Im Akademischen Gymnasium in Wien hängt seit Dezember 1998 eine Gedenkplatte, auf der zu lesen steht:
„Wir erinnern uns an jene Schüler und Lehrer, die 1938 diese Schule verlassen mussten, weil sie Juden waren.“
Wie kann allein dieses eine Merkmal, jüdisch zu sein, zur Deportation und schliesslich zum Tod führen?
Die offensichtliche Antwort: gar nicht. Jüdisch zu sein ist keine Todesursache, Antisemitismus hingegen ein Motiv.
Die Menschen, deren gedacht werden sollte, starben nicht aufgrund ihres Jüdischseins. Sie starben, weil ein antisemitisches System ihre Verfolgung und Ermordung ermöglichte und legitimierte. Dieses System entwickelte eigens eine rassistische Taxonomie, die auf vorgeblich wissenschaftlichen Erkenntnissen basierte, um zu bestimmen, wer leben darf und wer sterben sollte, wer Besitz haben und wer enteignet werden durfte, wessen Persönlichkeitsrechte respektiert wurden und wer ausgelöscht werden konnte.
Unser Blick ist mittlerweile geschulter für die Täter-Opfer-Umkehr, für verdächtige Passiv-Konstruktionen, für Victim-Blaming. Besonders die Aufklärungsarbeit in Sachen Berichterstattung über Polizeigewalt im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung („Teenager von Kugel getroffen“) und bei Femiziden („Sie musste sterben, weil sie sich trennte“) hat viel geleistet, das kollektive Bewusstsein für diese Mechanismen zu sensibilisieren.
Woran die Analyse von Unterdrückungsmechanismen im öffentlichen Bewusstsein jedoch weiterhin krankt: Sie nimmt das Warum wichtiger als die Frage nach dem Wozu; sie stellt die Gründe über die Konsequenzen.
Nirgends zeigt sich dieses Manko aktuell so stark wie darin, dass wir Transfeindlichkeit weiterhin als Nebenprodukt von reaktionärem Sexismus darstellen. Wir sind unfähig, sie stattdessen als Brechstange zu begreifen, die sich gezielt gegen feministische Errungenschaften richtet und diese zu zertrümmern sucht.
Neue Narrative für alte Vormachtstellung
In einer Welt, in der hormonelle Verhütung Personen, die schwanger werden können, mehr Selbstbestimmung verschafft, und die „no-fault divorce“ es Paaren erleichtert, sich ohne Schuldzuweisung zu trennen; in einer Welt mit Kinderrechten und Diskussionen um ein früheres Wahlalter, mit enormen Erfolgen von Emanzipationsbewegungen von Personen of Colour, Menschen mit Behinderung und anderen marginalisierten Gruppen – in dieser Welt wurde die Herrschaft einiger Männer über alle anderen signifikant schwieriger zu verteidigen.
Konfrontiert mit dieser Bedrohung, arbeiten sich reaktionäre Kräfte seit Jahrzehnten daran ab, neue Narrative für die geschlechtsbasierte Unterwerfung zu liefern. Der damalige Kardinal Ratzinger und andere konservative katholische Grössen prägten und verbreiteten ab den 1990ern den Kampfbegriff der „Gender-Ideologie“, unter dem sie zusammenfassten, was ihrer Ansicht nach die einander ergänzende Verschiedenheit von Mann und Frau untergraben könnte – insbesondere Verhütung, Abtreibung und Rechte für queere Personen. Die Bekämpfung dieser Ideologie ist seitdem auf der erklärten Agenda des Vatikans.
Parallel dazu flossen unvorstellbare Ressourcen in das Vorhaben, vermeintliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern auch ohne religiöse Argumente zu zementieren. Es begann eine jahrzehntelange pop- bis pseudowissenschaftlich unterfütterte Mythologisierung der Vorstellung, die Trennung in zwei Geschlechter wäre ein biologisch bestimmtes Schicksal, das alle Konflikte rund um Sexismus erklären würde.
Sichtbar wird dies oberflächlich etwa in Welterfolgen von Bestsellern wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“. Sie erklären jedes sexistische Klischee mit einem vermeintlich evolutionären Vorteil, etwa dass die steinzeitliche Teilung in Jäger und Sammlerinnen dazu führte, dass es keine tiefgreifenden Freundschaften unter Männern gibt.
Weitaus aggressiver wird im aktuellen Schulterschluss zwischen radikalem Feminismus und Neofaschismus versucht, Geschlechtergrenzen zu zementieren. Beide argumentieren mit einer unabänderlichen geschlechtsspezifischen Essenz, ob unter dem progressiv anmutenden Label von „weiblicher Sozialisierung“ oder unter dem Schlagwort „traditioneller Weiblichkeit“.
Ständige Rechtfertigung lenkt ab
Konfrontiert mit einer Wand an Fehlinformationen und Propaganda tappen gerade queerfeministische Bemühungen in die reaktionäre Falle und verausgaben sich in einer defensiven Erklärhaltung, die die US-amerikanische Schriftstellerin und Intellektuelle Toni Morrison in Bezug auf antirassistische Arbeit demonstriert:
“The function, the very serious function of racism is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining, over and over again, your reason for being. Somebody says you have no language and you spend twenty years proving that you do. Somebody says your head isn’t shaped properly so you have scientists working on the fact that it is. Somebody says you have no art, so you dredge that up. Somebody says you have no kingdoms, so you dredge that up. None of this is necessary. There will always be one more thing.”
Morrison nennt Ablenkung als Hauptfunktion von Rassismus. Die verzweifelte Bemühung, den unerreichbaren Ansprüchen zu genügen, die an die Betroffenen gestellt werden, um sich als würdig zu beweisen, hält sie davon ab, sich ihrem eigenen Leben und ihrer eigenen Arbeit widmen zu können.
Unsere aktivistische politische Arbeit sollte daher nicht darin liegen, die Existenz von Geschlechterunterschieden zu debattieren und auf die Verhandelbarkeit der Menschenwürde einzusteigen. Stattdessen müssen wir aufzeigen, wie Transfeindlichkeit benutzt wird, um Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftlichen Fortschritt und individuelle Autonomie zu untergraben.
Ganz egal, mit welchen Methoden und Argumenten die Grenzziehung zwischen den Geschlechtern festgelegt, demontiert oder verhandelt wird – ob psychoanalytisch, evolutionsbiologisch oder kulturhistorisch; ob wir die Gründe der Hierarchie in der Gebärfähigkeit, auf dem Y‑Chromosom, im Testosteron, im Phallus oder in der Sozialisierung vermuten – nichts daran erklärt, wer ein Interesse daran hat, diese ausbeuterische Hierarchie beizubehalten, und wozu.
Jede Anschuldigung ein Geständnis
Wie und mit welchen Absichten das geschieht, ist nicht schwierig herauszufinden, folgt man der Devise von US-Rechtswissenschaftler Jamie Raskin, Anklageführer im zweiten Amtsenthebungsverfahren gegen Trump. „Jede Anschuldigung ist ein Geständnis“, sagte Raskin in Bezug auf Trumps Aussage, die Biden-Administration bediene sich Gestapo-Methoden. Lesen wir die häufigsten Vorwürfe gegenüber trans Menschen und „Gender-Ideologie“, wie sie in jedem Beitrag von sogenannten genderkritischen Stimmen nachzulesen sind, unter diesen Vorzeichen, ergibt sich ein klares Bild davon, wohin Transfeindlichkeit führt:
„Frauen werden unsichtbar gemacht“, heisst es häufig dann, wenn man nichtbinäre Personen anerkennt oder in präzisen, inklusiven Formulierungen auch schwangere trans Männer miteinbezieht. Unsichtbar gemacht werden Frauen tatsächlich, aber weil politische Parteien von anderen feministischen Forderungen in Wahlkämpfen ablenken, indem sie Transfeindlichkeit konstant bespielen. Damit gefährden sie die Existenz von trans Frauen und blenden zugleich die Anliegen von Frauen mit Behinderung, Frauen of Colour, armen und migrantischen Frauen aus.
Auch der Vorwurf, dass die Debatte um trans Inklusion zu Gewalt führt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aber dies geschieht nicht etwa, weil trans Frauen gegenüber cis Frauen in Gefängnissen, Toiletten und Umkleiden übergriffig werden. Sondern durch Attacken von cis Männern und cis Frauen, die sich gegen vermeintliche trans Frauen richtet. Eine angebliche Bedrohung durch trans Frauen dient als Vorwand, um gender-nonkonformen Frauen Gewalt anzutun und sie aus dem öffentlichen Leben zu verbannen.
Besonders entlarvend ist die Angstmache, Kinder würden in ihrer sexuellen und geschlechtsspezifischen Entwicklung manipuliert und behindert. Dem ist zuzustimmen: Kinder und Jugendliche sind heute stark manipulativen Einflüssen ausgesetzt. Aber nicht, weil sie mit queeren Vorbildern oder Dragqueens konfrontiert werden, sondern weil bürgerliche und rechte Parteien eine inklusive Aufklärung, die hauptsächlich sexuellen Missbrauch verhindern sollte, unter dem Kampfbegriff der Frühsexualisierung verteufeln. Weil rechte Propaganda Eltern und Pädagog*innen gegen die Unterstützung von queeren Kindern und Jugendlichen aufhetzt. Oder weil transfeindliche Gruppen medizinisches Fachpersonal belästigen und bürgerliche Medien etablierte Behandlungsformen wie Pubertätsblocker unfundiert anprangern.
Dieselben Stimmen behaupten: Wer trans Menschen anerkannt, leugnet wissenschaftliche Erkenntnisse und medizinische Expertise. Wissenschaft und Expertise werden allerdings nicht geleugnet, indem man zulässt, dass Menschen transitionieren oder indem man die Komplexität und Vielschichtigkeit von körperlichem Geschlecht anerkannt. Sie wird geleugnet, wenn unbeteiligte Lai*innen ohne jegliche medizinische, wissenschaftliche oder sonstige inhaltliche Expertise, wie eine berühmte Kinderbuchautorin oder eine Gruppe von transfeindlichen Eltern, genug Druck auf Politik und Rechtsprechung ausüben können, um über die Zukunft von trans Menschen zu bestimmen. Und sich dabei noch bereichern, indem sie mit hohen Gagen aus transfeindlichen Vorträgen ihren Lebensunterhalt verdienen.
Kampf an der Sollbruchstelle
Was geschieht, wenn diese Entwicklung nicht aufgehalten wird? Wenn die transfeindliche Bewegung ihre genozidale Tendenz, die ihr vom Lemkin Institut für Genozidprävention attestiert wird, bis ins Äusserste verfolgt? Wäre das Gewaltpotenzial in der Vernichtung von trans Menschen erschöpft? Mitnichten.
Transfeindlichkeit gibt es nicht, weil es trans Menschen gibt. Transfeindlichkeit existiert, weil die patriarchale Ordnung postuliert, dass es unhintergehbare, angeborene, wesentliche Unterschiede zwischen zwei Geschlechtern gibt und dass diese grundlegend für die Organisation der Gesellschaft sind.
Sobald sich Menschen jedoch ihrem geschlechtsspezifischen Schicksal entziehen können, sobald sie die Grenzen überschreiten oder auflösen können, schwankt dieses System. Ein Patriarch ist nichts ohne die ihm untergeordnete Familie. Die Kontrolle über Fortpflanzung und damit über weitere Arbeitskraft, über die ideologische Prägung der kommenden Generation und den Zugang zu unbezahlter Care- und Haushaltsarbeit verteidigt er daher mit eiserner Faust.
Die Drohung ist laut und deutlich: Wer Rechte und Autonomie verlangt, muss existierende Schutzvorkehrungen aufgeben. „Wenn Frauen und Männer gleichberechtigt sind, dann darf ich Frauen schlagen“ wird politisch zu „Wer gleichen Lohn und gleiche Rechte verlangt, muss auf Frauenquoten und niedrigeres Rentenalter verzichten und wird zum Militärdienst eingezogen“ oder „Wer trans Menschen Menschenwürde zugestehen möchte, muss damit rechnen, von cis Männern, die sich als Frauen ausgeben, missbraucht zu werden“.
Es ist nicht möglich, auf trans Menschen zu zielen, ohne cis Menschen zu treffen. That’s not a bug. That’s a feature. Was zunächst wie eine zufällige Nebenwirkung wirken mag, ist Absicht.
Transfeindlichkeit erlaubt es, Minderjährigen und auch jungen Erwachsenen die körperliche Autonomie abzusprechen, Lehrpersonen zu Kompliz*innen autoritärer Eltern zu machen und sie auszuspionieren.
Transfeindlichkeit ermöglicht es, rassistisches und homophobes Gedankengut salonfähig zu verpacken, Schwarze Sportler*innen aufgrund ihrer angeblichen Maskulinität abzustrafen und sie demütigender, invasiver Kontrollen zu unterziehen.
Transfeindlichkeit lässt es zu, lesbische Frauen in öffentlichen Toiletten und Umkleiden zu verprügeln, die gleichgeschlechtliche Ehe abzuschaffen und inklusiven Sexualunterricht zu verbieten.
Transfeindlichkeit gestattet es cis Männern, in Frauenschutzräume einzudringen, Frauen und Mädchen verbale und körperliche Gewalt anzutun, mit dem Entzug von Schutzmechanismen zu drohen, und sich dabei noch als Feministen zu gerieren.
Transfeindlichkeit ist ein Mittel, den weissen neoliberalen Mittelschichtsfeminismus am Leben zu halten, der seine Vormachtstellung durch eine Komplizenschaft zum Patriarchat sichert. Dieser Feminismus erkauft sich den Aufstieg einiger weniger privilegierter Individuen im bestehenden System, indem es Kinder, queere Personen, Personen of Colour und wirtschaftlich prekarisierte Gruppen weiterhin unterjocht.
Wir können all diesen Formen von Diskriminierung erst etwas entgegensetzen, wenn wir begreifen, dass sich ihre Logik nicht aus den Merkmalen der diskriminierten Gruppen, sondern aus dem Profit erschliesst, der aus der Diskriminierung zu schlagen ist.
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