Stell dir vor, es ist Steu­er­wett­be­werb – und die SP macht mit

Die Schweizer Sozialdemokrat*innen weibeln derzeit für die AHV-Steu­er­vor­lage (Staf). Doch wie sieht es mit dem lang erhofften „sozialen Ausgleich” aus? Schlecht, sagt unser Autor. Denn im Endef­fekt ist die Staf eine Umver­tei­lung von unten nach oben — und zemen­tiert den inter­na­tio­nalen Steu­er­wett­be­werb. Eine Analyse. 
Die Finanzierung der AHV ist laut Sorgenbarometer weiterhin das drängendste politische Thema der Schweiz (Foto: Pixabay).

„Die Bericht­erstat­tung zum AHV-Steu­er­deal ist oft zu ober­fläch­lich und trägt nicht viel dazu bei, dass die Vorlage verständ­lich wird”, meinte Finanz­mi­ni­ster Ueli Maurer (SVP) in einem Inter­view mit CH Media. Trotz Pauschal­kritik liegt er nicht ganz falsch. Die Bericht­erstat­tung rund um den zweiten Versuch, die inter­na­tional geäch­teten Steu­er­pri­vi­le­gien in der Schweiz abzu­schaffen, versteift sich darauf, ob es sich bei der Vorlage jetzt um einen Kuhhandel oder doch eher um einen Kompro­miss handelt. Was für eine gute Schlag­zeile herhalten mag, bringt für die Meinungs­bil­dung wenig. Schlimmer noch: Die Bericht­erstat­tung verschleiert, dass es bei der Abstim­mung am 19. Mai 2019 um die ganz grossen Fragen der Politik geht: um inter­na­tio­nale Gerech­tig­keit, um das Zusam­men­leben der Gene­ra­tionen und – nicht zuletzt – um das Verhältnis von Einkommen und Vermögen. Auf linker Seite lehnen Grüne und Jungsozialist*innen die Vorlage ab; die entwick­lungs­po­li­ti­sche Arbeits­gruppe Alli­ance Sud verzichtet auf eine Abstim­mungs­pa­role. Die SP hingegen unter­stützt die Vorlage, beson­ders wegen der AHV-Zusatz­fi­nan­zie­rung — und trotz aller steu­er­po­li­ti­schen Bedenken.

Zwei Fliegen mit einer Klappe? Kaum.

Nebst der lästigen Doppel­nen­nung von Kuhhandel versus Kompro­miss darf in keinem Artikel zur Staf der Hinweis fehlen, dass die Vorlage zwei drin­gende Probleme der Schweizer Politik angeht. Da wären zum einen die inter­na­tio­nalen Steu­er­pri­vi­le­gien für vorwie­gend im Ausland tätige Unter­nehmen. Auf Druck der OECD und der EU muss die Schweiz Steu­er­in­stru­mente für soge­nannte Status­ge­sell­schaften und Holdings auf Bundes- und Kantons­ebene abschaffen. Dafür möchte der Bund den Kantonen neue Instru­mente anbieten, um die betrof­fenen Unter­neh­mungen weiterhin steu­er­lich zu entla­sten. Die Steu­er­op­ti­mie­rung durch die Staf würde die Bundes- und Kantons­kasse rund 2 Milli­arden Franken pro Jahr kosten.

Auf der anderen Seite sei die Staf ein erster Schritt hin zu einer Sanie­rung der Alters­vor­sorge. Laut Finanz­mi­ni­ster Ueli Maurer würde die AHV ohne Staf bereits 2030 bank­rott gehen, denn: „Wir geben heute bereits 180 Millionen Franken mehr aus, als wir einnehmen – und zwar pro Monat!“ Grund dafür ist zum einen der demo­gra­phi­sche Wandel, zum anderen der Struk­tur­wandel der Wirt­schaft. Solche Berech­nungen sind seit Jahren umstritten, aber dazu später mehr.

Der AHV-Teil der Vorlage soll dem Sozi­al­werk jetzt rund 2 Milli­arden pro Jahr einspielen; 1.2 Milli­arden über einen erhöhten Arbeit­geber-/nehmer-Abzug. Die rest­li­chen 800 Millionen würde plan­ge­mäss der Bund in die AHV einspeisen.

Trickle-down econo­mics? Wer gewinnt hier wirklich?

Werden mit der Vorlage also zwei Probleme auf einmal gelöst? Nicht ganz. Dass die Steu­er­pri­vi­le­gien jetzt auf Druck der OECD und der EU abge­schafft werden und durch neue, akzep­tierte Instru­mente ersetzt werden sollen, ist bezeich­nend für die Schweizer Steu­er­po­litik. Seit je her kriti­sieren Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen, Vertreter*innen von Entwick­lungs­län­dern und linke Parteien das Tief­steu­er­re­gime der Schweiz; lange zählte auch die SP zu den kriti­schen Stimmen. Bei den Unter­neh­mens­steuern rangiert die Schweiz im inter­na­tio­nalen Vergleich im unter­sten Drittel. In der Schweiz lässt es sich als inter­na­tio­naler Konzern gut Geld sparen – die entspre­chenden Steu­er­ein­nahmen fehlen dann in jenen Ländern, in denen die eigent­liche Wert­schöp­fungs­kette vonstatten geht.

Die SP führt zwar an, dass durch die neuen, akzep­tierten Steu­er­pri­vi­le­gien eine inter­na­tio­nale Anglei­chung statt­finden wird. Ausserdem würden inter­na­tio­nale Gross­kon­zerne neu gleich behan­delt wie Schweizer KMU, also mehr bezahlen. Das stimmt zwar, aber: Laut einer Studie des Bundes ist zu erwarten, dass andere Länder ihre Gewinn­steuern weit weniger stark senken werden als die Schweiz — unter anderem aus „Vorbe­halten gegen­über Nach­hal­tig­keit von auslän­di­schen Steu­er­re­formen”.  Das race to the bottom wird also mit der Staf nicht etwa ausge­bremst. Viel­mehr bleibt die Schweiz als Zugpferd an der Spitze.

Die bürger­li­chen Befürworter*innen hingegen gehen davon aus, dass die Rech­nung über längere Zeit aufgehen wird: Dank den erneu­erten Steu­er­ge­schenken werden inter­na­tio­nale Unter­neh­mungen weiterhin in der Schweiz bleiben. Dank den sinkenden Unter­neh­mens­steuern auf kanto­naler Ebene sollen mehr Arbeits­plätze entstehen und höhere Löhne ausge­zahlt werden, was wiederum zu mehr Einkom­mens­steu­er­ein­nahmen führen soll. Gleich­zeitig bleibt man weiterhin im inter­na­tio­nalen Vergleich attraktiv. Im Glauben daran planen viele Kantone waghal­sige Senkungen von Unter­neh­mens­steuern und nehmen so empfind­liche Steu­er­ein­bussen in Kauf. Diese bekämpft die SP mit der Begrün­dung, dass die kanto­nalen Umset­zungen das Problem seien und nicht die Staf selber. Das greift zu kurz: Die Staf gibt den Kantonen die Instru­mente für die kanto­nalen Steu­er­stra­te­gien erst an die Hand. Wahr­schein­li­cher ist also, dass sowohl auf Bundes­ebene als auch auf Kantons­ebene über längere Sicht die Steu­er­ge­schenke für inter­na­tio­nale Unter­nehmen durch Senkungen von staat­li­chen Leistungen gegen­fi­nan­ziert werden müssen.

Die meisten Sozialdemokrat*innen stimmen der Staf sowieso nicht aufgrund des Steu­er­teils zu. Viele unter­stützen aber die an den Deal geknüpften 2 Milli­arden AHV-Unter­stüt­zung. Dieses Geld soll die Vorlage der Stimm­be­völ­ke­rung schmack­haft machen. Für die SP ist es der lang ersehnte soziale Ausgleich; für die Gegner*innen eine Politik auf Kosten der Jungen. Die Wahr­heit ist indes komplizierter.

Die AHV – oft totge­sagt, und doch quickfidel

Dass bürger­liche Stimmen die AHV gerne schlecht reden, ist kein Geheimnis. Der Gene­ra­tio­nen­kon­flikt wird nicht nur von den Grün­li­be­ralen hoch­be­schworen, sondern auch in unzäh­ligen Arti­keln der bürger­li­chen Presse. Entgegen aller Prognosen des Bundes­amtes für Sozi­al­ver­si­che­rungen und Bundesrat Ueli Maurer, die jedes Jahr vor einem Finanz­loch in der AHV-Kasse warnen, hat die AHV aber in den letzten elf Jahren nur dreimal mit einem Minus abge­schlossen; achtmal schrieb sie schwarze Zahlen. Was für Finanzbuchhalter*innen ein Zeichen guter Arbeit ist (konser­va­tive Prognosen, posi­tive Rech­nungs­ab­schlüsse), führt in der Politik seit Jahren zu einem Alar­mismus sonder­glei­chen. Die AHV, so scheint es, wird von der Politik schon fast ritua­li­siert totge­sagt — allen Fakten zum Trotz.

Auf der anderen Seite ist der vermeint­liche soziale Ausgleich über die AHV-Zusatz­fi­nan­zie­rung ein Feigen­blatt. Sie ist ein Zuge­ständnis der SP an die bürger­liche AHV-Schwarz­ma­lerei und kein sach­ge­rechter Kompro­miss. Werden durch den Steu­er­teil die Privi­le­gien für Unter­nehmen und Kapi­tal­erträge erneuert, soll der AHV-Teil über einen Lohn­abzug finan­ziert werden. Warum aber sollen Arbeitnehmer*innen die Tief­steu­er­stra­tegie durch höhere Lohn­ab­züge für die AHV kompen­sieren, solange nicht auch Einnahmen aus Aktien und Obli­ga­tionen als Einkommen besteuert werden? Schliess­lich werden es die Arbeit­neh­menden sein, die bei der geplanten kanto­nalen Umset­zung des Steu­er­teils weitere Erhö­hungen bei den Steuern, Gebühren und Kürzungen von Prämi­en­ver­bil­li­gungen und sonstigen Leistungen tragen müssen. Das Nega­tiv­bei­spiel des Kantons Luzern hat diese Entwick­lung zum grossen Teil bereits vorweggenommen.

Sozialer Ausgleich würde bedeuten, Kapi­tal­ein­nahmen stärker zu besteuern; nicht nur, aber auch für eine struk­tu­relle AHV-Reform. Politiker*innen – und im Endef­fekt auch die Stimmbürger*innen – entscheiden, welche Geld­flüsse besteuert und für welche Zwecke sie einge­setzt werden sollen. Dass die Schweiz Arbeits­ein­kommen besteuert, aber weiterhin keine Kapi­tal­ge­winn­steuer oder Finanz­trans­ak­ti­ons­steuer erhebt, ist ein Zeichen der Vormacht­stel­lung und des poli­ti­schen Lobby­ismus von Unter­nehmen und Wohl­ha­benden in der Schweiz. Da hilft auch die in der Staf vorge­se­hene, mode­rate Gegen­fi­nan­zie­rung durch eine Divi­den­den­be­steue­rung wenig. Ein Ja zur Vorlage zemen­tiert die bestehenden Verhält­nisse sogar weiter. Berech­nungen zeigen, dass die Staf Haus­halten mit Einkommen in den ober­sten zehn Prozent insge­samt rund 170 Millionen einbringt; die rest­li­chen 90 Prozent verlieren rund 100 Millionen. Oder anders gesagt: eine Umver­tei­lung von unten nach oben.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Es stellt sich die Frage: Warum sieht sich die SP gezwungen, den Steu­er­teil der Vorlage mit einer AHV-Finan­zie­rung schön­zu­reden? Konse­quente Umver­tei­lung, Gerech­tig­keit zwischen den Gene­ra­tionen, aber auch inter­na­tio­nale Soli­da­rität sind eigent­lich das ideo­lo­gi­sche Funda­ment der Sozi­al­de­mo­kratie; die Staf scheint da schräg in der Land­schaft zu stehen. Als Antwort auf diese Kritik hört man: „Nehmen wir, was wir bekommen.“ Was nach einer Kapi­tu­la­tion vor bürger­li­chem AHV-Pessi­mismus und nach einer unin­spi­rie­renden Botschaft klingt, scheint anzu­schlagen: Neuste Umfragen zeigen, dass die Staf wohl komfor­tabel ange­nommen wird.

Mit der Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive und der 99%-Initiative sind bereits die näch­sten Vorhaben in den Start­lö­chern, welche die Fragen von inter­na­tio­naler Gerech­tig­keit und dem Verhältnis von Einkommen und Kapital ins Zentrum rücken. Wie aber kann die SP glaub­haft die Steu­er­flucht und die ausbeu­te­ri­schen Prak­tiken von Gross­kon­zernen kriti­sieren, wenn sie deren steu­er­po­li­ti­schen Rahmen­be­din­gungen unter­stützt? Wie kann sie über­zeu­gend die Rück­ver­tei­lung von Kapi­tal­ein­kommen zu den Löhnen fordern, wenn sie eine Vorlage unter­stützt, die trotz sozialem Ausgleich unter dem Strich von unten nach oben umver­teilt? Es wird sich zeigen, ob die Wähler*innen in Zukunft den einge­schla­genen poli­ti­schen Prag­ma­tismus belohnen oder die ideo­lo­gi­sche Inkon­se­quenz abstrafen werden.

Trans­pa­renz: Der Autor sitzt für eine regio­nale Jung­partei im Gemeind­par­la­ment von Olten in einer Frak­tion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz, noch der SP Olten. 


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