Sicher­heit für wen?

Die Schweiz rüstet auf – als Antwort auf neue Bedro­hungen und eine unsi­chere Welt­lage. Doch während das Militär gestärkt wird, geraten soziale und menschen­recht­liche Anliegen ins Hinter­treffen. Und Sicher­heit wird zuneh­mend exklusiv. 
Wer und was wird hier eigentlich verteidigt? (Bild: Filip Andrejevic / Unsplash)

«Eine Epoche des Frie­dens in Europa ist zu Ende gegangen.» Mit diesen Worten reagierte Thomas Süssli, Chef der Schweizer Armee, im August 2023 auf den russi­schen Angriffs­krieg gegen die Ukraine – ein Ereignis, das Europas sicher­heits­po­li­ti­sche Grund­ord­nung erschütterte.

Seither hat sich das welt­po­li­ti­sche Klima zuneh­mend verschärft: Die unbe­re­chen­bare Aussen­po­litik der USA unter Donald Trump, sowie fort­dau­ernde Kriege haben das Gefühl einer multi­plen Bedro­hungs­lage verfestigt.

Die Mili­tär­aus­gaben der euro­päi­schen Staaten stiegen 2024 um 83 Prozent gegen­über 2015.

Auch in der Schweiz hat dies einen tief­grei­fenden Diskurs­wandel ausge­löst: weg vom Verständnis mili­tä­ri­scher Zurück­hal­tung – hin zu einem neuen Selbst­bild als vertei­di­gungs­fä­hige Nation.

Selbst­ver­tei­di­gung als Mantra

Im Zentrum dieser Neuaus­rich­tung steht das herkömm­liche Konzept der «bewaff­neten Neutra­lität» als sicher­heits­po­li­ti­sches Ziel. Damit soll eine glaub­wür­dige Vertei­di­gungs­fä­hig­keit mit der tradi­tio­nellen poli­ti­schen Neutra­lität der Schweiz verknüpft werden.

In der mili­tär­wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrift stratos fordert Süssli, die Schweiz müsse «bereit sein, ihre Souve­rä­nität zu vertei­digen – am Boden, in der Luft, im Cyber- sowie im Infor­ma­ti­ons­raum». Und weiter: «Die Befä­hi­gung unserer Ange­hö­rigen der Armee im Risiko- und Krisen­ma­nage­ment stellt sicher, dass das Erfolgs­mo­dell Schweiz auch in unsi­cheren Zeiten Bestand hat.»

Die Mehr­heit der Schweizer*innen ist über­zeugt, dass die Eidge­nos­sen­schaft mili­tä­risch vertei­di­gungs­fähig werden soll.

Diese Aussagen folgen einer grund­le­genden Einsicht: Die Schweiz ist aus heutiger Perspek­tive mili­tä­risch nicht vertei­di­gungs­fähig. So warnt etwa Stefan Holen­stein, Oberst im Gene­ral­stab und Präsi­dent des Verbands mili­tä­ri­scher Gesell­schaften Schweiz, gegen­über SRF: Im Falle eines Luft­an­griffs wäre unser Luft­raum «wie ein Löchersieb».

Der Bruch mit der bishe­rigen sicher­heits­po­li­ti­schen Linie ist deut­lich: Noch bis in die 1990er-Jahre galt mili­tä­ri­sche Vertei­di­gungs­fä­hig­keit als unnötig. So rüstet Schweizer Militär seit dem Kalten Krieg ab. Heute hingegen steht genau diese Fähig­keit wieder im Zentrum der sicher­heits­po­li­ti­schen Debatte.

Auch der Blick auf die Zahlen verdeut­licht diese poli­ti­sche Prio­ri­tä­ten­ver­schie­bung: Die Mili­tär­aus­gaben der euro­päi­schen Staaten stiegen 2024 um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – und sogar um 83 Prozent gegen­über 2015. Auch in der Schweiz ist die Wende spürbar. 

So einigte sich die Finanz­kom­mis­sion des Natio­nal­rats im November 2024 darauf, die Armee­aus­gaben um 530 Millionen Franken – von ursprüng­lich etwa 2.2 auf 2.7 Milli­arden zu erhöhen. Das ist ein Plus von 24 Prozent.

Diese Verschie­bung signa­li­siert weniger eine Abkehr von der klas­si­schen Neutra­lität, sondern viel­mehr eine Neuak­zen­tu­ie­rung: Die seit jeher bewaff­nete Neutra­lität der Schweiz rückt heute wieder stärker als aktive Selbst­be­haup­tung und Vertei­di­gungs­be­reit­schaft in den Vorder­grund – als Antwort auf ein zuneh­mend bedro­hungs­in­ten­sives Umfeld.

Mili­tä­ri­sche Sicher­heit vor Sozialstaat?

In der Schweizer Bevöl­ke­rung ist die Unter­stüt­zung für eine sicher­heits­po­li­ti­sche Neuaus­rich­tung breit veran­kert. Eine reprä­sen­ta­tive Umfrage vom April 2025 zeigt: Die Mehr­heit der Schweizer*innen ist über­zeugt, dass die Eidge­nos­sen­schaft mili­tä­risch vertei­di­gungs­fähig werden soll. Doch die Zustim­mung zur Aufrü­stung hat ihren Preis – und die Bereit­schaft, diesen auf dem Rücken anderer gesell­schaft­li­cher Bereiche zu beglei­chen, ist hoch.

So spre­chen sich rund zwei Drittel der Befragten dafür aus, die stei­genden Mili­tär­aus­gaben durch Kürzungen im Asyl­wesen und in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit zu finanzieren.

Geschützt werden «unsere» Leute, während «die anderen» durch das Schutz­ra­ster fallen.

Ayse Dursun, Politikwissenschaftlerin

Entspre­chend deckt sich die öffent­liche Meinung mit dem geplanten Spar­paket des Bundes­rats, das beson­ders die Asyl- und Entwick­lungs­po­litik treffen soll. Die Vertei­lung staat­li­cher Ressourcen folgt damit zuneh­mend sicher­heits­po­li­ti­schen und nicht sozi­al­staat­li­chen Krite­rien. Der rote Stift wird folg­lich auf Kosten der Schwäch­sten angesetzt.

Während die Vertei­di­gungs­fä­hig­keit zum poli­ti­schen Mantra avan­ciert, stellt sich nicht nur die Frage, wer eigent­lich geschützt wird, sondern auch was: Ein Blick auf die sicher­heits­po­li­ti­sche Rhetorik zeigt, dass der Schutz der Bevöl­ke­rung längst nicht alle miteinschliesst.

Sicher­heit für wen?

Die aktu­elle Entwick­lung legt einen Grund­me­cha­nismus offen: Der staat­liche Schutz­an­spruch ist selektiv und exklu­die­rend. Wenn die mili­tä­ri­sche Vertei­di­gung auf Kosten sozialer und menschen­recht­li­cher Verant­wor­tung geht, dann schützt das nicht die gesamte Bevöl­ke­rung einer Nation, sondern ein eng defi­nierter Teil davon – jener, der als natio­nales «Wir» aner­kannt wird.

Menschen gelten als schüt­zens­wert, wenn sie zu «uns» und damit zum kollek­tiven Selbstverständnis gehören, das es zu selbstvertei­digen gilt.

Wie die Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Ayse Dursun gegen­über das Lamm erklärt, konstru­iert der sicher­heits­po­li­ti­sche Diskurs einen Schutz­be­griff, der entlang von Herkunft, Zuge­hö­rig­keit und Nütz­lich­keit sortiert und trennt. Diese Logik greift also nicht erst im Ernst­fall eines Angriffs, sondern bereits im Diskurs selbst, in Rechten und in struk­tu­rellen Rege­lungen. Dursun betont: «Die allge­mein­gül­tige Vorstel­lung von Fürsorge ist für mich ganz klar rassi­stisch nati­vi­stisch geprägt.» Geschützt werden demnach «unsere» Leute, während «die anderen» wie etwa geflüch­tete Menschen, durch das Schutz­ra­ster fallen, so Dursun weiter.

Aufrü­stung wird forciert und gleich­zeitig geraten gerade margi­na­li­sierte Gruppen wie Menschen mit Behin­de­rung, Migrant*innen oder queere Personen immer stärker aus dem Blick. Ihnen soll der Schutz komplett verwei­gert oder nur unter menschen­ver­ach­tenden Umständen gewährt werden – indem etwa trans Jugend­li­chen der Zugang zur medi­zi­ni­schen Fürsorge erschwert wird. Damit, so Dursun, werde Schutz faktisch nur jenen gewährt, die als heimisch, gesund und arbeits­fähig gelten.

Die welt­weite Bemü­hung, Grenzen mit Mili­ta­ri­sie­rung zu sichern, führt zudem zu einer gefähr­li­chen Form staat­li­cher Sorg­lo­sig­keit: Während Milli­arden in Vertei­di­gungs­stra­te­gien fliessen, wird die Fürsor­ge­pflicht nicht nur gegen­über vulner­ablen Gruppen systematisch vernach­läs­sigt, sondern auch gegen­über der Klima­krise. Dursun warnt: «Auch gegen­über der bedrohten Existenz auf unserem Planeten bleiben wir so konse­quent sorglos und unbekümmert.»

Was wäre, wenn nicht Drohnen, Mili­tär­tech­no­lo­gien oder KI als Zeichen von Fort­schritt gelten, sondern Forde­rungen nach Verant­wor­tung und sozialer Gerechtigkeit?

Mehrere Unsi­cher­heiten prägen die aktu­ellen Zeiten. Statt diese Heraus­for­de­rungen soli­da­risch und verant­wor­tungs­voll anzu­gehen – etwa durch den Ausbau sozialer Sicher­heit für Menschen in Armut – wird der Sicher­heits­be­griff zuneh­mend mili­ta­ri­siert. Die Folge ist eine gefähr­liche Verschie­bung der poli­ti­schen Prio­ri­täten: Anstelle des Schutzes der Lebens­grund­lagen aller rücken Aufrü­stung und Abgren­zung in den Vorder­grund, während soziale und ökolo­gi­sche Krisen weiter eska­lieren – so Dursun.

Doch es gibt Alter­na­tiven: Ein Sicher­heits­ver­ständnis, das nicht auf mili­tä­ri­scher Stärke, sondern auf sozialer Gerech­tig­keit, globaler Soli­da­rität und nach­hal­tigem Umgang mit unseren Ressourcen beruht, könnte den Weg zu einer gerech­teren und siche­reren Gesell­schaft ebnen.

Sicher­heit neu denken

Was es jetzt braucht, ist eine radi­kale Neuin­ter­pre­ta­tion dessen, was wir unter Sicher­heit verstehen, meint auch Edma Ajanovic, eben­falls Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin. Sie schlägt ein Gegen­mo­dell zur gegen­wär­tigen Aufrü­stungs­logik vor: ein femi­ni­sti­sches Verständnis von Fürsorge. «Ein solches baut nicht auf spal­tende Grenzen und Aufrü­stung, sondern auf gegen­sei­tige Verant­wor­tung und Verbundenheit.»

Das heisst: Sicher­heit darf nicht länger als Schutz vor äusseren Feinden defi­niert werden, sondern muss die tatsäch­li­chen Lebens­be­din­gungen der Menschen ins Zentrum rücken – «ihre Abhän­gig­keiten vonein­ander, von einer intakten Umwelt und von grund­le­genden sozialen Struk­turen wie dem Zugang zu Gesund­heits­ver­sor­gung, Bildung und einem gerechten Arbeits­markt», so Ajanovic weiter.

Wie wäre es, wenn wir uns konse­quent vom Fort­schritts­nar­rativ einer kapi­ta­li­stisch getrie­benen Verwer­tungs­logik lösen? Wenn nicht Drohnen, modernste Mili­tär­tech­no­lo­gien oder künst­liche Intel­li­genz als Zeichen von Fort­schritt gelten, sondern Forde­rungen nach Verant­wor­tung, sozialer Gerech­tig­keit und Abrü­stung? Wenn Soli­da­rität, Empa­thie und der Schutz der Verwund­bar­sten als zentrale Werte einer zukunfts­fä­higen Gesell­schaft aner­kannt würden?

Was wäre, wenn wir Schutz nicht länger ausschliess­lich als mili­tä­ri­sche Vertei­di­gung begreifen, sondern als mensch­liche Fürsorge – als das Verspre­chen, dass niemand zurück­ge­lassen wird?

Eine solche Vision mag utopisch erscheinen, doch gerade in Zeiten komplexer Krisen und wach­sender Unsi­cher­heiten wird klar: «Ein siche­reres Morgen entsteht nicht durch neue Waffen, sondern durch Gegen­bilder, die unser Verständnis von Sicher­heit grund­le­gend zu verän­dern», sagt Ajanovic. Hin zu einer Welt, in der echte Fürsorge und Gerech­tig­keit die Basis unseres Zusam­men­le­bens bilden.


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