Ausschaffung, Vollzugsstufe 4: Der Person wird ein Schutzhelm aufgezwängt, ein Spuckschutz ins Gesicht gedrückt. Sie wird gefesselt: an Armen, Brust, Beinen, Füssen. Und dann vollständig bewegungsunfähig in das Land zurückgeschafft, das gemäss ihren Papieren für sie verantwortlich ist.
Diesen Mittwoch sollen mehrere Personen auf diesem Weg ausgeschafft werden. Gemäss dem Migrant Solidarity Network (MSN) hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) einen Sonderflug nach Äthiopien geplant: eine Massenausschaffung.
Lea Hungerbühler, Rechtsanwältin und Präsidentin von Asylex, bestätigt gegenüber dem Lamm, dass ein solcher Sonderflug geplant sei. Hungerbühler vertritt bei der Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende eine der betroffenen Personen. Solche Level-4-Ausschaffungen seien ohnehin enorm problematisch, sagt die Anwältin. „Und dass das SEM jetzt in der aktuellen Lage tatsächlich einen Sonderflug nach Äthiopien plant, ist umso fragwürdiger.“
In Äthiopien besteht eine humanitäre Katastrophe. In der nördlichen Tigray-Region führt die Zentralregierung unter Premierminister und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed Krieg gegen die Tigray People’s Liberation Front (TPLF).
Josep Borrell, Hoher Vertreter der Europäischen Union für Aussen- und Sicherheitspolitik, schreibt in seinem Blog: „Es erreichen uns konsistente Berichte von ethnisch motivierter Gewalt, Morden, Plündereien, Vergewaltigungen und möglichen Kriegsverbrechen.“
Was einst als Konflikt zwischen der Tigray-Region und der Zentralregierung begonnen habe, betreffe inzwischen das ganze Land, so der EU-Aussenminister weiter. Auch in anderen Regionen ereignen sich schwere, ethnisch motivierte Auseinandersetzungen.
Die Folgen sind verheerend: In Tigray sind 4.5 Millionen Menschen dringend auf Nahrungsmittel angewiesen. Hunderttausenden droht der Hungertod. Auch, weil die Regierung Hilfswerken kaum Zugang gewährt.
Die UNO zeigt sich besorgt, sogar die EU schlägt Alarm, und das SEM plant einen Sonderflug.
„Wenn dieser Flug tatsächlich stattfinden sollte, verurteilen wir das deutlich“, sagt Eliane Engeler, die Mediensprecherin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH. Schon im November hatte die SFH den sofortigen Stopp von Zwangsrückführungen nach Äthiopien gefordert. „Und diese Forderung ist natürlich immer noch gültig“, so Engeler. In einer Medienmitteilung zeigt sich die SFH „besorgt“.
Überhaupt erst möglich ist die Massenausschaffung, weil die Schweizer Behörden einen guten Kontakt zur äthiopischen Regierung pflegen. 2018 unterzeichneten die beiden Länder ein Abkommen, das zuvor die EU und Äthiopien ausgearbeitet hatten. Es ermöglicht und regelt die freiwillige oder unfreiwillige Rückkehr nach Äthiopien.
Wichtiger Bestandteil des Abkommens ist die enge Zusammenarbeit mit dem äthiopischen Geheimdienst NISS bei der Identifikation abgewiesener Asylsuchender. Dieser sei laut Amnesty International für Menschenrechtsverletzungen und die Verfolgung der Opposition bekannt. Laut Recherchen der WOZ werden in der Schweiz bisweilen Befragungen von einer Delegation des äthiopischen Staats durchgeführt – vermutlich von Vertreter*innen des NISS.
Verschiedene Formen des Widerstands
Darauf, dass das SEM noch einlenken könnte, deutet zurzeit wenig hin. Dass der geplante Sonderflug im Vorhinein überhaupt an die Öffentlichkeit gelangt ist, ist ungewöhnlich. Üblicherweise werden Level-4-Ausschaffungen erst im alljährlichen Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter publik gemacht. Während der letzten Monitoring-Periode, die im März 2020 endete, hatte die Schweiz zwar 34 solche Ausschaffungen durchgeführt – aber keine eigenen Sammelflüge organisiert.
Wenn die Betroffenen bereits vor der geplanten Ausschaffung wissen, dass ein solcher Sonderflug ansteht, können sie sich wehren. Im Fall einer Person haben Lea Hungerbühler und die Zürcher Anwaltskanzlei RISE Attorneys at Law jetzt erwirkt, dass der UN-Frauenrechtsausschuss einen sofortigen Vollzugsstop verfügt hat. Das SEM muss also von ihrer Ausschaffung absehen.
Und es regt sich noch mehr Widerstand: Tahir Tilmo befindet sich so wie alle mutmasslich vom Sonderflug betroffenen Personen bereits in Ausschaffungshaft. Jetzt ist er gemäss Migrant Solidarity Network in den Hunger- und Durststreik getreten. Das MSN ruft zu Solidaritätsaktionen auf.
Das SEM auf der anderen Seite hat den Sonderflug gegenüber das Lamm weder bestätigt noch dementiert. Auch die Frage nach einer allfälligen Beteiligung des NISS bleibt unbeantwortet. „Das SEM gibt im Vorfeld keine Auskunft über geplante Rückführungen“, schreibt Mediensprecher Lukas Rieder. Gegenüber der SDA führt die Behörde als Begründung dafür Sicherheitsbedenken an. Ob diese Bedenken gerechtfertigt sind, wird sich zeigen – am Mittwoch am Genfer Flughafen.