„Unsere Realität ist eine Dystopie – aber das muss nicht so bleiben”

Milli­ar­däre wollen den Mars besie­deln und bauen Luxus­bunker für den Ernst­fall. Doch warum gelten dysto­pi­sche Zukunfts­pläne als reali­stisch, während soziale Utopien belä­chelt werden? Autorin Kübra Gümüşay über die Skan­da­li­sie­rung der Welt, wünschens­werte Visionen und nütz­liche Scham. 
Die Autorin Kübra Gümüşay erforscht alternative Zukünfte, reale Utopien und die Politik der Imaginationen. (Bild: zVg)

Das Lamm: Kübra Gümüşay, Sie haben mal geschrieben: „Wer antritt, die Miss­stände unserer Gesell­schaft zu bekämpfen, muss in zwei Welten leben. In der Welt, wie sie ist, und in der Welt, wie sie sein könnte, einer Utopie.“ Wie erleben Sie diesen Spagat?

Kübra Gümüşay: Der Spagat wird einem beson­ders deut­lich, wenn man in Verant­wor­tung für andere Menschen ist, insbe­son­dere für Kinder. Es ist nochmal ein beson­derer Stretch, wenn es ein rassi­fi­ziertes Kind ist, das Ausgren­zung erfahren wird. Du musst einer­seits die Welt erklären, wie sie derzeit ist, aber auch gleich­zeitig den Blick dafür öffnen, dass es anders sein könnte. Zugleich sollst du diesem jungen Menschen die Werte mitgeben, die er braucht, um durch sein Handeln diese andere Welt auch selbst zu erschaffen. 

Müssen wir zuerst aner­kennen, wie ernst die Lage ist und was funda­mental falsch läuft, bevor wir uns die Utopie ausmalen?

Ich war in den letzten Jahren sehr viel auf Recherche zu soge­nannten „realen Utopien“ – also Orten in der Gegen­wart, in denen Menschen bereits Ideale und Werte umsetzen, die in der Gesamt­ge­sell­schaft nicht etabliert sind. Eine Beob­ach­tung des US-ameri­ka­ni­schen Sozio­logen Erik Olin Wright ist, dass solche realen Utopien häufig an den Rändern unserer Gesell­schaft zu finden sind. In einem Inter­view wurde ich dann von einer Jour­na­li­stin gefragt, ob es auch reale Dysto­pien gebe. Zuerst fand ich die Frage irri­tie­rend, aber dann wurde mir klar, dass wir in einer realen Dystopie leben. Die Anzei­chen sind überall sichtbar. 

Die Skan­da­li­sie­rung der Welt muss einher­gehen mit dem Öffnen des Blickes dafür, was statt­dessen sein könnte.

Wo sehen Sie die reale Dystopie heute beson­ders deutlich?

Ist es keine dysto­pi­sche Gegen­wart, wenn in bestimmten Teilen der Erde ein würde­volles Leben verun­mög­licht wird? Es gibt so viele Beispiele: Statt ein würde­volles Leben in Frieden und Gerech­tig­keit für alle zu ermög­li­chen, fliessen derzeit Milli­arden in die Aufrü­stung, in die aktive Verwü­stung und Zerstö­rung von Mensch und Umwelt, in Kriegsverbrechen. 

Aber wir müssen gar nicht weit weggucken. Es reicht eigent­lich schon ein Spazier­gang zu den Haupt­bahn­höfen in deut­schen Gross­städten: Ist es nicht unge­heu­er­lich, dass in einer der reich­sten Indu­strie­na­tionen Menschen unfrei­willig obdachlos sind? Dass sie nicht nur ohne Obdach leben, sondern auch noch systematisch ausge­grenzt und krimi­na­li­siert werden, selbst durch absurde Bana­li­täten wie eine Archi­tektur, die eigens Park­bänke mit Zwischen­lehnen kreiert, damit Bedürf­tige sich nicht hinlegen können? 

Diese reale Dystopie ist die Luft, die wir atmen. Sie ist unsere Normalität.

Klimajournalist*innen werden viel mit dem Anspruch konfron­tiert, Erzäh­lungen über die Welt in der Klima­krise müssten konstruktiv sein. Sollten wir reale Dystopie nicht auch klar benennen?

Ja klar! Zu skan­da­li­sieren was ist, ist ein wich­tiger Schritt, um über­haupt eine andere Welt denken zu können. Was ich schwierig finde, ist, wenn man bei diesem ersten Schritt verweilt. Die Skan­da­li­sie­rung der Welt muss einher­gehen mit dem Öffnen des Blickes dafür, was statt­dessen sein könnte. Ohne das verfallen wir in Ohnmacht. 

Wer schon einmal mit Menschen gespro­chen hat, die in Kriegs­ge­bieten leben mussten, weiss: Es ist nicht so, dass die Menschen dort die ganze Zeit unglück­lich vor sich hinve­ge­tieren. Da findet Freude statt und Tanz und Kunst – trotz allem. Menschen sind adaptiv, sie können trotz widrig­ster Umstände Schön­heit erschaffen. Das zeigt uns, wie Wider­stän­dig­keit auch aussehen kann.

In den Klima­wis­sen­schaften richtet sich der Blick oft in die Zukunft und beleuchtet dysto­pi­sche Szena­rien im Jahr 2050, oder zum Ende des Jahr­hun­derts. Welche Wirkung hat das?

Die Frage ist doch: Wie sehr muss es brennen, damit ein Zustand als Notstand erkannt wird? Es gibt immer mehr Daten, die die Realität belegen, aber es findet keine ausrei­chende Verän­de­rung in der Art und Weise statt, wie poli­tisch entschieden und gehan­delt wird. Mehr Daten und mehr Skan­da­li­sie­rungen allein ändern leider nichts.

Warum gilt es als utopisch, also unmög­lich, über eine Welt ohne Grenzen, Polizei und Gefäng­nisse nach­zu­denken, während ein Busi­ness­plan zur Bevöl­ke­rung des Mars als reali­stisch betrachtet wird?

Viele Menschen welt­weit leben ja bereits heute ganz real in einer Welt, die zerfällt. Das machen Sie in Ihrer Arbeit immer wieder deutlich.

Menschen, die soziale Umwäl­zungen oder Migra­tion durch­lebt haben, schlicht jede Person, die aus einem Raster gefallen ist, weiss um die Verän­der­lich­keit der Welt. Es ist absolut reali­täts­fern, die aktu­elle Krise als „neue Heraus­for­de­rung“ zu betrachten. Das kann nur jemandem einfallen, der sich aus dem Lehn­sessel heraus, fernab jegli­cher Praxis, ledig­lich theo­re­ti­sche Gedanken macht.

Die Diskus­sion um die Zukunft scheint momentan genau diesen Männern zu gehören, die aus einem solchen Lehn­sessel heraus die Welt betrachten, oder?

Einer Vision wie der von Elon Musk – etwa die Besied­lung des Mars, im Grunde eine Dystopie – wird nicht konse­quent mit Abwehr begegnet, statt­dessen zieht sie gar Milli­ar­den­in­ve­sti­tionen an. Da frage ich mich: Warum gilt es als utopisch, also unmög­lich, über eine Welt ohne Grenzen, Polizei und Gefäng­nisse nach­zu­denken, während ein Busi­ness­plan zur Bevöl­ke­rung des Mars als reali­stisch betrachtet wird? Diese Diskre­panzen zeigen, dass wir absicht­lich reali­sti­sche Ideen als utopisch abtun. Dabei sind sie darüber hinaus drin­gend notwendig. 

Welches Poten­tial sehen Sie darin, wenn wir kollektiv aner­kennen, dass wir gerade schei­tern? Ganz persön­lich fällt es uns oft nicht leicht, Fehler zu machen – wir haben gelernt, uns dafür zu schämen.

Ein Stich­wort spielt da eine zentrale Rolle, und das ist die Scham. Scham wird ja häufig als etwas betrachtet, was wir hinter uns lassen sollten. Und gleich­zeitig erleben wir, wie gewalt­voll der Mangel an Scham wirkt – wenn jemand schamlos Menschen unter­drückt, andere hinter­geht oder lügt, bloss weil er juri­stisch oder vonseiten mäch­tiger Insti­tu­tionen keine Konse­quenzen fürchten muss. So orien­tiert sich das Handeln an externen Bestra­fungs­sy­stemen. Ein gesundes, inneres Mass an Scham hingegen ist in einer Gesell­schaft wichtig und ermög­licht uns, aus Fehlern zu lernen. 

Schämen wir uns als Gesell­schaft genug für den Schaden und die Gewalt, die wir in der Welt anrichten?

Die Flug­scham-Debatte hat gefühlt zu wenig Fehler­ein­sicht geführt…

Es ist wichtig, hier zu unter­scheiden zwischen Scham auf indi­vi­du­eller Ebene und auf der struk­tu­rellen Ebene der Macht. Ein sehr destruk­tives diskur­sives Werk­zeug ist die Abwäl­zung von struk­tu­rellen Miss­ständen auf indi­vi­du­elles Handeln. Zum Beispiel eine Akti­vi­stin zu beschämen, weil sie eine Flug­reise macht, während die tatsäch­lich Verant­wort­li­chen in der Politik sich nicht schämen, selbst jene Ziele nicht erreicht zu haben, mit denen sie zu Beginn der Legis­la­tur­pe­riode ange­treten sind. Im poli­ti­schen Betrieb, auf der Ebene der Macht, fehlt diese gesunde Scham. 

Also geht es weniger um das kollek­tive Schei­tern, sondern darum, dass wir uns kollektiv zu wenig schämen?

Schämen wir uns als Gesell­schaft denn genug für den Schaden und die Gewalt, die wir in der Welt anrichten? Ich denke, ein so unbe­quemes Gefühl wie Scham kann uns dabei helfen zu erkennen, wo wir stehen und wo die Grenzen anderer sind, wenn wir diese über­schreiten und unge­wollt Schaden anrichten, auch jenseits recht­li­cher Zwänge. Doch ohne innere, gesunde Scham bleiben diese Grenz­über­schrei­tungen viel zu häufig konse­quenzlos. Ande­rer­seits kann uns zu viel Scham hand­lungs­un­fähig machen. 

Eine gesunde Portion würde dazu führen, dass wir erkennen, wo wir ausgrenzen, unter­drücken, schaden – das ist der Moment, in dem wir wachsen können. Das kann ein sehr schmerz­voller Prozess sein. Gleich­zeitig ist es auch immer der Moment, an dem ein Mensch an die Grenzen des eigenen Hori­zonts stösst und die Chance hat, diesen Hori­zont zu erweitern.

Dieses Gespräch erschien zuerst auf klima-kollaps-kommunikation.de und im gleich­na­migen Sammel­band eines Forschungs­pro­jekts zu Zukunftsdiskursen.

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