Robert sitzt auf einer Bank in der Bäckeranlage, die an diesem ersten sonnigen Wochenende seit Langem wieder einmal gut besucht ist, und umklammert sein Smartphone. Dort hat er all die Aufforderungen gespeichert, die ihm das Sozialamt seit Monaten schreibt.
Robert ist nicht sein richtiger Name und er möchte auch nicht, dass unser Gespräch aufgenommen wird – zu gross sei die Angst vor dem Sozialdienst. Er spricht von Psychoterror und fühlt sich behandelt wie ein Schwerverbrecher.
Das Delikt: Er bezieht Sozialhilfe.
49 Gemeinden planen den Aufstand
Wenn eine Gemeinde in Zürich den Verdacht hat, dass eine Person unrechtmässig Sozialhilfe bezieht, kann sie diese durch sogenannte Sozialdetektiv:innen observieren lassen. In der Stadt Zürich war das in der Vergangenheit bei rund 100 Sozialhilfeempfänger:innen pro Jahr der Fall.
2016 rügte der Europäische Gerichtshof die Praxis der Stadt Zürich. Auf Initiative von SP-Sozialvorsteher Raphael Golta wurden die Sozialinspektionen darauf ganz eingestellt. Weil sich aber Regierungsrat Mario Fehr (SP) um den Entscheid aus Strasbourg foutierte, blieben Observationen im Kanton Zürich erlaubt – allerdings auf einer umstrittenen Rechtsgrundlage.
Am 7. März stimmt die Zürcher Stimmbevölkerung nun über Änderungen des Sozialhilfegesetzes ab, mit denen eine kantonale Rechtsgrundlage geschaffen werden soll.
Die Gesetzesänderung sieht vor, dass Sozialhilfebeziehende neu verdeckt und mit technischen Hilfsmitteln zur Bildaufzeichnung observiert werden dürfen, an höchstens 20 Tagen innerhalb von sechs Monaten. Neu sollen die Observationen vom Bezirksrat statt wie bisher von der Sozialbehörde der Gemeinde bewilligt werden. Die Bezirksräte sind in den insgesamt zwölf Bezirken im Kanton für die Aufsicht zuständig, in ihnen sitzen meist Parteivertreter:innen.
Der Kantonsrat hat also einschneidende Eingriffe in die Privatsphäre von Sozialhilfebeziehenden beschlossen. Trotzdem ging die Vorlage einigen zu wenig weit. Weil das Kantonsparlament im letzten Moment GPS-Tracking und unangemeldete Hausbesuche aus dem Gesetz gestrichen hat, haben 49 Gemeinden ein Gemeindereferendum gegen den Entscheid ergriffen. Während SVP und FDP das Referendum geschlossen unterstützen, ist die Linke gespalten: Grüne und AL lehnen die Gesetzesänderung aufgrund der Grundrechtseingriffe ab, die SP hingegen befürwortet sie. Die Sozialdemokrat:innen sehen das Verbot von GPS-Überwachung und unangemeldeten Hausbesuchen als Fortschritt.
Von solchem Pragmatismus hält Tobias Hobi von der Unabhängigen Beratungsstelle für Sozialhilferecht (UFS) wenig. Der Rechtsanwalt findet deutliche Worte: „Das wäre, wie wenn wir bei einer öffentlichen Hinrichtung nicht über die Hinrichtung selber, sondern nur über die Höhe des Galgens diskutieren würden.“
Die UFS lehnt die Gesetzesänderung dezidiert ab. Zu tief seien die Eingriffe in die Grundrechte, zu schwammig formuliert das Gesetz. So bleibt etwa unklar, wer überhaupt als Sozialdetektiv:in arbeiten darf: Die Vorlage spricht lediglich von „Spezialist:innen“.
Besonders störend findet Hobi, dass Sozialhilfebeziehende mit dem neuen Gesetz über einen längeren Zeitraum hinweg überwacht werden dürfen als dies bei schweren Verbrechen und Vergehen zulässig sei. Bei diesen beträgt gemäss Strafprozessordnung die maximale Observationsdauer einen Monat. Dann muss eine längere Überwachung von der Staatsanwaltschaft genehmigt werden.
Ausserdem gebe es bereits eine Behörde, die für die Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe zuständig sei: die Polizei. Das Schweizerische Strafgesetzbuch regelt den unrechtmässigen Bezug von Sozialhilfe bereits heute. „Warum also errichtet man für Armutsbetroffene eine Parallelpolizei, während es etwa im Baugewerbe aufgrund undurchsichtiger Auftragsvergaben und Schwarzarbeit um weit mehr Geld geht?“, fragt Hobi deshalb.
Wie ein schlechter Groschenroman
Ein Fall aus einer Zürcher Gemeinde zeigt, wie übergriffig und absurd Observationen durch Sozialdetektiv:innen sein können. Das Observationsprotokoll, das die UFS Das Lamm zur Verfügung gestellt hat, liest sich wie ein schlechter Groschenroman. Eine Frau wurde im Herbst 2016 über 34 Stunden von zwei Sozialdetektiv:innen überwacht. Die Vermutung: Der Mitbewohner der Frau sei in Wirklichkeit ihr Lebenspartner. Wenn die Sozialdetektiv:innen das beweisen könnten, würden der Frau Leistungskürzungen drohen.
Mal sitzen sie neun Stunden vor dem Haus der Frau, ohne dass diese in Erscheinung tritt. An anderer Stelle beobachten sie die Stellung der Rollläden und beschreiben das Wetter. Einmal folgen sie der Frau und ihrem Mitbewohner in ein Einkaufszentrum. Dort glauben sie, Zeugen von Intimität zwischen den beiden zu werden – die beiden schauen zusammen einen Parkettboden an. Die Observation endet mit dem lapidaren Kommentar: „Zum heutigen Zeitpunkt können keine weiteren Angaben über den Beziehungsstatus gemacht werden.“
„Eine solche Überwachung kannte man sonst nur aus der DDR“, sagt Hobi über die Methoden der Sozialdetektiv:innen. Viele Armutsbetroffene hätten psychische Probleme, Armut bedeute ständigen Stress. Der Gedanke, vielleicht ständig überwacht zu werden, mache die Situation für viele Armutsbetroffene nur noch schlimmer.
Eine Erfahrung, die auch Robert gemacht hat. Das Sozialamt begegnet ihm mit ständigem Misstrauen. Seit Monaten möchte der zuständige Sozialarbeiter die Firma SoWatch Roberts Wohnung durchsuchen lassen, weil dort wertvolle Gegenstände vermutet werden – obwohl Robert an manchen Tagen nur Fallobst und Haferflocken isst. Das einzig Wertvolle in seinem Haushalt seien die Möbel seiner verstorbenen Freundin. „Der Gedanke, dass eine private Firma ihre Gegenstände durchwühlt, macht mich krank.“
Ein Randphänomen
Aber wie verbreitet ist Sozialhilfebetrug im Kanton Zürich wirklich? Es ist kompliziert. Denn: Hinter dem politischen Begriff „Sozialhilfebetrug“ verstecken sich drei verschiedene Phänomene mit unterschiedlichem Schweregrad.
Am nächsten an das klassische Bild der Sozialhilfebetrüger:innen kommt, wer Leistungen willentlich durch falsche oder unvollständige Angaben erschwindelt. Dabei handelt es sich um kein Kavaliersdelikt: Schweizer:innen werden für solche Vergehen mit Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr bestraft; für Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung bedeutet eine Verurteilung wegen Sozialhilfebetrugs die obligatorische Ausweisung für fünf bis 15 Jahre. Das war 2019 schweizweit bei 108 Personen der Fall.
Wer Sozialhilfe, die für Miete oder Krankenkasse vorgesehen ist, für andere Ausgaben verwendet, muss dieses Geld zurückerstatten; bemüht sich jemand zu wenig um eine Arbeitsstelle, darf die Sozialhilfe gekürzt werden. Beides gilt politisch auch als Missbrauch, ist aber nicht strafrechtlich relevant.
Eine einheitliche Statistik dazu gibt es nicht. Der politische Diskurs rund um „Sozialhilfebetrug“ ist ein Blindflug. Wie Recherchen von das Lamm in neun Städten und Gemeinden im Kanton zeigen, ist die statistische Erfassung lückenhaft bis nicht vorhanden. Die Zahlen, die das Lamm vorliegen, sprechen hingegen eine klare Sprache: Beim sogenannten „Sozialhilfebetrug“ handelt es sich um ein Randphänomen. Die Stadt Adliswil, die gestützt auf kommunale Rechtsgrundlagen weiterhin Sozialdetektiv:innen einsetzt, geht jährlich gegen ein bis zwei Personen strafrechtlich vor.
Und wie sieht es in Zürich aus, in der Stadt also, die den Anstoss für die Gesetzesänderung gegeben hat? 2017 hat das Sozialdepartement in 327 Fällen eine Strafanzeige wegen missbräuchlichen Sozialhilfebezug erstattet. (Das Jahr, in dem eine Strafanzeige erhoben wird, muss nicht das Jahr sein, in dem der Missbrauch festgestellt wurde). Zählt man alle unrechtmässigen Bezüge und Zweckentfremdungen zusammen, konnte 2019 bei 4.2 % der Sozialhilfedossiers eine Art Missbrauch festgestellt werden.
Die Zahl der Strafanzeigen ist nach 2018 zwar leicht gesunken, aber 2020 ist die Stadt erneut gegen fast 400 Personen vorgegangen. Die Erklärung liefert die Medienstelle: Der Lockdown habe zu einer Ressourcenverlagerung geführt, die es erlaube, wesentlich mehr Fälle abzuarbeiten – ganz ohne Observation und Eingriffe in die Grundrechte.
Das passt zu den Erfahrungen, die in Winterthur gemacht wurden: Die zweitgrösste Stadt im Kanton verzichtet vollständig auf Sozialdetektiv:innen. Stattdessen werden Sozialhilfebeziehende systematisch durch eine Revisionsstelle überprüft. Aber auch beim Winterthurer Modell stehen Sozialhilfebeziehende unter Generalverdacht: Die Revisionsstelle fordert periodisch alle Unterlagen bei den Sozialhilfebeziehenden wieder ein, die zur Überprüfung der Bezugsberechtigung benötigt werden. Passen die Angaben nicht, schöpft die Revisionsstelle Verdacht. So konnte 2019 in 6.2 % der Fälle unrechtmässiger Bezug festgestellt werden. In der Folge wurde gegen 53 Personen Strafanzeige erhoben. Die Deliktsumme, um die es ging, beläuft sich auf 1.2 Millionen Franken.
Weil es keine schweizweit gültigen Regeln zum Umgang mit Sozialhilfemissbrauch gibt, fehlt auch eine kantonsübergreifende Statistik dazu. Es gibt deshalb keine Zahlen zum finanziellen Ausmass von Sozialhilfemissbrauch. Wenn wir die Zahlen Winterthurs auf die ganze Schweiz hochrechnen, wäre die Sozialhilfe 2019 schweizweit um 65.6 Millionen Franken betrogen worden. Das klingt nach viel. Doch ein Vergleich hilft bei der Einordnung: Im gleichen Jahr belief sich der durch Wirtschaftsdelikte angerichtete finanzielle Schaden auf 363 Millionen Franken. Dem Fiskus entgehen je nach Schätzung jährlich zwischen fünf und 20 Milliarden wegen Steuerhinterziehungen und Steuervermeidung.
Ein selbstenttarnendes Vorurteil
Woher also kommt der politische Fetisch „Sozialhilfemissbrauch“? Eine mögliche Antwort: klassistische Vorurteile. Wie eine Studie aus dem Jahr 2012 gezeigt hat, sind Personen aus einer höheren Einkommensschicht weniger gesetzestreu als Personen mit tiefem Einkommen. Gleichzeitig werden Delikte wie Tankstellendiebstähle eher erfasst als Aktienkursmanipulationen. Die Soziologin Regula Imhof fasst zusammen: „Bei gewissen Bevölkerungsgruppen schaut man aufmerksamer hin.“
Das zeigt sich auch in der Gesetzgebung: Während Betrug bei Sozialversicherungen und Sozialhilfe kriminalisiert wird, ist die Steuervermeidung von ansässigen Konzernen mit der Unternehmenssteuerreform quasi institutionalisiert worden.
Robert hat inzwischen eine neue Arbeitsstelle gefunden und nicht mehr mit dem Sozialdienst zu tun. Doch eine Angst bleibt: Wenn er den Job verliert, muss er wieder aufs Sozialamt – die Schikanen und das ständige Gefühl der Überwachung möchte er auf keinen Fall nochmals erleben.
Transparenz: Der Autor sitzt für eine regionale Jungpartei im Gemeindeparlament von Olten in einer Fraktion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz noch der SP Olten.
In einer früheren Version schrieben wir fälschlicherweise, dass die Sozialhilfe als Sanktion bis auf den Grundbedarf von 997 Franken gekürzt werden kann. Richtig ist, dass der Grundbedarf um 30% auf 668 Franken gekürzt werden kann.
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