Die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) wirkt sich weniger direkt auf das Leben in Zürich aus als neue Velowege oder ein Stadion auf der alten Brache. Viele Ergebnisse werden sich erst in Jahren zeigen. Und vor allem: in weit entfernten Ländern. Es besteht die Gefahr, dass das Bewusstsein für die Dringlichkeit der KVI zwischen Lockdown-Angst und Maskendiskussion zerrieben wird – was am Ende dazu führen könnte, dass das entscheidende Prozent der Wähler*innen bei der Abstimmung am 29. November zu Hause bleibt.
Umso wichtiger ist es jetzt, die zwar weniger unmittelbare, aber nicht weniger grosse Dringlichkeit der KVI darlegen zu können. Am besten funktioniert das über konkrete Fallbeispiele. Wir haben sechs kurze Erzählungen zur direkten Auswirkung der KVI gesammelt – als Argumentationshilfen in der Auseinandersetzung mit weniger Überzeugten.
1) Glencores Kupferfabrik
Wenn die KVI angenommen wird, könnte es in der Schweiz zu einem Prozess gegen den Rohstoffkonzern Glencore kommen. Momentan muss der Prozess noch in Sambia mit sambischen Steuergeldern geführt werden, weil Glencore dort eine Kupferfabrik betreibt. Die Fabrik setzt so viel Schwefeldioxid frei, dass die Werte teilweise 70-fach über dem von der WHO empfohlenen Anteil von 20 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft liegen. In der nahe gelegenen Stadt und besonders in einer Schule häufen sich die Asthmafälle. Eine bekannte Politikerin ist bereits gestorben, woraufhin ihre Angehörigen Glencore verklagten. Die Konzernverantwortungsinitiative kann dazu beitragen, zukünftige Prozesse gewissermassen nach Hause in die Schweiz zu holen, also dorthin, wo die Verursacher*innen leben und arbeiten.
2) LafargeHolcims Kalksteinbruch
Mehr als die Hälfte des Zements, der in der Schweiz vermauert wird, stammt von der Schweizer Firma LafargeHolcim. Sie lässt ihn unter anderem von einer Tochtergesellschaft in dem nigerianischen Dorf Ewekoro produzieren. Der bei der Produktion und beim Abbau im Kalksteinbruch entstehende Staub hängt dick in der Luft, legt sich auf Kleidung, auf Haare und Haut nieder. Über Atemluft und Trinkwasser gelangt der Staub in den Körper, wo er zu Leber‑, Lungen- und Milzschäden führen kann. Nach einem Ja zur KVI könnten die Bewohner*innen von Ewekoro vor einem Schweizer Gericht Schadenersatz einfordern.
3) Nestlé und die Kinderarbeit
Gegen den Konzern Nestlé wird immer wieder der Vorwurf laut, er verarbeite Rohstoffe, die mit Kinderarbeit gefördert wurden, etwa Kakao, Palmöl und Kaffee. Nestlé hat versprochen, das Problem genauer zu untersuchen, damit Kinderarbeit in Zukunft ausgeschlossen werden kann. Dieses Versprechen wurde gebrochen. Die KVI würde es Kinderarbeiter*innen und ihren Vertreter*innen erleichtern, vor Schweizer Gerichten zu klagen, um Nestlé neben einem einfachen Versprechen auch die Pflicht abzuringen, die eigene Produktion fair zu gestalten und besser zu überwachen.
4) Die Skandale der Pharmariesen
Wir befinden uns in der grössten Gesundheitskrise der jüngeren Geschichte. Gerade jetzt wäre es wichtig, sich darauf verlassen zu können, dass Medikamente sicher und fair produziert werden. Sollte ein Corona-Impfstoff kommen, muss er transparent entwickelt, geprüft und hergestellt werden können, um auf breite Akzeptanz zu stossen. Im Moment ist das aber alles andere als garantiert. Die beiden Schweizer Pharmariesen Novartis und Roche sind in mehrere Skandale involviert – und weigern sich, zur Aufklärung beizutragen. So wurde zum Beispiel das Novartis-Mittel Valsartan, das blutdrucksenkend wirkt, zu Studienzwecken Kindern in Indien verabreicht. Einige von ihnen starben. Und der Konkurrent Roche ließ das Medikament CellCept, das bei Organtransplantationen verwendet wird, in China testen, wo nachweislich Organe von Hinrichtungsopfern für medizinische Experimente verwendet werden. Die Konzernverantwortungsinitiative würde den beiden Unternehmen mehr Klarheit abverlangen.
5) Glencores Ölfeld
Noch einmal Glencore: Der Rohstoffkonzern unterhält im Süden des Tschad ein Ölfeld mit einem Auffangbecken für giftiges Abwasser. Der Damm des Beckens war für die Belastung während der Regenzeit nicht angemessen konstruiert und brach im September 2018 ein. Das Abwasser ergoss sich in den Fluss Nya Pende. Das Gift tötete Fische, Kühe, Schafe und Ziegen und verursachte großflächige Hautverätzungen bei badenden Kindern. Mit einer erfolgreichen Konzernverantwortungsinitiative im Rücken könnten die Menschen im Tschad Glencore auf Schadenersatz verklagen und dazu verpflichten, in Zukunft – im Tschad genauso wie in anderen Teilen der Welt – höhere Baustandards einzuhalten.
6) Und viele mehr
Neben den vielen grossen Skandalen gibt es zahlreiche weitere Beispiele für verantwortungsloses Handeln schweizerischer Konzerne im Ausland. Etwa dass Schweizer Pharmafirmen Wirkstoffe für die Antibiotikaproduktion aus Indien beziehen. Dort werden in der Stadt Hyderabad Antibiotikawerte im Wasser gemessen, die die vorgeschlagenen Grenzwerte um das 100- bis 1000-fache überschreiten. Oder dass lokale Bäuer*innen, die gegen eine Glencore-Mine bei Antapaccay in Peru demonstrierten, von Sicherheitspersonal angegriffen und geschlagen wurden. Die KVI würde einen neuen Hebel im Kampf gegen solche Vergehen bieten. Und vielen von ihnen überhaupt erst Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen.
Bei der KVI geht es schliesslich auch darum, ein insgesamt transparenteres Welthandelssystem zu schaffen. Womit wir wieder bei der Frage wären: Was bringt mir das Ganze? Nahezu alle beschriebenen Fälle werden auf kurze oder lange Sicht auch einen Einfluss auf unser Leben in der Schweiz haben. Sei es, weil Antibiotika nicht mehr wirken oder weil Abgase in der Luft zum Klimawandel beitragen.
Was die Konzernverantwortungsinitiative diesen globalisierten Gefahren entgegenhält? Solidarität. Mit einem kleinen Ja auf dem Stimmzettel am 29. November kann ich mich zu dieser Solidarität bekennen – und sie stärken. Es wäre ein Ergebnis, das uns schliesslich allen zugutekäme.
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