Zürich, Central: Sie sind überall. An den geschwungenen Dächern des neu gestalteten Verkehrsknotenpunkts wuselt es geradezu von ihnen. Über 20 Überwachungskameras filmen jeden Zentimeter des ÖV-Knotenpunkts. Und das Central ist keine Ausnahme: Die Anzahl Überwachungskameras in der Stadt Zürich hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Weitestgehend ausgeblieben ist hingegen öffentlicher Protest dagegen. Man hat sich damit abgefunden, dass sie zum Stadtbild gehören. Und dass man eben gefilmt wird, wohin man auch geht: an den Haltestellen, rund um Schulhäuser, in den Strassen. Wie viele Kameras es genau sind, das weiss niemand. Aber dazu später mehr.
„Die Videoüberwachung dient der Sicherheit unserer Fahrgäste und Mitarbeitenden, sowie dem Schutz unserer Infrastruktur“, sagt der Rechtsdienst des Zürcher Verkehrsverbunds (ZVV) auf Anfrage. Der ZVV betont aber, dass mit den erhobenen Daten verantwortungsvoll umgegangen werde. Nur ausgewählte Mitarbeiter*innen hätten Zugang. Und natürlich im Schadenfall auch die strafverfolgenden Behörden von Bund und Kanton – also etwa die Kantonspolizei. Auf Anfrage auch der Nachrichtendienst. Der Verkehrsverbund kann sogar ein Datenschutzgütesiegel vorweisen: GoodPriv@cy.
Was bringt’s?
„Videoüberwachung hat insbesondere eine präventive Wirkung und erhöht das Sicherheitsempfinden der meisten Reisenden“, erklärt der Pressesprecher der SBB, Reto Schärli, dem Lamm, angesprochen auf die schätzungsweise 200 Kameras im Zürcher Hauptbahnhof. Diese präventive Wirkung sei wissenschaftlich belegt, sagt Johannes Ullrich, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich. In Situationen, in denen wir uns beobachtet fühlen, seien wir prosozialer und wichen weniger von sozialen Normen ab. Er erläutert die Wirkung anhand eines Experiments: „Sie nehmen ein Augenpaar, ein ganz normales, gebasteltes Augenpaar, und Sie hängen das in einem WC auf. Es ist erwiesen, dass sich danach mehr Personen die Hände waschen werden als ohne.“
Die erhöhte Normkonformität, die mit Überwachung einhergeht, betont auch Christoph Müller. Er ist Soziologe, war aktiv bei den Big Brother Awards, ist Gründungsmitglied des Vereins grundrechte.ch und hat mehrere wissenschaftliche Artikel zum Thema publiziert. Die präventive Wirkung von Kameras relativiert er aber deutlich: Überwachung bewirke vor allem eine Verlagerung. Etwa von gut überwachten an weniger überwachte Orte. Oder von sichtbaren Delikten, wie etwa Raubüberfällen, auf Delikte, die kaum überwacht werden können, wie zum Beispiel Taschendiebstähle. „Eine Kamera kann zwar abschreckend wirken, sie kann das Gefühl der subjektiven Sicherheit erhöhen und sie kann manchmal ein Mittel zur Aufklärung von Straftaten sein“, sagt Christoph Müller. „Aber letztlich schützt eine Kamera vor rein gar nichts.“
Hinter der zunehmenden Videoüberwachung würden vielmehr politische Gründe stecken, sagt der Soziologe. Es gehe bei der Videoüberwachung um Macht und um Kontrolle; darum, wer was über wen weiss. „Überwachung führt zu einer konformeren und gleichförmigeren Gesellschaft, die immer weniger Abweichungen zulässt.“
Diese normierende Wirkung betrifft alle. Überwachung hat einen Einfluss darauf, wie sich Personen verhalten – egal, ob sie ‚etwas zu verbergen haben‘ oder nicht. Gläserne Bürger*innen sind konformere Bürger*innen, das bestätigt auch der Psychologe Johannes Ullrich.
In Zürich werden die Bürger*innen scheinbar unaufhaltsam transparenter. Von der Überwachung – ihrer Gesetzeslage und ihren Urheber*innen – kann das nicht behauptet werden: Während auf der einen Seite der Kameralinse Personen dazu genötigt werden, immer mehr von sich preiszugeben, bleibt die andere Seite erschreckend dunkel.
Die gesetzliche Grundlage: ein Flickenteppich
Zunächst liegt das daran, dass die gesetzliche Grundlage der Überwachung kaum überschaubar ist. Ein kurzer, oberflächlicher Überblick:
Die Grundlage bildet das Bundesgesetz über den Datenschutz (DSG). „Das Bundesgesetz über den Datenschutz ist anwendbar auf Organe des Bundes sowie Private“, erklärt der Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich, Bruno Baeriswyl. Wenn Privatpersonen oder Unternehmen Überwachungskameras einsetzen wollen, gilt also das DSG. Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte (EDÖB) beaufsichtigt die Einhaltung des DSG. „Kantonale Datenschutzgesetze — im Kanton Zürich das Informations- und Datenschutzgesetz (IDG) – gelten für Gemeinden und kantonale Stellen“, sagt Baeriswyl. Der kantonale Datenschutzbeauftragte ist hier die Aufsichtsinstanz. Es sei denn, die Gemeinden haben eigene Datenschutzbeauftragte. Das trifft auf die Städte Zürich und Winterthur zu.
Und das ist nur ein Teil des Flickenteppichs. Wer wie überwachen darf, ist zudem festgehalten in diversen Verordnungen und weiteren Gesetzen: etwa in Polizeigesetzen, im Gesetz über den Nachrichtendienst oder in der Verordnung über die Videoüberwachung im öffentlichen Verkehr. Einer Verordnung, die 2010 in Kraft trat und ausschliesslich Videoüberwachung von Verkehrsbetrieben regelt. Sie dient den SBB und dem ZVV als Grundlage ihrer Überwachung.
Ein veralteter Flickenteppich
Die Gesetzeslage ist aber nicht nur komplex, sie ist auch veraltet. Die Gesetze können mit dem technologischen Fortschritt nicht mithalten. „Gesetzesrevisionen sind in einem demokratischen Prozess nun mal langwieriger als der technologische Fortschritt“, sagt Silvia Böhlen, Sprecherin des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten. Konkret: Das DSG, das zurzeit revidiert wird, stammt von 1992. Dem Jahr, als zum ersten Mal in der Geschichte eine Textnachricht an ein Mobiltelefon gesendet wurde. Seither hat sich die Gesellschaft radikal verändert. Es wurden Möglichkeiten der Überwachung geschaffen, die früher kaum vorstellbar waren. Das Datenschutzgesetz gilt noch immer. Zurzeit wird es einer Totalrevision unterzogen. Der Abschluss der Beratungen des Entwurfs zur Totalrevision von 2017 durch die eidgenössischen Räte ist jedoch noch offen.
Dass das Gesetz die technologische Entwicklung nicht antizipieren konnte, sei aber schon beim Verfassen des DSG klar gewesen, sagt Silvia Böhlen: „Das Gesetz ist deshalb bewusst technologieneutral formuliert. Dadurch bleibt das Gesetz offen für weitere technologische Entwicklungen und verhindert keine Innovationen.“ Damit sollte das Gesetz länger aktuell bleiben. Tatsächlich sagt das DSG nichts Konkretes über verschiedene Überwachungsformen wie etwa die Videoüberwachung aus. Veraltet ist es trotzdem.
Beispiel Gesichtserkennung: „Der Nachrichtendienst äussert sich nicht zu seiner operationellen Tätigkeit.“
Denn trotz bester Absicht, das Gesetz technologieneutral zu verfassen: Gewisse Technologien liessen und lassen sich nicht angemessen antizipieren. Ein Beispiel dafür ist die Gesichtserkennung. Es gibt keine gesetzliche Grundlage, die den Einsatz dieser Technologie explizit regelt. Aber: „Wenn etwa die Kantonspolizei Gesichtserkennung einsetzen möchte, dann bedürfte das einer gesetzlichen Grundlage – weil die Technologie den Abgleich mit einer Datenbank beinhaltet“, so Bruno Baeriswyl.
Das stimmt aber nur bedingt. Denn ob auch der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) auf den Einsatz der Technik verzichtet, ist unklar. Für die Wahrung wichtiger Landesinteressen, etwa zum Schutz des Werk‑, Wirtschafts- und Finanzplatzes Schweiz, könnte er wohl gestützt auf das Bundesgesetz über den Nachrichtendienst auf entsprechende Software zurückgreifen. Die Kommunikationschefin des NDB, Isabelle Graber, antwortet auf die Frage von das Lamm, ob der Nachrichtendienst Gesichtserkennungssoftware einsetze: „Der NDB äussert sich nicht zu seiner operationellen Tätigkeit.“ Silvia Böhlen, die Sprecherin des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten, sagt: „Wir haben keine Kenntnis davon, ob der NDB Gesichtserkennungssoftware einsetzt.“
Hernâni Marques vom Chaos Computer Club Schweiz, dem hiesigen Ableger der grössten Hackervereinigung Europas, warnt zudem davor, dass auch bei anderen Behörden wie etwa der Polizei kaum überprüfbar ist, ob sie die Vorschriften einhalten: „Um Gesichtserkennung durchzuführen, braucht es nur ein Programm, in das man die entsprechenden Aufzeichnungen speist“, sagt er. „Es ist kaum möglich, das nachzuverfolgen.“ (Hier geht’s zum ganzen Interview) Den Bürger*innen bleibt nichts anderes übrig, als auf das Ehrenwort der Behörden zu vertrauen. Vertrauen, das Hernâni Marques nicht aufbringen will: „Spätestens seit dem Fichen-Skandal müsste allen klar sein, dass der Staat die ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Überwachung nutzen wird, wenn er es als notwendig erachtet.“
Am Beispiel der Gesichtserkennung wird deutlich, wie intransparent die exzessive Überwachung von den Behörden tatsächlich betrieben wird: Das Datenschutzgesetz wird vom Gesetz über den Nachrichtendienst ausgehebelt; auch sonst wird die Anwendung der Technologie nur hinsichtlich des Abgleichs mit Datenbanken geregelt und nicht explizit, dafür ist sie zu neu – und kontrollieren lässt sich der Einsatz der Technologie sowieso nicht. Wer sich auf die Suche nach den Grenzen der Überwachung begibt, stösst erschreckend schnell an Grenzen.
Politische Kontrolle? Ein „bürokratischer Papiertiger“
Und diese Intransparenz scheint nicht unerwünscht. Mindestens in Zürich. 2016 entschied sich der Kantonsrat dagegen, ein Register der im öffentlichen Raum installierten Kameras zu erstellen, das auf Anfrage, etwa von Kantonsrät*innen, einsehbar wäre. Das wäre bloss ein „bürokratischer Papiertiger“, meinte der zuständige Regierungsrat Mario Fehr in der Debatte. Der bürgerliche Kantonsrat schloss sich seiner Meinung an. Wie viele Kameras in Zürich installiert sind, weiss deshalb niemand, auch Datenschützer Baeriswyl nicht. Wie die einzelnen Kameras miteinander vernetzt sind, weiss laut Kantonsrat Rafael Steiner auch niemand. Es müsse möglich sein, sich im Kanton Zürich von Punkt A nach Punkt B zu bewegen, ohne dass die Polizei das wisse, sagte er im Parlament. Alles andere sei ein Polizeistaat. „So weit sind wir zum Glück nicht, oder doch?“ Zur Erinnerung: Als Kantonsrat müsste Rafael Steiner eigentlich politische Kontrolle über den Einsatz von Kameras üben. Er tappt derweil genauso im Dunkeln wie wir.
Vertrauen in den guten Herrscher
Eine Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die stetige Zunahme der Überwachung scheint unaufhaltsam. Auch, weil öffentlicher Widerstand kaum wahrnehmbar ist. Überwachung wird heute nicht mehr als Ausdruck von Macht wahrgenommen, sondern als Notwendigkeit, sagt der Psychologe Johannes Ullrich. „Ich glaube, dass eine Normalisierung stattgefunden hat.“ Man nehme es als gegeben an, dass Überwachung immer da ist; man habe sich damit arrangiert, dass es halt nicht anders gehe. Gemäss dem Soziologen Christoph Müller übe Überwachung in den Augen der Öffentlichkeit höchstens Macht über die anderen aus, über die Bösen: „Im Sinne des guten Herrschers.“
Dieser gute Herrscher wird derweil immer mächtiger. Dass er sich dabei kaum in die Karten blicken lässt, interessiert indes kaum jemanden. Zu gross ist das Vertrauen. Dass sich seine Vorstellung des Guten nicht mit der eigenen Vorstellung des Guten decken könnte, das scheint für die meisten unvorstellbar. Irgendwie verständlich. Denn erst wenn diese Einigkeit einmal zerbricht, wird spürbar, dass es für alles andere schon zu spät ist.
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