Der Vormarsch der Neuen Rechten in den vergangenen Jahren ging einher mit einer steten Verschiebung roter Linien der „Political Correctness“. Während Donald Trumps Wahlkampf schien es etwa zumindest für einen Teil der Öffentlichkeit noch gewiss, dass ihn die „Grab-them-by-the-pussy“-Episode politisch erledigen würde. Heute ist die einzig verbliebene Gewissheit die, dass nicht mehr abzusehen ist, wo die Grenzen des politisch Möglichen liegen.
Es ist eine traurige Einsicht der jüngsten Zeit, dass sich mit dem freimütigen Verletzen anerkannter Moralvorstellungen auch in westlichen Demokratien wieder Politik machen lässt. Das wachsende Selbstbewusstsein und die zunehmend siegesgewisse Rhetorik der Neuen Rechten speisen sich nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis. Demgegenüber steht die internationale Krise der Sozialdemokratie und eine kleinmütige Linke ohne pointierte Gegenrede. Wie kommt es, dass die Neue Rechte der politischen Strahlkraft ihrer Ideologie so sicher, die Linke so unsicher geworden ist? In der Moralkritik Friedrich Nietzsches findet sich eine mögliche Antwort auf diese Frage. Sie ist auch deshalb von Interesse, weil sie zeigt, wie die Linke ihrer ideologischen Krise entkommen könnte.
Nietzsches Herren- und Sklavenmoral
Nach Nietzsche gibt es zwei Grundtypen von Wertesystemen: die „Herren“- und die „Sklavenmoral“. Letztere ist die traditionelle christlich-jüdische Moral. Sie allein gilt auch im philosophisch engeren Sinne als „Moral“. Ihre Grundpfeiler sind: Gleichheit, Mitgefühl und Freiheit. Die Herrenmoral dagegen bejaht die Ungleichheit zwischen Menschen als Bedingung für das „Gute Leben“ der Privilegierten, welches auf der Ausbeutung und der Unfreiheit der „Sklaven“, der Unterdrückten beruht. Die Vertreter der Herrenmoral begegnen dem Leid der Sklaven mit einem „Pathos der Distanz“. Dies geht mit der Affirmation des Antiegalitarismus einher. In ihrer Reinform ist die Herrenmoral daher Nazismus / Faschismus. Dagegen bilden die Grundpfeiler der Sklavenmoral das ursprünglich linke Ideal und den Kern der Sozialdemokratie. Nietzsche kritisiert dieses linke Ideal als „verlogen“: Ungleichheit habe es als Bedingung für das Gute Leben der Privilegierten immer gegeben und werde es immer geben. Gleichheit sei ein Ideal, welches sich höchstens im Kreise von Privilegierten (Herren) realisiere. Sein Credo: „Gleichheit: ja, aber nur unter Herrenmenschen“.
Die Sklavenmoral sei nicht nur heuchlerisch und selbstverlogen, sondern auch lebensverneinend – und eine Quelle von Leid. Das Leben ist nach Nietzsche der „Wille zur Macht“. Individuen, welche die Sklavenmoral internalisiert haben, leben daher in einem beständigen Widerspruch zwischen ihren ureigensten Lebensimpulsen und den selbstauferlegten Idealen, die sie doch nur permanent unterbieten können. Als Folge davon kranken sie an Selbsthass und einem „schlechten Gewissen“. Demgegenüber steht die Herrenmoral mit ihrer widerspruchsfreien und selbstzufriedenen Lebensbejahung. Sie allein, so Nietzsche, ermöglicht ein gutes und leidfreies Leben, nämlich für den Herrenmenschen, der die Herrenmoral, samt ihrem „Pathos der Distanz“, verinnerlicht hat.
Das Gute Leben und die Rolle des Neoliberalismus
Nietzsches Kritik am linken Ideal der Gleichheit, der Freiheit und des Mitgefühls ist also eng mit der Frage nach der Möglichkeit und den Bedingungen des Guten Lebens verknüpft. Tatsächlich hat das linke Denken seit Kant ein schwieriges Verhältnis zu dieser Thematik. Kant hatte als Erster dem Problem der Glückseligkeit den philosophisch höchsten Rang abgesprochen. Er sah allein Gerechtigkeitsfragen als moralische Fragen im engeren Sinn an. Beim Guten Leben, so Kant, stösst der Universalismus an seine Grenzen. Es sei unmöglich, allgemeingültig zu definieren, worin Glückseligkeit bestehe. Kant glaubte, dass es universelle moralische Prinzipien gebe, die eine gerechte Gesellschaft charakterisieren; ihre Mitglieder seien jedoch weitgehend frei darin, ihre eigene Vorstellung des Guten Lebens zu verfolgen.
Seit dieser kantischen Unterscheidungen tendieren universalistische Diskurse dazu, die Frage nach dem Guten Leben und seinen Bedingungen unberührt zu lassen. Mit Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse muss man sagen: Diese Einengung des Blicks forderte einen hohen Preis. Entstanden ist ein empörender Widerspruch. Auf der einen Seite würde sich wohl eine überwältigende Mehrheit der Mitglieder westlicher Demokratien zu linken Gerechtigkeitsidealen bekennen; anderseits sind diese Ideale aber nicht mit den materiellen Voraussetzungen des Guten Lebens derselben Bevölkerungsgruppe vereinbar. Zur westlichen Version des Guten Lebens gehört nämlich ganz allgemein der Konsum und der Gebrauch von Gütern, deren Produktionsbedingungen das linke Ideal massiv verletzen. Beispiel dafür ist das Smartphone. Für wen ist es nicht Teil des Guten Lebens, eines zu besitzen? Aber ein Smartphone enthält Coltan, das von Kindern in einsturzgefährdeten Minen geschürft wird. Der damit erzielte Gewinn fliesst in die Finanzierung des Bürgerkriegs im Kongo. Zusammengesetzt wird das Gerät von chinesischen WanderarbeiterInnen, deren Arbeitsbedingungen so schlecht sind, dass sich viele von ihnen das Leben nehmen.
Im Grunde sieht sich das linke Ideal heute in verheerender Weise Nietzsches Generaleinwand der Selbstverlogenheit ausgesetzt: „Ihr predigt die Gleichheit, doch euer Gutes Leben ist ein Privileg, das auf Ungleichheit fusst. Und jeder weiss es. Eure Gleichheit ist Gleichheit unter Herrenmenschen.“
Der Grund, weshalb die Mitglieder westlicher Demokratien in diese moralisch fragwürdigen Konsumverstrickungen geraten sind, liegt freilich zu einem grossen Teil im Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte. Die gegenwärtige neoliberale Version vom Guten Leben ist unvereinbar mit universellen Gerechtigkeitsprinzipien.
Wertekonjunktur
Das linke Ideal wird von allen verraten, die am neoliberalen Guten Leben hängen und stillschweigend die Ungerechtigkeit dulden, auf der es fusst. Bedauerlicherweise wird im Westen genau dieser Verrat von grossen Teilen der parlamentarischen Linken standardmässig begangen. Damit verliert sie für eine potentiell linksgerichtete Wählerschaft an Attraktivität. Eigentlich liegt auf der Hand, welche Ziele zwingend auf die Agenda einer Politik gehören, die sich ernsthaft zu den linken Grundwerten bekennt: Die Etablierung des universellen Egalitarismus mithilfe von Gesetzen, deren Verbindlichkeit die nationalen Grenzen der Konsumstaaten transzendiert, zur gerechten Gestaltung von globalen Produktions- und Handelsprozessen.
Offensichtlich verläuft die Frontlinie des neoliberalen Klassenkampfs zwischen Konsument und Sweatshoparbeiter heute transnational. Jede linke Politik, die diese Tatsache verkennt und dem Neoliberalismus in die Arme fällt, ohne gleichzeitig seine faire Gestaltung im Sinne des linken Ideals zu verfolgen, läuft der nietzscheanischen Kritik ins Messer. Hillary Clinton war geradezu die Personifizierung dieser linken Doppelbödigkeit – und Donald Trump traf mit seiner Bezeichnung „crooked Hillary“ ins Schwarze.
In einer viel besseren Position befinden sich dagegen die reaktionären ZynikerInnen der Neuen Rechten mit ihrem Hang zur Herrenmoral, die ihren Anspruch auf Bewahrung von Privilegien unverhohlen erheben, weil sie auch die Bedingungen dieser Privilegien akzeptieren. Sie haben die „Wahrhaftigkeit“ auf ihrer Seite. Dass sie dabei das postfaktische Zeitalter (#FakeNews, #AlternativeFacts) proklamieren, ist kein Widerspruch: Die Idee objektiver Wahrheit entspringt ohnehin dem linken Universalismus. Die Neue Rechte glaubt, ganz im Sinne Nietzsches, dass Wahrheitsansprüche letztlich Machtansprüche sind und die Lüge ein probates Machtinstrument ist. Ihre „Wahrhaftigkeit“ ist die Unverhohlenheit, mit der sie ihre Machtansprüche gegenüber den „Anderen“ (dem jeweiligen Feindbild des rechten Denkens) geltend machen – auch, und gerade wenn sie dabei lügen.
Die Widersprüche erkennen
Allerdings braucht die Linke keineswegs vor Nietzsches entlarvendem Blick einzuknicken. Bewusstsein für die eigene Doppelbödigkeit muss nicht in politischer Lethargie münden. Historisch betrachtet gab es immer Momente, wo die EgalitaristInnen anerkennen mussten, dass ihre institutionalisierte „Gleichheit“ mit einer aus dem Bewusstsein verdrängten Demarkationslinie von repressivem und ausschliessendem Charakter einherging. In solchen Situationen gelang es dem linken Ideal schon mehrfach, sich zu behaupten und im Gegenzug seine politische Wirkkraft zu erweitern: Als etwa der empörende Widerspruch des linken Ideals zu Sklaverei, Apartheid oder Frauenrechten ins öffentliche Bewusstsein drang, wurden in vielen Ländern die entsprechenden politischen Revisionen eingeleitet.
In dieser Traditionslinie steht freilich auch die zu Unrecht kritisierte linke Identitätspolitik mit ihrem Ziel, der rechtlichen und sozialen Gleichstellung von Gruppen mit Minderheitsstatus (Schwule, Frauen, Migranten usw.). Problematisch ist nicht die Identitätspolitik an sich – im Gegenteil. Problematisch ist vielmehr der Umstand, dass auch sie sich gänzlich auf nationaler Ebene abspielt und damit der transnationalen Dimension des gegenwärtigen neoliberalen Klassenkampfs nicht habhaft wird.
Diese Dimension gilt es endlich ins Blickfeld zu rücken. Dazu bedarf es keiner Fundamentalkritik am Neoliberalismus, sondern einer ideologischen Fundamentalbesinnung in der linken Politik. Zu einfach ist es, die Verantwortung für die gegenwärtigen Ungerechtigkeiten dem „System“ zuzuschreiben – zum Liberalismus, zum Internet und zur Globalisierung gibt es momentan keine reale Alternative –, vielmehr geht es darum, dessen faire politische Gestaltung wieder in die Hände zu nehmen. Ein konkretes Beispiel für einen solchen Vorstoss stellt etwa die schweizerische Konzernverantwortungsinitiative dar.
Das brachliegende Potenzial nutzen
Die Linke sollte mit gutem Recht auf das elektorale Mobilisierungspotenzial ihres Ideals vertrauen. Michael Moore hatte den Wahlsieg Trumps im Juli 2016 vorhergesagt. Zum selben Zeitpunkt sagte er jedoch auch, dass Hillary Clinton erdrutschartig siegen würde, könnten alle AmerikanerInnen vom Sofa aus abstimmen und müssten nicht den Gang zur Urne auf sich nehmen. Selbst wenn dies vielleicht etwas gar spekulativ ist: Es ist unbestritten, dass das grösste brachliegende elektorale Potenzial der Linken in der Mobilisierung liegt.
In weiten Teilen der Gesellschaft ist eine Ohnmacht in Bezug auf die oben beschriebenen neoliberalen Verhältnisse verbreitet. Im Gespräch mit Mitmenschen zeigt sich oft, dass viele sich ihrer unheilvollen Verstrickungen als KonsumentInnen bewusst sind und diese bedauern oder zumindest kritisch betrachten. Zahlreiche Bottom-up-Bestrebungen resultieren daraus – etwa die Wendung vieler KonsumentInnen hin zu „fairen“ Labels. Doch jedeR, der sich in diese Richtung bemüht, macht die Erfahrung, dass es im Grunde unmöglich ist, als KonsumentIn konsequent „fair“ zu sein. Das führt zu einem Gefühl der Ohnmacht, in vielen Fällen auch zur Resignation. Häufig setzt man sich zudem der Kritik anderer KonsumentInnen aus, die einen auf die eigene Inkonsequenz aufmerksam machen. Also wieder Nietzsche: Selbstwiderspruch, Selbsttäuschung, Heuchelei.
Ein riesiges abschöpfbares Potenzial für die Linke besteht darin, diese in Ohnmacht und Resignation verlaufenden Impulse aus ihrer Sackgasse zu leiten und ihnen den Weg der politischen Ermächtigung zu ebnen. Eine vor vermeintlichen neoliberalen Sachzwängen resignierende Politik verspielt hingegen genau dieses Potenzial.
Nietzsches entlarvendem Blick und der Zerstörung der politischen Kultur durch die Neue Rechte sollte die Linke mit einer dezidierten Besinnung auf ihre eigenen Grundwerte begegnen. Seit jeher verpflichten diese zur kritischen Betrachtung jeweils bestehender Verhältnisse, um daraus die Projektion einer gerechteren Gesellschaft abzuleiten. Doch nur wenn in diese Projektion die allgemeine Bewusstseinslage und die geteilten Intuitionen der Gegenwart Einlass finden, vermag das linke Ideal, seine volle Strahlkraft zu entfalten.
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