andere.

Ich muss fünf­und­dreissig und ein halbes Jahr alt werden, damit in mir diese zwei Dinge verknüpft wurden: das intel­lek­tu­elle Verstehen vom Wirk­me­cha­nismus des Reich­tums, das schon vor Jahren einge­setzt hat, und die verkör­perte Wahr­heit dieser Aussage in meinem eigenen Leben.

Ich musste die meiste Zeit meines Lebens in Armut leben, damit ein Reicher (es sind meist Männer) irgendwo auf der Welt eine gute Zeit hat.

Auf der einen Seite stand das mühsam erlernte theo­re­ti­sche Wissen darum, wie unsere Gesell­schaft aufge­baut ist und wie die Gesetze des Neoli­be­ra­lismus funk­tio­nieren, unter deren Knute wir leben. Auf der anderen Seite war da ein prak­ti­sches Wissen, das sich in Form von Verlet­zungen und Narben, die mir die körper­liche Arbeit zufügte, in meinen Körper einge­schrieben hatte.

Reiche als Feindbild

Meine sechs Zenti­meter lange und 0.5 Zenti­meter breite Narbe ist die Bedin­gung für die Erleb­nisse gleich­alt­riger Kinder von Reichen.

Denn: Sie können reiten, weil ich es bin, dem die Narbe zuge­fügt wird.

Meine These lautet: Der Reichtum einiger ist die Voraus­set­zung für die Armut vieler. Oder eine Nummer persön­li­cher: Ich musste die meiste Zeit meines Lebens in Armut leben, damit ein Reicher (es sind meist Männer) irgendwo auf der Welt eine gute Zeit hat.

Wenn wir über Reiche reden – über Parolen wie eat the rich oder das etwas kompa­ti­blere tax the rich – dann sind reiche Menschen für die aller­mei­sten das abstrakte Gegen­über, dass wir zu kennen glauben, ohne dass wir es wirk­lich kennen. Das macht es uns so einfach, derar­tige Sprüche in den sozialen Medien zu teilen oder sie auf Demos zu rufen. 

In einem Text bringen die Autorinnen Ann Kristin Tlusty und Vanessa Lara Ullrich den perfor­ma­tiven Charakter vom eat the rich-Topos auf den Punkt. Super­reiche, schreiben sie, würden ein Feind­bild bieten, mit deren Hilfe man sich auf der rich­tigen Seite wähne. 

Eine Kritik am Reichtum, die seine Entste­hung nicht proble­ma­ti­siert, bleibt notwen­di­ger­weise performativ.

Ich teile das Unwohl­sein mit der populär zur Schau gestellten Wut auf Reiche und Super­reiche. Denn Kapi­ta­lismus besteht laut den Autorinnen nicht im „Kampf der bösen Super­rei­chen gegen die guten Lohn­ab­hän­gigen – sondern darin, dass jene, die nicht mehr zu verkaufen haben als ihre Arbeits­kraft, denen gegen­über­treten, die über die Produk­ti­ons­mittel verfügen.“

Eine Kritik am Reichtum, die seine Entste­hung nicht proble­ma­ti­siert, bleibt notwen­di­ger­weise perfor­mativ. Will die Erzäh­lung von eat the rich also tatsäch­lich etwas verän­dern, muss die Kritik an der abstrakten Akku­mu­la­tion von Mehr­wert mit der persön­li­chen Ebene der Mangel­erfah­rung im eigenen Leben verbunden werden.

Die Wut auf Reiche birgt deswegen trotzdem revo­lu­tio­näres Poten­zial. Sie braucht nur eine mate­ri­elle Analyse. 

„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Und eine Spuren­suche im eigenen Leben: Wo war ich den Bedin­gungen des Reich­tums unter­worfen? Wo hat sich die Ungleich­heit in Form des Mindest­lohns, der Frust der Arbeits­lo­sig­keit, psychi­sche Erkran­kungen und mangel­hafte medi­zi­ni­sche Versor­gung in den eigenen Lebens­lauf eingeschrieben? 

Und: Kann man zwischen Selbst­er­lebtem und dem Reichtum der Menschen in unmit­tel­barer Umge­bung eine Verbin­dung herstellen? Wenn ja, wie sieht sie aus?

Blut im Schuh und Cham­pa­gner im Überfluss

Ich starte den Versuch am eigenen Leib. Ein alter Thea­ter­spruch besagt: „Den König spielen die anderen.“ Dieser Ausruf bedeutet, dass ein*e König*in erst durch seine*ihre Untertan*innen zum*zur König*in wird. Wenn der*die König*in sich gewöhn­lich gibt, während seine*ihre Gefolgs­leute vor ihm*ihr Knien, dann zemen­tiert gerade dieses Under­state­ment im Umgang mit den Bedien­steten seinen*ihren erho­benen Status.

Ich habe schon den König gespielt, mehr als ein Mal.

Ich bin sech­zehn und brauche einen Nebenjob, also bewerbe ich mich als Banket­taus­hilfe in einem Fünf­ster­ne­hotel in Hamburg. Mein Probetag ist eine Riesen­farce. Ich arbeite 16 Stunden durch, ohne Pause. Wenn wir das Essen der Hoch­zeits­ge­sell­schaft abräumen, esse ich Übrig geblie­benes, so wie die anderen es tun. Nach sechs Stunden schaue ich auf der Toilette nach, was mit meinen Füssen ist. Mein bester Freund hat mir seine Anzug­schuhe ausge­liehen. Nur hat er Schuh­grösse 43, während ich Schuh­grösse 45 trage. Ich ziehe meine Schuhe aus und erschrecke: Meine Füsse schwimmen im Blut, so etwas habe ich noch nie gesehen. Egal, ich muss durch­ziehen. Ich schlüpfe zurück in die nassen Socken und gehe zurück an die Arbeit.

In den näch­sten Monaten erlebe ich den Wahn­sinn, der in den Kata­komben des Hotels Alltag ist. Ich sehe, wie ein Koch einen Teller nach einer Aushilfe schmeisst. Ich selbst werde jeden Tag minde­stens einmal von jemandem ange­schrien. Einmal, bei der Hoch­zeit eines Poli­ti­ker­sohnes mit der Tochter eines chine­si­schen Indu­stri­ellen sollen ich und ein halbes Dutzend anderer Aushilfen schon um 11 Uhr mit vollen Tablets auf der Terrasse des Hotels stehen. Die ersten Gäste werden aber erst um 12 Uhr erwartet. Es ist uner­träg­lich heiss, schon um 12 Uhr schmerzen meine Arme.

Jedes Mal, wenn wir reichen Menschen begegnen, führt es uns dann nicht vor Augen, dass nicht Politiker*innen die Welt regieren, sondern dass es die Markt­wirt­schaft ist, die die Lebens­be­din­gungen der Menschen diktiert?

Später stol­pere ich mit einem Tablett über eine Stufe auf der Terrasse und ein paar Sekt­gläser ergiessen sich über genau den Gast, der mich vorher schon mehr­fach gefragt hat, wo die Ziga­retten bleiben, die er bei mir bestellt hat. Ich denke, dass er jetzt ausflippt. Viel­leicht, weil der Mann in dem Moment meinen Stress sieht, viel­leicht aus einem anderen Grund – jeden­falls reagiert der Mann entspannt, er sagt: Ist ja nur ein biss­chen Flüs­sig­keit, das kann jedem passieren.“

Diesem Mann steht es beinahe frei, wie er sich mir gegen­über verhält, ihm gegen­über habe ich abso­luten Unter­status. Aber heute habe ich Glück, er ist gnädig mit mir. Kaum von der Terrasse werde ich von meinem Chef ange­faucht, der nach der Veran­stal­tung vor meinen Augen einen fünf­hun­dert Euro­schein Trink­geld einsteckt, von dem weder die anderen Aushilfen noch ich etwas abbe­kommen. Ich merke mir: Banket­taus­hilfen sind auf derselben gesell­schaft­li­chen Ebene ange­sie­delt wie Hauselfen.

Arbeiten für den Wohl­stand Anderer

Die Bedin­gungen, unter denen wir Aushilfen in dem Luxus­hotel arbeiten, stehen exem­pla­risch für ein Symptom des Reich­tums. In „Super­yachten. Luxus und Stille im Kapi­talozän“ beschreibt der Sozio­loge Grégory Salle die Arbeits­be­din­gungen der Ange­stellten auf den Yachten der Super­rei­chen. Zeugen berich­teten „von Druck in allen erdenk­li­chen Formen, von der Wieder­ho­lung zermür­bender Arbeiten bis hin zu sexu­eller Belä­sti­gung. Die Folgen sind Depres­sionen und sogar Suizide.“

Es ändern sich die Zeiten. Ich werde erwachsen, aber mein Verhältnis zur Welt bleibt dasselbe und auch die Not, meinen Körper als Leih­ar­beiter für den Mindest­lohn zu Markte zu tragen, während mir ein Gross­teil von dem Geld, das ich erwirt­schafte, vorent­halten wird, ändert sich nicht. Die Momente in meinen Zwan­zi­gern, in denen ich multi­job­bend oft nicht wusste, wie ich mit meinem Geld bis zum Monats­ende durch­komme, wirken noch verzerrter, wenn ich mir vor Augen führe, welchen Lebens­rea­li­täten ich in meiner Arbeit als Kellner ausge­setzt war, ohne es zu beabsichtigen.

Das Grund­pro­blem, dass die Arbeit kaum zum Leben reicht und dass ich einen Gross­teil meines Lohns erst gar nicht erhalte, weil er in den Taschen eines Chefs landet, dem wäre ich auch in Jobs ausge­setzt, in denen ich keinen Kontakt mit den Reichen habe. Aber umgeben zu sein von Macht und Reichtum, hat das Gefühl für meine niedere Posi­tion verstärkt. Und es hat für meinen Hass auf Reiche gesorgt. Einen Hass, den ich mir nicht über Semi­nar­texte anlesen musste, der gewis­ser­massen nie kryp­tisch blieb, denn die Wurzel des Hasses lag in meinem dysfunk­tio­nalen Alltag begründet. Sie war die Nega­tiv­folie des Reich­tums, von dem ich in meiner Arbeits­zeit umgeben war.

Manche Verän­de­rungen gehen tatsäch­lich mit einer Entschei­dung los; in diesem Fall lautet sie: Ich nehme Reichtum persönlich!

Jedes Mal, wenn wir reichen Menschen begegnen, führt es uns dann nicht vor Augen, dass nicht Politiker*innen die Welt regieren, sondern dass es die Markt­wirt­schaft ist, die die Lebens­be­din­gungen der Menschen diktiert?

Lasst uns aufhören den*die König*in zu spielen, denn in einer Gesell­schaft, die für alle gerecht sein soll, ist für König*innen nicht länger Platz. Um dieses Spiel zu stören, müssen wir uns auf das besinnen, was in uns gärt, wenn wir früh­mor­gens in über­füllten Bahnen zur Früh­schicht aufbre­chen, um unsere schlecht bezahlten Jobs anzutreten.

Wenn unsere Eltern uns raten, das Erbe auszu­schlagen, weil wir sonst ihre Schulden erben würden.

Wenn wir uns krank­melden müssen, weil die Kita unser Kind aufgrund des Erzieher*innenmangels nicht betreuen kann.

Wenn wir erfahren, dass Gesetze von Lobbyist*innen geschrieben werden, und nicht von Politiker*innen.

Manche Verän­de­rungen gehen tatsäch­lich mit einer Entschei­dung los; in diesem Fall lautet sie: Ich nehme Reichtum persönlich!


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