Waffen­brüder

Vor 61 Jahren erlangte die Schaff­hauser SIG ihren ersten auslän­di­schen Kauf­ver­trag für das selbst­ent­wickelte Sturm­ge­wehr. Es sollte der Start­schuss für eine Erfolgs­ge­schichte Schweizer Quali­täts­ar­beit sein und endete in Menschen­rechts­ver­let­zungen mit Schweizer Waffen. 
Chilenischer Soldat während dem Militärputsch 1973 mit Schweizer Sturmgewehr. (Foto: Domingo Politi)

Am 19. Juli 1961 trafen vier Herren aus Schaff­hausen am Flug­hafen in Sant­iago de Chile ein. Der lange Flug, damals noch 36 Stunden, recht­fer­tigte sich durch etwas Grosses. Die Schwei­ze­ri­sche Indu­strie­ge­sell­schaft (SIG) war dabei, ihren ersten Export­ver­trag für ein neu entwickeltes Produkt abzu­schliessen: das Sturm­ge­wehr SIG 510. Es war der Beginn einer Bezie­hung, die bis heute andauern sollte.

In den 60er-Jahren war Chile ein Land im Aufbruch: Der Anden­staat demo­kra­ti­sierte sich und band durch eine aktive Sozi­al­po­litik ärmere Bevöl­ke­rungs­schichten in das soziale und poli­ti­sche Leben mit ein. Es war das erklärte Ziel, durch soziale Reformen eine Revo­lu­tion wie in Kuba zu verhin­dern. Nur ein paar Jahre zuvor hatte Fidel Castro mit einer Hand voll Soldaten die USA-freund­liche Diktatur gestürzt.

Man war sich aber auch einig: Sollten die Reformen schei­tern, muss die Armee einge­setzt werden, um Aufstände nieder­zu­schlagen. Doch diese war total veraltet. Die Offi­ziere fuhren Taxi, um ihr Gehalt aufzu­bes­sern, und die Soldaten schossen mit Gewehren aus dem 19. Jahr­hun­dert. Eine Struk­tur­re­form war nötig, mitsamt einer Moder­ni­sie­rung der Waffen.

Die vier Herren aus Schaff­hausen sollten Abhilfe schaffen.

Der Sommer der Rüstungsindustrie

Das Sturm­ge­wehr 510 war der Stolz der SIG. Im Jahr 1957 hatte es die Schweizer Armee zur Ordon­nanz­waffe erklärt und Gross­be­stel­lungen in Auftrag gegeben. Anfang der 1960er Jahre gingen diese aber langsam zurück, und die SIG musste sich um weitere Käufer*innen kümmern, um die Produk­tion aufrechtzuerhalten.

Eine hohe Produk­tion war auch ganz im Sinne des Bundes. Wird viel produ­ziert, fallen die Stück­preise. Auch für die Schweizer Armee, wenn sie Ersatz­ge­wehre kaufen muss. Folg­lich setzte sich das Eidge­nös­si­sche Mili­tär­de­par­te­ment auf allen Ebenen für bessere Export­be­din­gungen ein.

Die Reise der vier Herren aus Neuhausen war also durchaus gern gesehen. Und sie war erfolgreich.

Akten aus dem Bundes­ar­chiv zeigen, dass ab 1962 Waffen ins südame­ri­ka­ni­sche Land gelie­fert wurden. Eine erste Ladung für 14,5 Millionen Franken umfasste 21’500 Sturm­ge­wehre. Sie waren bestimmt für die chilen­sche Armee.

Später, ab 1965, bekam die SIG für ihre Waffen­lie­fe­rungen eine indi­rekte Export­ri­si­ko­ga­rantie. Sollte der chile­ni­sche Staat nicht zahlen, würde sich der Schweizer Bund für eine Tilgung der Schulden einsetzen. Im schlimm­sten Fall hätte der Bund selber bezahlt.

Kritik an dieser Praxis gab es in den 1960er Jahren keine: Der Bund hatte das Gesetz zum „allge­meinen Ausfuhr­verbot“ von Rüstungs­gü­tern aus dem Jahr 1949 so verwäs­sert, dass mitt­ler­weile in fast alle Staaten des West­blocks expor­tiert wurde. Das offi­zi­elle Verbot diente einzig dem Schein der Neutra­lität. Nur Export­ri­si­ko­ga­ran­tien wurden bislang nicht vergeben. Chile war ein erster Versuch, diese Praxis der Indu­strie­för­de­rung auch auf Rüstungs­güter auszuweiten.

Feier­stim­mung bei der SIG. Ihr Sturm­ge­wehrs bei einem Umzug in Lausanne 1963. (Foto: Eric Brüher, in SIG Werkmitteilungen)

Das Erfolgs­mo­dell SIG war auch ein Glücks­fall für Neuhausen. 1962 titelte der Bund: „Sturm­ge­wehr saniert Neuhausen“. Die Gemeinde habe aufgrund der hohen Gewinne der Firma im Jahr 1961 deut­lich höhere Steu­er­ein­nahmen erhalten und ihre Schulden abbauen können. Dies vor allem dank der Sturm­ge­wehr­auf­träge aus der Schweiz und Chile.

Die SIG war voller Euphorie, die Produk­tion wurde ausge­baut. Nach dem Heer wurden im südame­ri­ka­ni­schen Land auch die Luft­waffe, die Marine und die mili­ta­ri­sierte Polizei aufge­rü­stet. Die SIG hoffte, dass der Fall Chile Signal­wir­kung haben würde. Rudolf Amsler, der Entwickler des Sturm­ge­wehrs schrieb: „Da die chile­ni­sche Armee als ausge­zeichnet gilt – sie macht tatsäch­lich einen vorzüg­li­chen Eindruck –, ist dieser Erfolg für die Weiter­ent­wick­lung von Auslands­ge­schäften von beson­derer Bedeutung.“

Die Schweizer Firma schickte Händler um die Welt, die das Gewehr etwa in den Phil­ip­pinen, in Boli­vien oder in Ecuador anpriesen. Doch die Träume waren etwas gar kühn und platzten bald. Der chile­ni­sche Staat aber kaufte weiterhin Neuhauser Sturm­ge­wehre. 1968 verkün­dete der Schweizer Botschafter in Chile, Roger Dürr, stolz, die Schweizer Waffen­in­du­strie habe sich durch ihre Qualität gegen die belgi­sche Konkur­renz durchgesetzt.

Doch dann drohte die Welt­po­litik, dem Märchen ein Ende zu setzen.

Ein Persil­schein des Botschafters

Die Revo­lu­tion in Kuba, die Guerilla von Che Guevara in Boli­vien und einzelne Gruppen in Chile, die vom bewaff­neten Aufstand redeten, gaben Ausschlag, dass sich das Heer neu bewaffnen sollte, um sich gegen einen „inneren Feind“ zu wehren. Mit der Hilfe der USA wurde hoch­ge­rü­stet, vornehm­lich gegen die eigene Bevöl­ke­rung. Hinzu kam, dass sich Mitte der 1960er Jahre ein Wett­rü­sten zwischen den südame­ri­ka­ni­schen Staaten etablierte.

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Beide Entwick­lungen wurden für die SIG zur Gefahr. Im Falle eines inneren oder äusseren Konflikts hätte der Bund den weiteren Export von Waffen verboten. Von indi­rekten Export­ri­si­ko­ga­ran­tien ganz zu schweigen.

Botschafter Dürr wiegelte die Warnungen ab. Offenbar hatte er ein klares Ziel. In internen Doku­menten aus dem Bundes­ar­chiv heisst es, Chile sei poli­tisch stabil und das Wett­rü­sten sollte als Wett­streit um Prestige zwischen den Armeen verstanden werden, nicht als krie­ge­ri­sche Bedro­hung. Man solle ruhig weiter nach Chile expor­tieren. Für die SIG war es ein Persil­schein von ganz oben. Doch dann drohte der Erfolgs­traum doch zu platzen.

Kater­stim­mung

Als herauskam, dass die Waffen­schmiede Oerlikon-Bührle illegal Waffen in Bürger­kriegs­länder expor­tiert hatte, formierte sich in der Schweiz Wider­stand gegen die allzu libe­rale Ausfuhr­po­litik. Mit der Initia­tive für ein Waffen­aus­fuhr­verbot, welche 1972 vors Volk kam, wurde der Export von Waffen grund­sätz­lich in Frage gestellt.

Auch im Bundesrat drehte der Wind. Als 1970 Pierre Graber (SP) das poli­ti­sche Depar­te­ment über­nahm, wurden erst­mals die Menschen­rechte in die Export­po­litik mitein­be­zogen. Den Rüstungs­firmen wurden flächen­deckend Nicht-wieder-Ausfuhr-Beschei­ni­gungen abver­langt und der Bund drohte mit einem Exportstopp.

Chile­ni­sche Gene­räle nach dem Mili­tär­putsch im Jahr 1973. Mit dabei das Sturm­ge­wehr der SIG. (Foto: Friedenszeitung)

Als Antwort auf das vom Stimm­volk knapp abge­lehnte gene­relle Ausfuhr­verbot von Waffen wurde 1972 das Kriegs­ma­te­ri­al­ge­setz verab­schiedet. In der Folge konnten keine Länder mehr mit Rüstungs­gü­tern belie­fert werden, in denen eine innerer bewaff­neter Konflikt herrschte oder Menschen­rechte verletzt wurden. Die Öffent­lich­keit machte Druck, die Bestim­mung musste nun deut­lich strenger umge­setzt werden, vage Inter­pre­ta­tionen wie ein paar Jahre zuvor von Botschafter Dürr waren nicht mehr möglich.

Chile war zu jener Zeit noch demo­kra­tisch. Doch es tobte ein heftiger Streit zwischen der sozia­li­sti­schen Regie­rung unter Salvador Allende und rechten Grup­pie­rungen, die den „fried­li­chen Weg zum Sozia­lismus“ ablehnten und zum Teil mili­tant bekämpften. Am 11. September 1973 putschte das Militär unter Augusto Pino­chet. Es kam zu Massen­ver­fol­gungen, Verhaf­tungen und Morden an poli­ti­schen Aktivist*innen. Noch am selben Tag stoppte der Bund jedwede Waffen­aus­fuhr nach Chile.

Eine Hiobs­bot­schaft für die SIG. Es zeigte sich aber: Der Neuhauser Konzern war vorbe­reitet. Er wusste gar, wie er die Bestim­mungen umgehen konnte.

Von Waffen zu Maschinen

Schon ein Jahr vor Inkraft­treten des Kriegs­ma­te­ri­al­ge­setzes betonte die SIG-Geschäfts­füh­rung, dass dieses die Rüstungs­pro­duk­tion hart treffen würde. Die SIG expor­tiere fast ausschliess­lich in Länder, die vermut­lich von einem Export­verbot betroffen wären.

Die SIG wusste sich durchaus Gehör zu verschaffen. Drohungen, wie sie Schweizer Firmen heute im Rahmen des Steu­er­wett­be­werbs immer wieder ausspre­chen, hörte man bereits Anfang der 1970er Jahre aus Neuhausen: „Die anhal­tenden und sich von Jahr zu Jahr stei­gernden Schwie­rig­keiten mit der Waffen­aus­fuhr könnten auch uns veran­lassen, die Produk­tion ins Ausland zu verlegen“, so der Präsi­dent der Verwal­tungs­rates, Franz Reichen­bach, an der Gene­ral­ver­samm­lung vom 4. Mai 1971.

Es sollte keine leere Drohung bleiben.

Mit dem Kriegs­ma­te­ri­al­ge­setz versiegte die Rüstungs­pro­duk­tion in Neuhausen. Im Jahr 1974 teilte die SIG mit, dass sie mit der Jagd­waf­fen­fa­brik J.P. Sauer & Sohn GmbH einen Part­ner­schafts­ver­trag abge­schlossen habe und mit der Mülhau­sener Waffen­fa­brik Manu­fac­ture de Machines du Haut-Rhin S.A. eine Koope­ra­tion verein­bart wurde. In Neuhausen sollte von nun an nur noch Entwick­lung und Produk­tion von Maschinen zur Herstel­lung von Rüstungs­gü­tern statt­finden. Die Zeitung Tat titelte im Mai 1975: „Ende der Sturmgewehr-Produktionszeit“.

Hinter den Kulissen wurden aber schon Jahre zuvor Vorbe­rei­tungen getroffen. Bereits 1968 wurde laut Botschafter Dürr eine Ausla­ge­rung eines Teiles der Produk­tion nach Chile selber geplant. Das belegen interne Doku­mente. Die Pläne wurden erst 15 Jahre später umge­setzt. Recher­chen im Archiv des chile­ni­schen Aussen­mi­ni­ste­riums zeigen ausserdem, dass die chile­ni­sche Botschaft in der Schweiz und die SIG bereits 1974 Stra­te­gien entwickelten, damit weiterhin Waffen nach Chile gelie­fert werden konnten.

Zweites Leben in Chile

Das Resultat der stra­te­gi­schen Gespräche lag zehn Jahre später auf dem Tisch. Nachdem der Thur­gauer Panzer­pro­du­zent MOWAG 1980 eine Produk­ti­ons­li­zenz nach Chile verkauft hatte, machte es die SIG dem Nach­bar­un­ter­nehmen im Jahr 1983 nach und verkaufte die Lizenz zur Produk­tion des Nach­fol­ges­turm­ge­wehrs SIG 540 samt Maschinen und Ausbil­dung an die chile­ni­sche Waffen­schmiede Fabricas y Maestranzas del Ejército (FAMAE). Diese bezahlte laut eigenen Angaben minde­stens 10 Millionen Dollar für den Deal.

Damit umging die SIG das Kriegs­ma­te­ri­al­ge­setz und belie­ferte die weit­ge­hend isolierte Diktatur von Augusto Pino­chet mit neue­sten Waffen. Eine Geset­zes­lücke machte dies möglich. Das Gesetz verbot zwar die Ausfuhr von Waffen, nicht aber den Export von Know-How und Maschinen zur Herstel­lung derselben. Bereits 1978 hatte Jean Ziegler (SP) im Natio­nalrat versucht, diese Lücke zu schliessen, er war aber an der bürger­li­chen Mehr­heit gescheitert.

Für die Schweizer Presse war der SIG-Deal ein Affront. Bereits kurz nach dem Mili­tär­putsch von 1973 war Kritik an der SIG und am Bund aufge­kommen. Die Arbeits­ge­mein­schaft für Rüstungs­kon­trolle und ein Waffen­aus­fuhr­verbot meinte: „Einmal mehr sind damit bei einem Regie­rungs­sturz oder im offenen Bürger­krieg in Ländern der dritten Welt Waffen schwei­ze­ri­scher Herkunft im Spiel gewesen“, und die Frie­dens­zei­tung zeigte ein Bild der ersten Pres­se­kon­fe­renz chile­ni­scher Gene­räle, umringt von Soldaten mit dem Sturm­ge­wehr der SIG.

Nun, 1978, schrieb etwa Albert Wiss vom Schwei­ze­ri­schen Arbei­ter­hilfs­werk in der Schaff­hauser AZ von einem „Schlag in das Gesicht für alle Chilenen im Exil, [die Geschäfte] stabi­li­sieren eine Gewalt­herr­schaft, die immer neue Opfer und Flücht­linge hervorbringt“.

Auf der anderen Seit des Atlan­tiks wurde der Deal gefeiert. Im Juni 1986 berich­tete die regime­treue Zeitung El Mercurio stolz, dass bereits 1000 Gewehre in Sant­iago de Chile herge­stellt worden sein. Dies dank neue­sten Maschinen und Ausbil­dung aus der Schweiz. Eine extrem kleine Menge, im Vergleich zu den Stück­zahlen, die vor dem Putsch gelie­fert worden waren. 

Die heeres­ei­gene Zeitung La Alborada ging sogar so weit, die Produk­tion von Sturm­ge­wehren als einen Akt der wirt­schaft­li­chen und wehr­tech­ni­schen Selbst­stän­dig­keit Chiles zu sehen, wobei sie nicht einmal die Herkunft der Lizenz aus der Schweiz erwähnte.

Für die Produk­tion reisten bis 1988 mehrere dutzend Arbeiter der FAMAE und Armee­of­fi­ziere aus Chile nach Neuhausen, um sich vor Ort ausbilden zu lassen. Die Produk­tion der Sturm­ge­wehre erfor­derte viel Know-How und in Chile stockte sie noch lange. Im Jahr 1988 berich­tete die WOZ auf Basis von Inter­views mit der SIG und Arbei­tern in der FAMAE, dass die Produk­tion noch immer nicht richtig ange­laufen sei. Es brauche weitere „Anschub­un­ter­stüt­zung“ durch die SIG.

Töten mit dem „fúsil SIG“

Die Diktatur von 1973 bis 1990 war geprägt von der regel­mäs­sigen Verfol­gung Oppo­si­tio­neller. Minde­stens 30’000 Personen wurden verhaftet und gefol­tert, mehr als 2000 daraufhin ermordet. Das Natio­nal­sta­dion in Sant­iago de Chile wurde in den ersten Tagen nach dem Putsch zu einem riesigem Gefan­ge­nen­lager. Soldaten patrouil­lierten mit dem Sturm­ge­wehr im Anschlag.

In den 1980er Jahren kam es aufgrund der desa­strösen Sozial- und Wirt­schafts­po­litik zu Massen­pro­te­sten gegen die Mili­tär­dik­tatur. Das Militär wurde einge­setzt, um in den Armen­vier­teln den Aufstand nieder­zu­schiessen. Ein ehema­liger Mili­tär­dienst­pflich­tiger erzählte dem Lamm: „Sie gaben uns am Anfang des Tages mehrere Maga­zine, am Abend mussten sie leer sein“. All dies mit dem SIG–Sturm­ge­wehr oder „fúsil SIG“, wie es in Chile genannt wird. 

Wobei SIG als Abkür­zung für „Suizo Italo Germano“ verwendet wurde. Eine Namens­än­de­rung, die die Schweiz in die histo­ri­sche Tradi­tion Italiens und Deutsch­lands einreihte. Das Ende der faschi­sti­schen Regimes in beiden Ländern war damals keine 40 Jahre her. 

Die Frei­platz­ak­tion aus Schaff­hausen, die in den 1970er Jahren dafür gekämpft hatte, dass Exil­chi­le­ninnen in der Schweiz aufge­nommen werden, rief derweil dazu auf, einen offenen Brief an die SIG zu unter­schreiben. Der Titel: „Keine Sturm­ge­wehre für Mörder­hände in Chile“. Das Unter­nehmen dürfe mit seinem Handeln nicht die Repres­sion gegen eine erstar­kende Oppo­si­tion unter­stützen, so der Tenor des Briefes.

Doch nicht nur das Neuhauser Unter­nehmen vertei­digte das Geschäft mit der Lizenz­pro­duk­tion und der Ausbil­dung. Die Betriebs­kom­mis­sion der SIG sandte im Jahr 1983 einen Leser*innenbrief an die Zeitung des mäch­tigen Schwei­ze­ri­schen Metall- und Uhren­ar­beit­nehmer-Verbandes. Die SIG stellte sich auf den Stand­punkt, Arbeits­plätze müssten vertei­digt und die Schweizer Armee mit Waffen ausge­rü­stet werden. Beides sei ohne Exporte nicht möglich – und Chile sei nun einmal ein altbe­währter Handelspartner.

Die Geschichte ist nicht vorbei

1990 über­nahm der Christ­de­mo­krat Patricio Aylwin die Regie­rungs­ge­schäfte. Die Welt feierte die Rück­kehr zur Demo­kratie und die Export­ver­bote wurden aufge­hoben. Doch der Diktator Pino­chet war noch lange nicht weg. Er blieb bis ins Jahr 1998 Ober­be­fehls­haber der Streitkräfte.

Im Jahr 1994 reiste Pino­chet in die Schweiz. Die Luzerner Neue­ster Nach­richten vermu­teten eine Waffen­ein­kaufs­tour im Lieb­lings­land des Dikta­tors. Doch die Waffen­schmieden demen­tierten. Ein Besuch in den Fabrik­hallen der SIG konnte nicht nach­ge­wiesen werden. Der ehema­lige Handels­partner war in der Schweiz nicht mehr willkommen.

Die FAMAE in Chile produ­zierte über viele Jahre hinweg weiterhin das SIG 540. Darauf basie­rend entwickelte sie 1993 ein eigenes Modell, welches bis heute in mehrere Länder Latein­ame­rikas expor­tiert wird. Möglich machte dies der Tech­no­lo­gie­transfer aus der Schweiz.

Im Oktober 2019 gingen die Chile­ninnen und Chilenen ein weiteres Mal auf die Strasse. Sie forderten ein Ende des neoli­be­ralen Wirt­schafts­re­gime, einge­führt durch die Diktatur. Es waren die grössten Proteste seit den 1980er Jahren. Die Regie­rung ging mit harter Hand gegen die Demonstrant*innen vor, verhängte den Ausnah­me­zu­stand und schickte das Militär auf die Strasse. Die Bilder aus den 1980er Jahren wieder­holten sich. Erneut patrouil­lierten Soldaten mit dem Schweizer Sturm­ge­wehr in der Hand durch die Strassen von Sant­iago de Chile.

Malte Seiwerth ist Histo­riker und Jour­na­list bei das Lamm. Er forschte während seines Studiums zu den Rüstungs­ge­schäften zwischen der Schweiz und Chile.

Dieser Artikel wurde zuerst in leicht anderer Form in der Schaff­hauser AZ am 15. April 2021 veröf­fent­licht.


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