Von Wahl­recht und Frauenquoten

Die natio­nalen Wahlen stehen wieder an. Während der Frau­en­an­teil in den Räten bei den letzten Wahlen 2019 zwar gestiegen ist, sind wir von einer ange­mes­senen Reprä­sen­ta­tion weit entfernt. Wieso ist das so – und ist das über­haupt der sprin­gende Punkt? 
Es spielt eine Rolle, wer im Bundeshaus politisieren kann und wer nicht. (Foto: Flickr)

Wie an den zahl­rei­chen Plakaten mit lachenden Gesich­tern auf roten, blauen und grünen Hinter­gründen nur unschwer zu erkennen ist, stehen bald wieder natio­nale Wahlen an. Das heisst auch, dass die „Frau­en­wahl“ – und „Klima­wahl“ – schon vier Jahre her ist. So werden die natio­nalen Wahlen 2019 jeden­falls genannt.

Faktisch stieg der Frau­en­an­teil im Natio­nalrat auf 42 Prozent, also um 10 Prozent im Vergleich zu 2015. Im Stän­derat stieg der Anteil von 15 auf 26 Prozent. Das höchste Ergebnis nach knapp fünfzig Jahren Frau­en­stimm­recht. So über­ra­gend finde ich das jetzt nicht. Aber Fort­schritt geschieht ja bekannt­lich langsam.

Nach zwei Jahren Pandemie und ohne den mobi­li­sie­renden Effekt des grossen femi­ni­sti­schen Streikes 2019 frage ich mich, ob der Anteil an stati­stisch als Frauen erfassten Personen wieder einmal stagnieren wird. „Das darf nicht passieren!“, schreit es in meinem Kopf. Oder?

Gemäss der Poli­to­login Isabelle Stadel­mann prägt die Partei­zu­ge­hö­rig­keit das Abstim­mungs­ver­halten im Parla­ment nämlich viel stärker als das Geschlecht. Dennoch ist für Stadel­mann klar, dass „eine gute Demo­kratie dafür sorgen soll, dass die gesell­schaft­li­chen Gruppen ihrer Grösse entspre­chend im Parla­ment vertreten sind“.

Und das ist in der Schweiz defi­nitiv nicht der Fall.

Lohn­un­gleich­heit, unbe­zahlte Care-Arbeit, sexua­li­sierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxi­sche Masku­li­nität, die Abschaf­fung der Wehr­pflicht und homo­so­ziale Gewalt sind femi­ni­sti­sche Themen – und werden als „Frau­en­sache“ abge­stem­pelt. Dadurch werden diese Themen einer­seits abge­wertet, ande­rer­seits die Verant­wor­tung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) übertragen.

Das ist nicht nur unlo­gisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betrof­fenen, sondern auf der Täter­seite. Es sind eben Männer­sa­chen. Deshalb müssen Männer als Teil der privi­le­gierten Gruppe Verant­wor­tung über­nehmen und diese Probleme angehen.

Die entschei­denden 27 Prozent

Von 8.8 Millionen Einwohner*innen der Schweiz haben 2.3 Millionen keinen Schweizer Pass – und demnach wird ihnen das Stimm- und Wahl­recht nicht zuge­standen. Wenn wir von den 6.5 übrig geblie­benen Millionen die Unter-18-Jährigen abziehen, landen wir bei rund 5.5 Millionen Menschen, die in der Schweiz wählen und abstimmen dürfen. Von diesen Menschen gingen in den letzten 50 Jahren im Schnitt nur 44 Prozent wählen, bei den unter 30-Jährigen sogar nur 30 Prozent.

Bei dieser lausigen Wahl­be­tei­li­gung entscheiden faktisch also 2.4 Millionen Menschen – 27 Prozent der Schweizer Bevöl­ke­rung – über die Gestal­tung der Schweizer Politik und Gesellschaft.

Ist das wirk­lich eine funk­tio­nie­rende direkte Demo­kratie? Natür­lich nicht.

Während ausser­par­la­men­ta­ri­sche Politik ein wich­tiger Teil unserer Gesell­schaft ist, hat das Parla­ment faktisch einen grossen Einfluss auf unser tägli­ches Leben, der nicht igno­riert werden kann.

Es gibt zwei Gegen­mass­nahmen. Erstens: Wir moti­vieren die rund drei Millionen Menschen, die das Wahl­recht haben, es aber selten bis nie nutzen, es doch zu tun. Zwei­tens: Wir ermög­li­chen den Menschen ohne Schweizer Pass, die zur stän­digen Schweizer Wohn­be­völ­ke­rung gehören, den Zugang zum Stimm- und Wahlrecht.

Zu erstens kann ich nicht viel mehr sagen als: Das Wahl­recht empfinde ich auch als eine Wahl­pflicht. Alle vier Jahre ein paar Stunden hinzu­sitzen, um sich mit der parla­men­ta­ri­schen Politik ausein­an­der­zu­setzen, die smart­vote-Fragen für Wahl­emp­feh­lungen zu beant­worten und das Couvert schliess­lich recht­zeitig einzu­werfen, finde ich keine über­trie­bene Anforderung.

Und wer Nicht-Wählen als poli­ti­sches State­ment gegen die parla­men­ta­ri­sche Politik sieht, schiesst sich eigent­lich ins eigene Knie: Die fleis­sig­sten Wähler*innen sind Männer ab 65, und diese haben eine Tendenz zu SVP und Co. Während ausser­par­la­men­ta­ri­sche Politik ein wich­tiger Teil unserer Gesell­schaft ist, hat das Parla­ment faktisch einen grossen Einfluss auf unser tägli­ches Leben, der nicht igno­riert werden kann.

Zu zwei­tens: Der Verein Aktion Vier­viertel sammelt aktuell Unter­schriften für die Demo­kra­tie­initia­tive, die die lächer­lich hohen Hürden für eine Einbür­ge­rung herun­ter­setzen will. Gemäss Initia­tiv­text sollen Menschen, die seit fünf Jahren in der Schweiz wohnen, Grund­kennt­nisse einer Landes­sprache haben und für die Schweiz keine Gefahr darstellen, einen Anspruch auf Einbür­ge­rung haben. Das hätte grosse Auswir­kungen auf die Anzahl stimm- und wahl­be­rech­tigter Menschen in der Schweiz – und könnte die Schweiz einer funk­tio­nie­renden Demo­kratie annähern.

(Un)bewusste Vorein­ge­nom­men­heit

Bis wir so weit sind, kannst aber auch du, lieber weisser cis Mann mit Schweizer Pass, dafür sorgen, dass die Schweizer Wohn­be­völ­ke­rung künftig in der Politik besser reprä­sen­tiert wird als bisher. Doch bevor du dein Wahl­pri­vileg ausübst, musst du dich mit deinem uncon­scious bias (dt. unbe­wusste Vorein­ge­nom­men­heit) auseinandersetzen.

Kurz gesagt: Wir sind alle vorein­ge­nommen. Es ist ein mensch­li­cher Reflex, dass wir Urteile fällen und Menschen in unter­schied­liche Schub­laden stecken – das geschieht meistens sehr schnell und vor allem unbewusst.

Ein Beispiel eines solchen uncon­scious bias ist, dass Männer eher als bril­lant gesehen werden als Frauen.

Das Problem mit dieser Vorein­ge­nom­men­heit ist, dass sie auf Stereo­typen statt Erfah­rung oder Wissen basiert und Vorur­teile schürt, die zu Diskri­mi­nie­rung führen können. Die meisten biases werden uns beigebracht; das heisst aber auch, dass wir sie wieder entlernen können. Dafür müssen wir uns ihnen aber zuerst bewusst werden.

Ein Beispiel eines solchen uncon­scious bias ist, dass Männer eher als bril­lant gesehen werden als Frauen. Das zeigt eine 2020 publi­zierte Studie der New York Univer­sity. Die Forscher*innen haben gemessen, wie sehr sich unter­schied­liche Konzepte (zum Beispiel bril­lant und männ­lich) in der Vorstel­lung der Studienteilnehmer*innen über­schneiden, ohne die Personen ausdrück­lich zu fragen, ob sie diese Ansicht vertreten oder nicht. Sie verwen­deten dafür den Implicit Asso­cia­tion Test, der im Wesent­li­chen eine beschleu­nigte Sortier­auf­gabe ist, in der Asso­zia­tionen abge­fragt werden.

Männer und Frauen aus 79 Ländern wurden befragt, mit einem deut­li­chen Ergebnis: Der bias, dass Männer eher mit Bril­lanz asso­zi­iert werden als Frauen, war durchweg gegeben.

Klar­text: Auch Frauen sehen eher Männer als bril­lant an, und sind sich dem gar nicht bewusst. Bemer­kens­wert an der Studie ist auch, dass die meisten Teilnehmer*innen bei expli­ziter Nach­frage sagten, dass sie Frauen sehr wohl als bril­lant ansehen. Doch die Messung der unbe­wussten Ansichten zeigt eindeutig ein anderes Bild.

Das Risiko der bubble

Ich finde die Studie span­nend, weil sie aufzeigt, wie wenig wir eigent­lich über uns selbst wissen. Während wir felsen­fest davon über­zeugt sein können, dass wir kein Geschlecht besser bewerten als andere, keine rassi­sti­schen Vorur­teile haben oder Menschen mit Behin­de­rung nicht mit Dumm­heit asso­zi­ieren, kann die Realität völlig anders aussehen.

Statt das zu verleugnen oder vor Frustra­tion abzu­blocken, versuche ich dem mit Neugier zu begegnen. Insbe­son­dere in Hinsicht auf die Wahlen, bei denen ich haupt­säch­lich fremde Menschen beur­teile, stelle ich mir die Fragen: „Wieso frustriert mich diese Person? Wieso denke ich XY über diesen Menschen? Wieso ist mir diese Person sympathisch?“

Letz­tere könnte der similar-to-me-bias (dt. Affi­ni­täts-Vorein­ge­nom­men­heit) erklären. Wir mögen Menschen beson­ders gerne, wenn sie uns ähnlich sind – ob das nun tatsäch­lich so ist oder nur so scheint. Es reicht aus, wenn wir denken, dass uns die Person ähnlich ist.

Es ist wahr­schein­lich, dass wir auch unser privates Umfeld anhand dieses biases auswählen – so entsteht denn auch, was wir bubble nennen. Das Risiko ist in solchen Gruppen höher, dass wir dem confir­ma­tion bias (dt. Bestä­ti­gungs­vor­ein­ge­nom­men­heit) erliegen: Wir geben tenden­ziell den Fakten oder Aussagen mehr Gewicht, die unsere Meinung bestätigen.

Es gibt sehr wohl Gruppen (und Parteien) voller weisser cis-hetero Männer, die sich gegen­seitig in ihrer einge­schränkten Welt­an­schauung bestä­tigen und Hass schüren – das ist doch die proble­ma­ti­sche bubble.

Ironi­scher­weise werden nur gewisse – meistens links­ge­sinnte – Gruppen als bubbles bezeichnet. In dem Wort schwingt oft ein vorwurfs­voller Unterton mit: Man sagt abschätzig „in deiner bubble“, es wird propa­giert, dass man „raus aus der bubble“ müsse. Dabei suchen sich unter anderem FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans, agender Personen), queere Personen und People of Colour (PoC) ihre bubble, damit sie ein Ort haben, an dem sie sich sicher, verstanden und geliebt fühlen, und ihnen nicht andau­ernd ihr Existenz­recht abge­spro­chen wird.

Derweil gibt es sehr wohl Gruppen (und Parteien) voller weisser cis-hetero Männer, die sich gegen­seitig in ihrer einge­schränkten Welt­an­schauung bestä­tigen und Hass schüren. Das ist doch die proble­ma­ti­sche bubble, aus der sie drin­gend mal raus müssten, doch darüber reden wir kaum.

Ihr versteht das Problem: Wenn weisse cis Männer haupt­säch­lich andere weisse cis Männer wählen, die einander schlimm­sten­falls in menschen­feind­li­chen Ansichten bestä­tigen und auch so poli­ti­sieren und besten­falls anderen Lebens­rea­li­täten gegen­über etwas igno­rant sind; wenn Frauen eben­falls Männer wählen (weil sie denken, dass Männer im Gegen­satz zu Frauen so bril­lant sind); und wenn ein beacht­li­cher Teil der Schweizer Bevöl­ke­rung aufgrund eines fehlenden Schweizer Passes, des Alters oder einer vermeint­li­chen Unmün­dig­keit nicht wählen darf – dann reprä­sen­tiert das Parla­ment schluss­end­lich nur einen kleinen Bruch­teil unserer Gesellschaft.

Schaffen wir die Männer­quote ab

„Du bist doch nicht etwa für eine Frau­en­quote, oder?“ Die Frage geht mir so auf die Eier­stöcke. Die Wissen­schaft ist sich einig, dass eine Frau­en­quote ein geeig­netes Tool ist, um die Geschlech­ter­re­prä­sen­ta­tion schnell und unkom­pli­ziert zu verbes­sern. Ich finde: Wir müssen die vorherr­schende weisse cis-hetero Männer­quote abschaffen, die momentan in Kraft ist. Unsere unre­flek­tierten biases stützen sie ziem­lich hartnäckig.

Damit das Ganze nicht noch mal fünfzig Jahre dauert, brau­chen wir also wahr­schein­lich wirk­lich eine Frau­en­quote. Und eine PoC-Quote, eine Alters­quote, eine Menschen mit Behin­de­rung-Quote und viele weitere. Unter anderem, weil wir nahezu machtlos sind gegen alle unsere unbe­wussten Vorein­ge­nom­men­heiten bezie­hungs­weise wir nicht erwarten können, dass sich alle ausrei­chend damit auseinandersetzen.

Dass es derweil Menschen gibt, die denken, dass es in diesen Gruppen von Menschen keine kompe­tenten Politiker*innen gibt und eine Quote eine unge­rechte Bevor­zu­gung bedeuten würde, ist wirk­lich die Spitze der Arroganz.

Es ist ein Leichtes, „Wählt Frauen“ zu propa­gieren – aber das reicht nicht weit.

Zurück zur Frage, ob es wirk­lich einen Unter­schied macht, ob eine Frau oder ein Mann im Parla­ment sitzt: Gemäss der NZZ, die 2021 eine Sitzung des Zürcher Kantons­rates analy­siert hat, ist die Antwort ein Ja. Unter anderem bei den Vorstössen zeige sich deut­lich: „Frauen poli­ti­sieren vor allem zu Bildung, Familie und Gleich­stel­lung. Männer geben in der Verkehrs‑, Bau- und Finanz­po­litik den Ton an.“

Und was heisst das nun?

Es ist ein Leichtes, „Wählt Frauen“ zu propa­gieren – aber das reicht nicht weit. Es gibt genü­gend trans­feind­liche, klima­kri­se­leug­nende oder geld­be­ses­sene Frauen, die ihre inter­na­li­sierte Miso­gynie nicht reflek­tiert haben und Profit vor Menschen­rechte stellen. Diese blockieren femi­ni­sti­sche Anliegen am laufenden Band, während sie gleich­zeitig versu­chen, die Menschen­rechte verschie­den­ster diskri­mi­nierter Gruppen einzuschränken.

„Wählt femi­ni­stisch“ ist viel­leicht die bessere message. Auf den Wahl­zet­teln stehen nämlich sehr wohl einige femi­ni­sti­sche, sehr wähl­bare Personen (inklu­sive Männer).

Und trotzdem ist die Schluss­pointe immer dieselbe: Das Parla­ment sollte die Verhält­nisse der Gesell­schaft reprä­sen­tieren – und das bedeutet mehr Frauen, mehr queere Personen, mehr Menschen mit Behin­de­rung, mehr Personen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, mehr People of Colour. Und das kannst du beeinflussen.


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