Sonder­flug ins Krisengebiet

Das Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion plant einen Sonder­flug nach Äthio­pien. Diesen Mitt­woch sollen mehrere Personen in ein Land ausge­schafft werden, dessen Regie­rung einen blutigen Krieg gegen die eigene Bevöl­ke­rung führt. Sie pflegt gute Bezie­hungen zur Schweiz. 
Der Genfer Flughafen. Hier soll der Sonderflug abheben. (Foto: Robbie Shade / Flickr)

Ausschaf­fung, Voll­zugs­stufe 4: Der Person wird ein Schutz­helm aufge­zwängt, ein Spuck­schutz ins Gesicht gedrückt. Sie wird gefes­selt: an Armen, Brust, Beinen, Füssen. Und dann voll­ständig bewe­gungs­un­fähig in das Land zurück­ge­schafft, das gemäss ihren Papieren für sie verant­wort­lich ist.

Diesen Mitt­woch sollen mehrere Personen auf diesem Weg ausge­schafft werden. Gemäss dem Migrant Soli­da­rity Network (MSN) hat das Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion (SEM) einen Sonder­flug nach Äthio­pien geplant: eine Massenausschaffung.

Lea Hunger­bühler, Rechts­an­wältin und Präsi­dentin von Asylex, bestä­tigt gegen­über dem Lamm, dass ein solcher Sonder­flug geplant sei. Hunger­bühler vertritt bei der Rechts­be­ra­tungs­stelle für Asyl­su­chende eine der betrof­fenen Personen. Solche Level-4-Ausschaf­fungen seien ohnehin enorm proble­ma­tisch, sagt die Anwältin. „Und dass das SEM jetzt in der aktu­ellen Lage tatsäch­lich einen Sonder­flug nach Äthio­pien plant, ist umso fragwürdiger.“

In Äthio­pien besteht eine huma­ni­täre Kata­strophe. In der nörd­li­chen Tigray-Region führt die Zentral­re­gie­rung unter Premier­mi­ni­ster und Frie­dens­no­bel­preis­träger Abiy Ahmed Krieg gegen die Tigray People’s Libe­ra­tion Front (TPLF).

Josep Borrell, Hoher Vertreter der Euro­päi­schen Union für Aussen- und Sicher­heits­po­litik, schreibt in seinem Blog: „Es errei­chen uns konsi­stente Berichte von ethnisch moti­vierter Gewalt, Morden, Plün­de­reien, Verge­wal­ti­gungen und mögli­chen Kriegsverbrechen.“

Was einst als Konflikt zwischen der Tigray-Region und der Zentral­re­gie­rung begonnen habe, betreffe inzwi­schen das ganze Land, so der EU-Aussen­mi­ni­ster weiter. Auch in anderen Regionen ereignen sich schwere, ethnisch moti­vierte Ausein­an­der­set­zungen.

Die Folgen sind verhee­rend: In Tigray sind 4.5 Millionen Menschen drin­gend auf Nahrungs­mittel ange­wiesen. Hundert­tau­senden droht der Hungertod. Auch, weil die Regie­rung Hilfs­werken kaum Zugang gewährt.

Die UNO zeigt sich besorgt, sogar die EU schlägt Alarm, und das SEM plant einen Sonderflug.

„Wenn dieser Flug tatsäch­lich statt­finden sollte, verur­teilen wir das deut­lich“, sagt Eliane Engeler, die Medi­en­spre­cherin der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­hilfe SFH. Schon im November hatte die SFH den sofor­tigen Stopp von Zwangs­rück­füh­rungen nach Äthio­pien gefor­dert. „Und diese Forde­rung ist natür­lich immer noch gültig“, so Engeler. In einer Medi­en­mit­tei­lung zeigt sich die SFH „besorgt“.

Über­haupt erst möglich ist die Massen­aus­schaf­fung, weil die Schweizer Behörden einen guten Kontakt zur äthio­pi­schen Regie­rung pflegen. 2018 unter­zeich­neten die beiden Länder ein Abkommen, das zuvor die EU und Äthio­pien ausge­ar­beitet hatten. Es ermög­licht und regelt die frei­wil­lige oder unfrei­wil­lige Rück­kehr nach Äthiopien.

Wich­tiger Bestand­teil des Abkom­mens ist die enge Zusam­men­ar­beit mit dem äthio­pi­schen Geheim­dienst NISS bei der Iden­ti­fi­ka­tion abge­wie­sener Asyl­su­chender. Dieser sei laut Amnesty Inter­na­tional für Menschen­rechts­ver­let­zungen und die Verfol­gung der Oppo­si­tion bekannt. Laut Recher­chen der WOZ werden in der Schweiz bisweilen Befra­gungen von einer Dele­ga­tion des äthio­pi­schen Staats durch­ge­führt – vermut­lich von Vertreter*innen des NISS.

Verschie­dene Formen des Widerstands

Darauf, dass das SEM noch einlenken könnte, deutet zurzeit wenig hin. Dass der geplante Sonder­flug im Vorhinein über­haupt an die Öffent­lich­keit gelangt ist, ist unge­wöhn­lich. Übli­cher­weise werden Level-4-Ausschaf­fungen erst im alljähr­li­chen Bericht der Natio­nalen Kommis­sion zur Verhü­tung von Folter publik gemacht. Während der letzten Moni­to­ring-Periode, die im März 2020 endete, hatte die Schweiz zwar 34 solche Ausschaf­fungen durch­ge­führt – aber keine eigenen Sammel­flüge organisiert.

Wenn die Betrof­fenen bereits vor der geplanten Ausschaf­fung wissen, dass ein solcher Sonder­flug ansteht, können sie sich wehren. Im Fall einer Person haben Lea Hunger­bühler und die Zürcher Anwalts­kanzlei RISE Attor­neys at Law jetzt erwirkt, dass der UN-Frau­en­rechts­aus­schuss einen sofor­tigen Voll­zugs­stop verfügt hat. Das SEM muss also von ihrer Ausschaf­fung absehen.

Und es regt sich noch mehr Wider­stand: Tahir Tilmo befindet sich so wie alle mutmass­lich vom Sonder­flug betrof­fenen Personen bereits in Ausschaf­fungs­haft. Jetzt ist er gemäss Migrant Soli­da­rity Network in den Hunger- und Durst­streik getreten. Das MSN ruft zu Soli­da­ri­täts­ak­tionen auf.

Das SEM auf der anderen Seite hat den Sonder­flug gegen­über das Lamm weder bestä­tigt noch demen­tiert. Auch die Frage nach einer allfäl­ligen Betei­li­gung des NISS bleibt unbe­ant­wortet. „Das SEM gibt im Vorfeld keine Auskunft über geplante Rück­füh­rungen“, schreibt Medi­en­spre­cher Lukas Rieder. Gegen­über der SDA führt die Behörde als Begrün­dung dafür Sicher­heits­be­denken an. Ob diese Bedenken gerecht­fer­tigt sind, wird sich zeigen – am Mitt­woch am Genfer Flughafen.

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