«Eine Epoche des Friedens in Europa ist zu Ende gegangen.» Mit diesen Worten reagierte Thomas Süssli, Chef der Schweizer Armee, im August 2023 auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – ein Ereignis, das Europas sicherheitspolitische Grundordnung erschütterte.
Seither hat sich das weltpolitische Klima zunehmend verschärft: Die unberechenbare Aussenpolitik der USA unter Donald Trump, sowie fortdauernde Kriege haben das Gefühl einer multiplen Bedrohungslage verfestigt.
Die Militärausgaben der europäischen Staaten stiegen 2024 um 83 Prozent gegenüber 2015.
Auch in der Schweiz hat dies einen tiefgreifenden Diskurswandel ausgelöst: weg vom Verständnis militärischer Zurückhaltung – hin zu einem neuen Selbstbild als verteidigungsfähige Nation.
Selbstverteidigung als Mantra
Im Zentrum dieser Neuausrichtung steht das herkömmliche Konzept der «bewaffneten Neutralität» als sicherheitspolitisches Ziel. Damit soll eine glaubwürdige Verteidigungsfähigkeit mit der traditionellen politischen Neutralität der Schweiz verknüpft werden.
In der militärwissenschaftlichen Zeitschrift stratos fordert Süssli, die Schweiz müsse «bereit sein, ihre Souveränität zu verteidigen – am Boden, in der Luft, im Cyber- sowie im Informationsraum». Und weiter: «Die Befähigung unserer Angehörigen der Armee im Risiko- und Krisenmanagement stellt sicher, dass das Erfolgsmodell Schweiz auch in unsicheren Zeiten Bestand hat.»
Die Mehrheit der Schweizer*innen ist überzeugt, dass die Eidgenossenschaft militärisch verteidigungsfähig werden soll.
Diese Aussagen folgen einer grundlegenden Einsicht: Die Schweiz ist aus heutiger Perspektive militärisch nicht verteidigungsfähig. So warnt etwa Stefan Holenstein, Oberst im Generalstab und Präsident des Verbands militärischer Gesellschaften Schweiz, gegenüber SRF: Im Falle eines Luftangriffs wäre unser Luftraum «wie ein Löchersieb».
Der Bruch mit der bisherigen sicherheitspolitischen Linie ist deutlich: Noch bis in die 1990er-Jahre galt militärische Verteidigungsfähigkeit als unnötig. So rüstet Schweizer Militär seit dem Kalten Krieg ab. Heute hingegen steht genau diese Fähigkeit wieder im Zentrum der sicherheitspolitischen Debatte.
Auch der Blick auf die Zahlen verdeutlicht diese politische Prioritätenverschiebung: Die Militärausgaben der europäischen Staaten stiegen 2024 um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – und sogar um 83 Prozent gegenüber 2015. Auch in der Schweiz ist die Wende spürbar.
So einigte sich die Finanzkommission des Nationalrats im November 2024 darauf, die Armeeausgaben um 530 Millionen Franken – von ursprünglich etwa 2.2 auf 2.7 Milliarden zu erhöhen. Das ist ein Plus von 24 Prozent.
Diese Verschiebung signalisiert weniger eine Abkehr von der klassischen Neutralität, sondern vielmehr eine Neuakzentuierung: Die seit jeher bewaffnete Neutralität der Schweiz rückt heute wieder stärker als aktive Selbstbehauptung und Verteidigungsbereitschaft in den Vordergrund – als Antwort auf ein zunehmend bedrohungsintensives Umfeld.
Militärische Sicherheit vor Sozialstaat?
In der Schweizer Bevölkerung ist die Unterstützung für eine sicherheitspolitische Neuausrichtung breit verankert. Eine repräsentative Umfrage vom April 2025 zeigt: Die Mehrheit der Schweizer*innen ist überzeugt, dass die Eidgenossenschaft militärisch verteidigungsfähig werden soll. Doch die Zustimmung zur Aufrüstung hat ihren Preis – und die Bereitschaft, diesen auf dem Rücken anderer gesellschaftlicher Bereiche zu begleichen, ist hoch.
So sprechen sich rund zwei Drittel der Befragten dafür aus, die steigenden Militärausgaben durch Kürzungen im Asylwesen und in der Entwicklungszusammenarbeit zu finanzieren.
Geschützt werden «unsere» Leute, während «die anderen» durch das Schutzraster fallen.
Ayse Dursun, Politikwissenschaftlerin
Entsprechend deckt sich die öffentliche Meinung mit dem geplanten Sparpaket des Bundesrats, das besonders die Asyl- und Entwicklungspolitik treffen soll. Die Verteilung staatlicher Ressourcen folgt damit zunehmend sicherheitspolitischen und nicht sozialstaatlichen Kriterien. Der rote Stift wird folglich auf Kosten der Schwächsten angesetzt.
Während die Verteidigungsfähigkeit zum politischen Mantra avanciert, stellt sich nicht nur die Frage, wer eigentlich geschützt wird, sondern auch was: Ein Blick auf die sicherheitspolitische Rhetorik zeigt, dass der Schutz der Bevölkerung längst nicht alle miteinschliesst.
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Sicherheit für wen?
Die aktuelle Entwicklung legt einen Grundmechanismus offen: Der staatliche Schutzanspruch ist selektiv und exkludierend. Wenn die militärische Verteidigung auf Kosten sozialer und menschenrechtlicher Verantwortung geht, dann schützt das nicht die gesamte Bevölkerung einer Nation, sondern ein eng definierter Teil davon – jener, der als nationales «Wir» anerkannt wird.
Menschen gelten als schützenswert, wenn sie zu «uns» und damit zum kollektiven Selbstverständnis gehören, das es zu selbstverteidigen gilt.
Wie die Politikwissenschaftlerin Ayse Dursun gegenüber das Lamm erklärt, konstruiert der sicherheitspolitische Diskurs einen Schutzbegriff, der entlang von Herkunft, Zugehörigkeit und Nützlichkeit sortiert und trennt. Diese Logik greift also nicht erst im Ernstfall eines Angriffs, sondern bereits im Diskurs selbst, in Rechten und in strukturellen Regelungen. Dursun betont: «Die allgemeingültige Vorstellung von Fürsorge ist für mich ganz klar rassistisch nativistisch geprägt.» Geschützt werden demnach «unsere» Leute, während «die anderen» wie etwa geflüchtete Menschen, durch das Schutzraster fallen, so Dursun weiter.
Aufrüstung wird forciert und gleichzeitig geraten gerade marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderung, Migrant*innen oder queere Personen immer stärker aus dem Blick. Ihnen soll der Schutz komplett verweigert oder nur unter menschenverachtenden Umständen gewährt werden – indem etwa trans Jugendlichen der Zugang zur medizinischen Fürsorge erschwert wird. Damit, so Dursun, werde Schutz faktisch nur jenen gewährt, die als heimisch, gesund und arbeitsfähig gelten.
Die weltweite Bemühung, Grenzen mit Militarisierung zu sichern, führt zudem zu einer gefährlichen Form staatlicher Sorglosigkeit: Während Milliarden in Verteidigungsstrategien fliessen, wird die Fürsorgepflicht nicht nur gegenüber vulnerablen Gruppen systematisch vernachlässigt, sondern auch gegenüber der Klimakrise. Dursun warnt: «Auch gegenüber der bedrohten Existenz auf unserem Planeten bleiben wir so konsequent sorglos und unbekümmert.»
Was wäre, wenn nicht Drohnen, Militärtechnologien oder KI als Zeichen von Fortschritt gelten, sondern Forderungen nach Verantwortung und sozialer Gerechtigkeit?
Mehrere Unsicherheiten prägen die aktuellen Zeiten. Statt diese Herausforderungen solidarisch und verantwortungsvoll anzugehen – etwa durch den Ausbau sozialer Sicherheit für Menschen in Armut – wird der Sicherheitsbegriff zunehmend militarisiert. Die Folge ist eine gefährliche Verschiebung der politischen Prioritäten: Anstelle des Schutzes der Lebensgrundlagen aller rücken Aufrüstung und Abgrenzung in den Vordergrund, während soziale und ökologische Krisen weiter eskalieren – so Dursun.
Doch es gibt Alternativen: Ein Sicherheitsverständnis, das nicht auf militärischer Stärke, sondern auf sozialer Gerechtigkeit, globaler Solidarität und nachhaltigem Umgang mit unseren Ressourcen beruht, könnte den Weg zu einer gerechteren und sichereren Gesellschaft ebnen.
Sicherheit neu denken
Was es jetzt braucht, ist eine radikale Neuinterpretation dessen, was wir unter Sicherheit verstehen, meint auch Edma Ajanovic, ebenfalls Politikwissenschaftlerin. Sie schlägt ein Gegenmodell zur gegenwärtigen Aufrüstungslogik vor: ein feministisches Verständnis von Fürsorge. «Ein solches baut nicht auf spaltende Grenzen und Aufrüstung, sondern auf gegenseitige Verantwortung und Verbundenheit.»
Das heisst: Sicherheit darf nicht länger als Schutz vor äusseren Feinden definiert werden, sondern muss die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen ins Zentrum rücken – «ihre Abhängigkeiten voneinander, von einer intakten Umwelt und von grundlegenden sozialen Strukturen wie dem Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und einem gerechten Arbeitsmarkt», so Ajanovic weiter.
Wie wäre es, wenn wir uns konsequent vom Fortschrittsnarrativ einer kapitalistisch getriebenen Verwertungslogik lösen? Wenn nicht Drohnen, modernste Militärtechnologien oder künstliche Intelligenz als Zeichen von Fortschritt gelten, sondern Forderungen nach Verantwortung, sozialer Gerechtigkeit und Abrüstung? Wenn Solidarität, Empathie und der Schutz der Verwundbarsten als zentrale Werte einer zukunftsfähigen Gesellschaft anerkannt würden?
Was wäre, wenn wir Schutz nicht länger ausschliesslich als militärische Verteidigung begreifen, sondern als menschliche Fürsorge – als das Versprechen, dass niemand zurückgelassen wird?
Eine solche Vision mag utopisch erscheinen, doch gerade in Zeiten komplexer Krisen und wachsender Unsicherheiten wird klar: «Ein sichereres Morgen entsteht nicht durch neue Waffen, sondern durch Gegenbilder, die unser Verständnis von Sicherheit grundlegend zu verändern», sagt Ajanovic. Hin zu einer Welt, in der echte Fürsorge und Gerechtigkeit die Basis unseres Zusammenlebens bilden.
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