Der Jesus, den Milo Rau für seinen Film gecastet hat, heisst Yvan Sagnet. Geboren ist er in Kamerun, später kam er nach Italien, um Ingenieur zu werden. Um sein Traumstudium zu finanzieren, reiste er nach Apulien, wo er als Tomatenpflücker Geld verdienen wollte. Dort erlebte er hautnah, was es heisst, ein Schwarzer Tagelöhner zu sein, wie erbärmlich das Leben der Machtlosen ist und wie blind die staatlichen Institutionen sind gegenüber Unrecht und kriminellen Strukturen. Einen Darsteller mit genau diesen Erfahrungen suchte Rau. Bereits vor dem Film wurde Sagnet zur Ikone, indem er einen Streik ausrief, woraufhin sich sogar das italienische Parlament mit dem Thema auseinandersetzte. Inzwischen ist er Berufsaktivist und hat zwei Bücher geschrieben.
Apostel in Baracken
In Raus Film verkörpert Sagnet Jesus, der mit seinem Evangelium den Menschen Hoffnung gibt. Und Sagnets Apostel und jene, die ihm folgen? Sie sind Migrant:innen, meist aus Afrika. Sie durchkreuzten die Wüste und überquerten das Mittelmeer, um ihr Gelobtes Land Europa zu erreichen. Am Traumziel ihrer Reise hausen sie in baufälligen Barackensiedlungen, in ländlichen Ruinen, ohne fliessendes Wasser, Strom oder andere grundlegende Infrastruktur. In Europa, aber auch in ihren Heimatländern würde man diese Verhältnisse als unmenschlich bezeichnen. Es sind dennoch Menschen, die in diesen Ghettos leben und unter sklavereiähnlichen Bedingungen arbeiten.
An den Rand des Existenzminimums getrieben und in der Hoffnung, ihren Aufenthalt in Europa durch Arbeit zu legalisieren, nehmen Menschen wie Sagnets Apostel jeden Job an, egal wie schlecht bezahlt, dreckig und körperlich anstrengend er ist. Die meisten pflücken Tomaten, Orangen und alles, was gerade Saison hat. Sie werden im Akkordlohn bezahlt: pro Kiste. Nach 16 Stunden Arbeit haben die Arbeiter:innen etwa 20 Euro in der Hand. Dies liegt jenseits sämtlicher Standards für ein annähernd faires Grundeinkommen.
Es ist nicht ihr freier Wille, der sie auf die Tomatenplantagen treibt, um dort für einen Hungerlohn zu arbeiten. Im Gegenteil, ein ganzes System steckt dahinter. Caporalato heisst dieses System, das im von Arbeitslosigkeit geprägten Süditalien das Rückgrat des ländlichen Arbeitsmarktes darstellt. Caporali, die Job-Dealer:innen, vermitteln Arbeitskräfte an Landwirte: je günstiger, desto besser. Für die Vermittlung kassiert die Dealer:in einen Teil des Arbeiter:innenlohns. Die Fahrten zu den Feldern, Wasser, sogar das Handy-Aufladen – alles wird in Rechnung gestellt.
Die Mafia wäre nicht sie selbst, würde sie nicht an der Flüchtlingskrise verdienen. Die italienische Regierung lagert die Aufnahmedienste für Migrant:innen an Dritte aus. Die Mafia ist bereit, einzuspringen und die staatlichen Subventionen bzw. die internationale Hilfe abzugreifen. Nebenbei stellt sie günstige Arbeitskräfte für den Markt bereit. Es sind Menschen, die in ihrer Isolation und ihrem Elend kaum eine andere Möglichkeit haben, als sich in diese Abhängigkeit zu stürzen, in einer Gesellschaft, die ihnen keine andere Lebensgrundlage bietet. Homo homini lupus – der Mensch ist des Menschen Wolf.
Passion als Mix der Realitäten
Das Elend ist der malerischen Stadt Matera, wo Milo Raus Film gedreht wurde, nicht ganz unbekannt. Wer sich an das Buch Christus kam nur bis Eboli des italienischen Schriftstellers Carlo Levi und den gleichnamigen darauf basierenden Film erinnert, weiss Bescheid. Levi beschreibt seine Erfahrungen während der 1930er-Jahre, die er in der Basilikata, einer Region, der auch Matera angehört, gemacht hatte. Bittere Armut, Malaria, die ihren dramatischen Tribut fordert, fehlende Gesundheitsversorgung, keine Schulen, keine Hoffnung. Elend in seiner reinsten Form. Matera teilte dieses Schicksal, bis die italienische Regierung der Nachkriegszeit begann, lebensrettende öffentliche Investitionen zu tätigen.
Paradoxerweise wurde dieser von Gott und Staat verlassene Teil der italienischen Halbinsel zu einem Magnet für Filmemacher:innen, die dort pittoreske Architektur, Karstlandschaften und Höhlensiedlungen, „Sassi“ genannt, für sich entdeckten. Mehrere Dutzend Filme wurden dort gedreht, darunter einige über Jesus. Matera diente als Jerusalem-Kulisse für Pier Paolo Pasolinis Matthäusevangelium und Mel Gibsons Passion Christi.
Milo Rau tritt in die Fussstapfen dieser Regisseur:innen, dreht aber einen Film, der komplizierter ist. Er vermischt Realitäten und Erzählebenen: reportageähnliche Aufnahmen aus einer Tomatenplantage, Szenen des Strassenprotests – sowohl real als auch für den Film produziert –, die nachgespielte Passionsgeschichte und die Vorbereitungen dazu, Gespräche mit Migrant:innen und Einheimischen. Dieser Realitäten-Mix verleiht dem Film seinen vielstimmigen Charakter.
Das Neue Evangelium ist aber auch intertextuell. Rau dreht nicht nur am selben Ort, sondern schafft es, einige Darsteller:innen aus älteren Jesus-Verfilmungen an sein Set zu holen. Gibsons Maria erscheint wieder in derselben Rolle, und Pasolinis Jesus wird zu Johannes dem Täufer. Dies schafft eine gewisse Linearität, betont aber auch die Theatralik der Jesus-Szenen. Es geht nicht um ihn als eine historische oder eben nicht historische Figur. Es geht um eine Nachstellung seiner Geschichte.
Die nachgespielten Szenen aus dem Evangelium mögen etwas steif wirken. Das ist wohl das Schicksal aller Jesus-Filme. Der Hoffnungsschimmer in den Augen der Anhänger:innen von Jesus bzw. Sagnet ist aber echt in diesem „Evangelium“ und eine der Stärken des Films. Unabhängig davon, wie gut Sagnet als Schauspieler ist, für viele gilt er als Hoffnungsträger und als Versprechen auf eine bessere Zukunft. In seiner filmischen Inszenierung knüpft Milo Raus Werk an etwas an, das tatsächlich existiert: das Verlangen nach einem besseren Leben und danach, mit Würde behandelt zu werden, egal wer man ist und wo man in der Gesellschaft steht.
Abendmahl mit Plastikteller
Visuell hat Raus Film auch einiges zu bieten. Das Letzte Abendmahl mit Einweggeschirr glänzt mit seiner Einfachheit: Noch nie war der Plastikteller ein so starkes visuelles Mittel. Die Szenen aus dem Supermarkt, wo Tomaten und Sugo-Gläser im Protest auf den Boden geschmissen werden, sprechen Bände. In Teilen des deutschsprachigen Raums wird Tomate auch Paradeiser genannt, früher auch Paradiesapfel – willkommen auf der anderen Bedeutungsebene!
Die Passionsgeschichte ist brutal und blutig, und auch bei Milo Rau gibt es genug Gewalt. Die unheimlichsten Szenen werden von Laien dargestellt. Die improvisierte Folter von Jesus, von einem jungen Italiener gespielt, ist verstörend. Und wenn die wütende Meute mit den Rufen „bringt den Schwarzen um!“ Pontius Pilatus dazu anzustiften vermag, Jesus zum Tod zu verurteilen, erstarrt man vor der Leinwand mit der Frage: Ist das noch inszeniert oder schon echt? Woher kommt diese Aggression? Indirekt stellt der Film uns selbst diese Frage: Bist Du sicher, dass Du gewaltfrei und nicht rassistisch bist?
Rau vermischt Deutungsebenen: Er bringt professionelle Schauspieler:innen und Laiendarsteller:innen (einige davon sind semi-professionell, denn in Matera sind Statisten:innen sehr gefragt) zusammen. Migrant:innen, Aktivist:innen, Tourist:innen, Beamt:innen und sogar die Polizei spielen Seite an Seite. Menschen unterschiedlicher Herkunft, Geschlechter und Konfessionen tauchen im Film auf. Mit dieser ungewöhnlichen Vielfalt sprengt Milo Rau Grenzen. Das Neue Evangelium hört auf, „nur“ ein Film zu sein und wird zu einem sozialen Experiment.
Das Publikum wird ebenfalls Teil dieses Experiments. Die langatmigen Szenen des Castings für Nebenrollen können in Milo Raus Film irritieren: In einer Kirche sitzt die Filmcrew und interviewt Menschen, die, meist geschniegelt und gestriegelt, im Film auftreten wollen. Was treibt sie an? Was wäre ihre Lieblingsrolle? Es folgen Gespräche, Probeszenen, Kostümanpassungen. Auch Jesus hat seine Probe am Kreuz, an dem er sein Leben beenden wird. Das Publikum könnte fragen: Ist das wirklich notwendig? Ja. Wahrscheinlich. Der Film stellt eine implizite Frage: Und welche Rolle möchtest Du spielen?
Angeklagt: Die kapitalistische Sklaverei
Bei all dem ist Milo Raus Evangelium weder ein Film über Tomatensugo noch über Italien, sondern über das politische und wirtschaftliche System, in dem wir leben. Jene Tomaten, welche die Protagonist:innen unter sengender Hitze so mühselig pflücken, landen nicht nur auf der Pizza Napoletana oder in der Bolognese. Sie werden weltweit in Supermärkten verkauft und zwar an Menschen, die Tomaten mit dem letzten Urlaub in Bella Italia und nicht mit der kapitalistischen Sklaverei verbinden. Wer von uns konsumiert keinen Tomatensugo? Ja, wir alle profitieren von diesem System.
Letztlich ist Das Neue Evangelium auch ein politisches Experiment. Der Protest, den Milo Rau ungeschönt zeigt, bringt handfeste Erfolge (unbedingt den Film bis zum Abspann anschauen!). Der Film ist ein Beispiel dafür, wie man Kunst für soziale oder politische Zwecke nutzen kann. Gleichzeitig bewegt er mehr als das Publikum im Kino oder am Bildschirm. Doch weil die neoliberale Wirtschaft auf festen Füssen steht, wird es noch viele solche Filme brauchen, um sie zu erschüttern. Das ist eine gute und schlechte Nachricht zugleich.
Dieser Artikel wurde erstmals publiziert bei Saiten.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 10 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 780 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 350 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 170 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?